Einer vom Regiment Rammin
Von Axel Rudolph
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Buchvorschau
Einer vom Regiment Rammin - Axel Rudolph
Saga
1. Kapitel
„Ho! Ho! Lestwitz hat die Neese pläng!" höhnen die Grenadiere vom Regiment Rammin, ihre Ladestöcke in die heißen Gewehrläufe stoßend.
„Macht’s besser, wenn ihr könnt!" Die vom Regiment Lestwitz haben pulvergeschwärzte, verzerrte Gesichter. Trotz der geschlossenen Formation ein trauriger Zug, der da aus dem weißen Schleier hervorquillt, der die Schlucht deckt. In Fetzen hängende Gamaschen, besudelte Röcke, pfeifende Lungen, unter blutigen Notverbänden müde, verdrossene Gesichter. Rückwärts! Rückwärts! Retraite!
„Paß auf, Karl, jetzt kommen wir dran!" ruft der Grenadier Fritz Peetz seinem Nebenmann zu. Da hebt auch schon der Kapitän von Münchow seinen Sponton.
„Vorwärts — marsch!"
Hinunter in die Schlucht in die milchdicken Schwaden. Ist’s Nebel? Ist’s Pulverdampf? „Ick fühl mir wie in Himmel!" sagt der Grenadier Peetz, da stolpern seine langen Beine über einen Körper am Boden, und ein Fluchwort entfliegt ihm, das ihn bestimmt aus dem Paradies ausgeschlossen hätte, wenn diese weißen Wolken wirklich der Himmel wären.
„Lücken schließen! Ordnung, Kerls!"
Es scheinen viel solcher stiller Körper hier in der Schlucht zu liegen. Fritz Peetz sieht, wie die geschlossenen Glieder sich hier und da lösen, gamaschenbekleidete Grenadierbeine über Hindernisse hinwegsteigen.
Sonst kann er nicht viel sehen von der Schlacht, und auch das Sprechen fällt nicht leicht. Der Pulverschleim, der erstickend sich in die Kehle drängt, läßt selbst die frechste Berliner Schnauze verstummen.
Einen Abhang hinauf stolpern die Beine. Für einen Augenblick zerreißt der Schleier. Rechts und links exakt im Gleichschritt vorrückende Bataillone, hohe Blechmützen, geschwungene Spontons, gefällte Bajonette. Das Kalbfell rasselt.
Da brüllt die Schlucht auf. Rollende Salven fegen vom Hügelrand herunter. Moskowitische Kartätschen schlagen in die Glieder. Fünf Schritt vor Fritz Peetz bricht der Kapitän von Münchow zusammen. Sein Sponton pflanzt sich in das Erdreich wie eine Fahnenstange, von der das Tuch gerissen.
Vorwärts, Grenadiere!
Der Atem stöhnt. Wie ein Hammerwerk pocht das Herz unter der geflickten Montur. Plötzlich greift Fritz Peetz jäh nach seinem rechten Unterarm.
„Gott steh mir bei!"
„Fritze wird fromm!" lacht mitten im Rollen der Salven sein Nebenmann. Im nächsten Augenblick schlägt er selber lang vornüber. Die Hintermänner treten Fritz Peetz in Hacken und Kniekehlen, unaufhaltsam drängt das zweite Glied nach. Das Gewehr unter den Arm geklemmt, die Linke krampfhaft auf den blutenden, brennenden Unterarm gepreßt, fühlt er sich weiter vorwärts gestoßen. Karl, sein Nebenmann, ist weg, aber die Lücke hat sich sofort geschlossen. Nicht einmal Platz zum Umsinken ist da.
„Vorwärts! Zur Attacke!" brüllt irgendwo die heisere Stimme eines Offiziers. Der Sturmmarsch der Tambours geht unter in neuem Krachen und Donnern vom Hügelrand her. Fritz Peetz wird es schwarz vor den Augen, die Beine knicken ihm plötzlich ein, und — auf einmal ist auch Platz rings um ihn. Die Kartätschensalven haben die Reihen gelichtet. Das zweite Glied ist bereits in das erste aufgerückt, um die Lücken auszufüllen. Fritz Peetz begreift das nicht. Er sieht nur, daß auf einmal niemand mehr hinter ihm ist, daß er zurücktaumeln kann — — —
Wie ist er eigentlich zurück durch die Schlucht gekommen? Schwarzgrüne, flimmernde Schleier vor den Augen, mit wankenden Knien, die jeden Augenblick über Leichen und Monturstücke taumeln, ein wahnsinniges Beißen und Brennen im Arm! Auf einmal steht er jedenfalls wieder jenseits der Schlucht, sieht sich um, — —
Bilder, oft genug gesehen in den letzten Jahren: Vorrückende Bataillone, Peletonfeuer, Schwadronen, des Einhauens harrend, Bombardiers und Stückknechte, reiterlos über das Feld jagende Gäule, umherspritzende, schreiende Adjutanten, bunte Flecken im Gras, langausgestreckt oder zusammengekrümmt, Blessierte, die sich rückwärts schleppen, auf einem fernen Hügel ein Gleißen und Blinken goldbetreßter Generaluniformen, vor ihnen ein zartgebauter Mann, undeutlich erkennbar und doch jedem bekannt in seinem einