Die schöne Sylvia - Kriminalroman
Von Axel Rudolph
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Die schöne Sylvia - Kriminalroman - Axel Rudolph
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1.
Gerhard Lennebergs breite Hand fährt verhalten liebkosend und leicht über das glatt gescheitelte Frauenhaar. Valerie Gauda aber starrt noch immer selbstvergessen auf die Marmordoppelbüste, vor der sie stehen. Ist das wirklich wahr, daß sie dieses Bildwerk mit ihren Händen geschaffen hat? Sind diese beiden wundervollen Mädchenköpfe dort wirklich und wahrhaftig ihr Werk, ein in Stein gemeißeltes Stück ihrer Seele ?
„Ich kann es noch nicht fassen, Gerhard. Professor Nefgen war heute vormittag hier. Weißt du, was er sagte? Es sei …"
„Ein Meisterwerk! Gerhard Lenneberg nickt. „Das sagte er auch zu mir. Ich traf ihn vorhin.
„Auch zu dir hat er das gesagt!" Valerie Gaudas Augen glänzen erregt. Sie freut sich über dieses Wort des berühmten Bildhauers, das so ehrenvoll ist, daß sie selbst es nicht laut auszusprechen wagt. Lenneberg findet, daß sie sehr überarbeitet aussieht, und nimmt sanft ihre Hand.
„Er sagte noch mehr."
„Was? Die Künstlerin ist begierig, das Urteil eines Berufenen zu hören. „Was hat er noch gesagt?
„Er zitierte Goethe: Ihr werdet nie von Herz zu Herzen sprechen, wenn es euch nicht von Herzen geht!"
Die Tür des Ateliers knarrt. Frau Valerie wendet langsam, den Blick von dem Marmorbild zur Tür. Aber sie sieht das gleiche Bild, nur daß die steinernen Züge Farbe und Bewegung bekommen haben und zwei lebendige Mädchenköpfe sind, die ihr entgegenlachen.
„Sie sollten Mutter endlich dazu überreden, sich hinzulegen, Herr Lenneberg! Sie treibt ja Raubbau an ihrer Gesundheit!" — Das ist Sylvia Gauda, die ältere, einundzwanzig Jahre alt, hellblond, schön und strahlend wie ein Frühlingstag. Helen, die Zwanzigjährige, ein wenig eckig, lang aufgeschossen und schmal, ist vor der Marmorbüste stehengeblieben. Auf ihrem feinen, nachdenklichen Gesicht liegt ein stiller Ernst.
„Ich glaube, es ist beste Arbeit, Mutter!"
„Ja, geradezu unglaublich, wie sie das gemacht hat! schwatzt Sylvia fröhlich. „Ohne Sitzung, Herr Lenneberg, denken Sie nur, ohne eine einzige Sitzung hat Mutter das geschaffen! Diese gottbegnadete Künstlerin läßt sich einfach eines Tages einen Marmorblock kommen, schließt sich ein und meißelt munter drauf los! Wenn wir anklopfen, dreht sie vor unserer Nase einfach den Schlüssel herum. Und dann — gestern abend — wankt sie auf einmal ins Eßzimmer und sagt nur: ‚Ich bin fertig!‘
„Du mußt jetzt ruhen, Valerie. Lenneberg schiebt seine Hand unter den Arm der am Fenstersims lehnenden Frau und führt sie aus dem Atelier. Im Hinausgehen wendet Valerie Gauda sich um und blickt noch einmal nach der Marmorbüste. Ihre Lippen formen lautlos und ungläubig ein Wort: „Meisterwerk?
„Mutter hat sich diesmal wirklich selbst übertroffen. Sylvia tänzelt um die Büste herum und betrachtet sie kritisch von allen Seiten. „Geschmeichelt hat sie uns zwar nicht gerade dargestellt. Kann man nicht sagen. Wenigstens mich nicht! Was meinst du, Helen? Seh’ ich wirklich so aus? So, mit dem verschwommenen Zug um den Mund? Und du mit den harten Augen! Also besonders schön hat Mutter uns nicht verewigt. Aber eine großartige Sache bleibt’s deshalb doch.
Helen hat stille, große Augen. „Hast du gesehen, Sylvia, wie schön Mutter war, als sie dort am Fenster stand und ihr Werk betrachtete?"
„Mutter ist immer schön. Sylvia zieht einen Spiegel aus ihrem Täschchen und stellt mit Befriedigung fest, daß das Kunstwerk der Natur an Lieblichkeit und Reiz das Marmorbild noch übertrifft. „Wenn Mutter nachher nach mir fragt, Kindchen, so sag’ ihr, daß ich mit Herbert Rohde verabredet bin.
„Du kommst wieder nicht zum Abendbrot?"
„Kein Gedanke! Herbert erwartet mich Punkt neun im Kaiserhof, und ich muß mich doch erst umziehen."
„Herbert …?"
„Wer denn sonst? Du nimmst mir das doch nicht übel, Kindchen? Beim Tennisspiel gehört er ja dafür dir."
Jetzt ist Abwehr in Helens Augen. „Du wählst deine Worte sonderbar, Sylvia."
Ihre Schwester lacht obenhin. „Im Ernst, mein Kindchen: Wenn es dir unangenehm ist, gebe ich die Freundschaft mit ihm natürlich auf. Du brauchst mir’s nur zu sagen."
„Wie kommst du darauf?"
„Na, na! Nur nicht gleich so strenge Augen, liebes Kind! Sei ehrlich! Ein bißchen, ein ganz kleines bißchen hast du doch für Herbert Rohde übrig gehabt?"
Helens Gesicht bleibt kalt. Aber ein Mißklang schwingt leise in der Stimme. „Du machst merkwürdige Witze, Sylvia. Deine Freundschaft mit Herbert Rohde berührt oder beunruhigt mich in keiner Weise."
„Dann um so besser. Au revoir, mein Lieb!"
„Sylvia!"
Der vorwurfsvolle Ton läßt Sylvia stehenbleiben und sich umwenden. „Was ist denn? Ach ja, du wolltest etwas mit mir besprechen! Hat das nicht Zeit bis morgen? Du hörst doch, daß ich um neun …"
„Das hat heute vormittag ein Bote für dich abgegeben. Helen hat rasch einen offenen Briefumschlag hervorgezogen und reicht ihn der Schwester, Sylvias Augen blinzeln leicht, als sie den Aufdruck liest: „Bendler & Croy, Damenmoden
. Etwas hastig greift sie nach dem Brief.
„Wohl wieder eine Offerte."
„Sylvia! — Willst du nicht mit mir darüber sprechen?"
Sylvias Augen gehen von dem Briefumschlag in ihrer Hand zu der Schwester. Ihr Gesicht färbt sich langsam rot. „Weißt du etwa, was da drin steht?"
„Der Brief war offen, wie du siehst."
„Eine unglaubliche Art von Bendler & Croy! Aber trotzdem ist es nicht sehr taktvoll von dir, einen an mich gerichteten Brief zu lesen."
„Komm’, setz’ dich mal hierher! Helen legt den Arm schwesterlich um Sylvias Schultern und drückt sie in den einzigen Lehnsessel des Ateliers. „Laß uns lieber vernünftig beraten, statt uns gegenseitig Vorwürfe zu machen.
Sylvia mault noch ein wenig. „Meinetwegen, Helen. Aber nicht jetzt. Ich muß Punkt neun im Kaiserhof sein!"
„Herbert Rohde wird warten, auch wenn du etwas später kommst, gibt Helen ruhig zurück. „In dem Brief wirst du aufgefordert, endlich deine Rechnung bei Bendler & Croy zu begleichen. Zwölfhundert Mark! Sylvia, woher willst du soviel Geld nehmen?
„Ach, Bendler & Croy werden mir schon noch Zeit lassen!"
„Kaum. Die Firma schreibt, daß du sie immer vertröstet und trotz deiner Versicherungen seit einem halben Jahr noch keinen Pfennig abgezahlt hast, und daß sie, wenn du nicht binnen acht Tagen die Rechnung begleichst, andere Schritte — und so weiter! Zwölfhundert Mark für Kleider! Du verdienst in der Bank ganze 150 Mark im Monat, Sylvia! Was in aller Welt hast du dir gedacht, als du diese schrecklichen Schulden machtest?"
„Es ist so aufgelaufen, sagt Sylvia kleinlaut. „Ich wußte gar nicht, daß es so viel war. Vielleicht wird Mutter …
Helen unterbricht den Satz durch eine entschiedene Handbewegung. „Mutter darf kein Wort davon erfahren. Sie sorgt sich so schon genug. Du weißt doch ganz genau, wie es bei uns steht. Mutter hat kein Vermögen. Was ihre Kunst einbringt, und mehr als das, verschlingt unser Haushalt, Soll sich etwa Mutter am Munde absparen, was du leichtsinniges Huhn verschwendet hast?"
„Ja, was soll dann …? Mit Vorwürfen schaffst du die Sache auch nicht aus der Welt, Helen."
Helen hat eine kleine, tiefe Falte auf der Stirn. „Die Rechnung muß bezahlt werden, sagt sie schließlich. „Du mußt unter allen Umständen bis auf weiteres von deinem Gehalt monatlich fünfzig Mark dafür hergeben. Ich werde jeden Monat hundert beisteuern.
„Du, Helen?"
„Ja, aber nur, damit Mutter nichts erfährt, sagt Helen rasch, als wollte sie allen Dank von vornherein abwehren. „Es fällt mir schwer genug, aber es muß sein.
Sylvia sitzt mit gesenktem Kopf und beißt sich auf die Lippen. Helen verdient beim Rundfunk knapp dreihundert Mark im Monat. Davon gibt sie hundertfünfzig zum gemeinsamen Haushalt. Wenn sie jetzt noch hundert Mark zur Bezahlung der Schuld beisteuern will, so bedeutet das für Helen Verzicht auf alle kleinen Vergnügungen und Annehmlichkeiten. Auch den Regenmantel, von dem sie seit langem schwärmt, wird sie sich nicht kaufen können. Sylvia hat im Grunde ein weiches, viel zu weiches Herz. Sie muß sich bezwingen, um nicht vor Rührung nasse Augen zu bekommen. Aber andererseits ist da auch ein Gefühl der Abwehr in ihr. Helen, obwohl zwei Jahre jünger, hat etwas Ernstes, Schulmeisterliches an sich. Wenn sie jetzt hilft, werden die Ermahnungen und Vorwürfe kein Ende nehmen. Man steht sozusagen unter Kuratel und darf nicht mal dagegen aufmucken.
„ Also ich werde morgen zu Bendler & Croy gehen und mit den Leuten sprechen, sagte Helens ruhige Stimme. „Hoffentlich sind sie mit den Ratenzahlungen, die ich vorschlagen werde, einverstanden. Die erste Rate von hundertfünfzig Mark werde ich gleich mitnehmen. Du gibst mir dann am Letzten, wenn du dein Gehalt bekommst, fünfzig Mark wieder.
Sylvia hebt mit einem Ruck den Kopf. „Warte noch einen Tag damit, Helen! Ich … will versuchen, die Sache selbst zu deichseln."
„Unsinn, Sylvia. Woher willst du das Geld nehmen?"
„Ich werde vielleicht … Ein grübelnder Zug steht in Sylvias Gesicht. „Überlaß das mir, Helen! Ich … habe eine Aussicht … jedenfalls eine Hoffnung. Vielleicht geht’s nicht. Dann komm’ ich zu dir. Aber einen Tag warte bitte noch, ehe du zu Bendler & Croy gehst!
Helen schließt einen Atemzug lang die Augen unld hat ein kleines wehes Gefühl im Herzen. Sie meint natürlich Herbert Rohde. Er ist der Sohn reicher Eltern. Die „Hoffnung", von der Sylvia spricht …, so weit ist es schon zwischen den beiden. Die Verlobung steht also bevor.
„Nun gut. Helen schluckt tapfer die Tränen, die in ihr aufsteigen wollen, herunter und sieht die schöne Schwester mild an. „Wenn du meinst, dann warten wir noch einen Tag. Aber nicht länger, Sylvia. Ich will nicht, daß Mutter eines Tages so ein Brief in die Hände fällt.
„Danke, Helen. Ich sag’ dir morgen abend Bescheid." Sylvias Gesicht ist ernster als gewöhnlich. Es steht sogar etwas Gequältes darin, das die schönen Züge ein wenig verzerrt. Sorgenvoll blickt Helen der Schwester nach, und wieder will das wehe Empfinden in ihr aufsteigen. Arme Sylvia! So weit hat dich dein Leichtsinn und dein Luxusbedürfnis also glücklich gebracht! Und Herbert Rohde? Helen merkt plötzlich, daß ihr schmerzhaftes Gefühl viel mehr dem jungen Freund gilt als der Schwester. Armer Herbert, du sollst das Mädchen, das du liebst, durch Schuldenbezahlen an dich fesseln! Es hätte alles anders sein können.
*
Drüben im Erkerzimmer sitzen Frau Valerie und Gerhard Lenneberg sich gegenüber. Sich hinzulegen, hat Valerie Gauda entschieden abgelehnt, aber sie hat lächelnd geduldet, daß Lenneberg, ihr eine Decke um die Knie gelegt und dem Mädchen Auftrag gegeben hat, etwas Tee mit Portwein zu bringen. Tee mit Portwein ist Gerhard Lennebergs Allheilmittel.
„Ich mußte arbeiten, sagt Valerie Gauda leise. „Wenn ich nicht gearbeitet hätte, wäre ich verrückt geworden. Das waren für mich gute und schöne Tage im Atelier, kein Gedanke an etwas anderes, keine Sorgen, nichts, gar nichts als das Bild, das sich unter meinen Händen formte.
„Ja. Die Hand des Mannes streicht behutsam ihre langen, überschlanken Finger. „Aber nun mußt du dich ordentlich ausruhen und auch dabei an nichts anderes denken.
Kopfschütteln. „Nein, jetzt, wo die Arbeit beendet ist, kommen alle Gedanken wieder. Ich muß sogar einiges mit dir besprechen. Deine Schwester war vorige Woche bei mir."
„Margrete? Davon weiß ich ja gar nichts!"
„Das war wohl auch so die Absicht. Aber wir haben keine Geheimnisse voreinander, gelt? Wir können ruhig darüber sprechen."
Lenneberg runzelt ein wenig die Stirn. „War sie unfreundlich zu dir?"
„Freundlich, Gerhard, etwas zu freundlich. Volle drei Stunden ist sie bei mir geblieben."
Die Falten auf Lennebergs Stirn bleiben. Margrete ist eine brave vernünftige Frau. Sehr vernünftig sogar. In den zehn Jahren, die sie nun schon seinen Haushalt führt, hat es nie eine ernste Meinungsverschiedenheit zwischen den Geschwistern Lenneberg gegeben, außer — — —
„Margrete ist gegen meine Verbindung mit dir, Valerie, sagt er, ruhig in ihre forschenden Augen schauend. „Du darfst ihr das nicht übelnehmen. Zehn Jahre hat sie meinen Haushalt geführt. Menschlich verständlich, daß sie sich gegen den Gedanken wehrt, ihren Platz einer anderen einzuräumen! Außerdem neigt sie ein bißchen dazu, mich zu benuttern, obwohl ja nun so etwa fünfunddreißig Jahre vergangen sind, seit ich die ersten langen Hosen trug. Die Grete vergißt nie, daß sie vier Jahre älter ist als der kleine Bruder.
„Hast du mit ihr davon gesprochen, daß du —, ein zartes Rot steigt in ihr Gesicht, — „ich meine: Kennt sie deine Pläne für die Zukunft?
„Ich habe ihr gesagt, daß ich dich liebe," erwidert Gerhard Lenneberg schlicht. Valerie Gauda nickt gedankenvoll.
„Dann versteh’ ich deine Schwester um so besser. Gerhard, ich bin eine alte Frau,"
„Erlaube mal, Vali! Du bist nach dem Kalender zehn Jahre jünger als ich, nach deinem Aussehen sogar mindestens zwanzig Jahre!"
Frau Valerie lächelt nachsichtig über die kleine Huldigung, die wohl nicht ganz ernst gemeint ist, die sie jedenfalls nicht ernstnehmen darf. „Du brauchst eine Frau, Gerhard, darin hast du recht. Aber ich bin nicht die richtige für dich. Was du brauchst, ist eine schon durch alle Äußerlichkeiten für sich einnehmende junge und schöne Frau."
Lenneberg lacht kurz und unwillig. „Sieh mal an! Das hat dir bestimmt meine teure Schwester eingeredet."
„Ist dein Spott wirklich ganz echt, Gerhard?" Sie sieht ihm forschend in die Augen. „Bist du nicht in deinen geheimsten Gedanken einig mit deiner Schwester? Bitte, laß mich ausreden! Wenn es so ist, wenn du deine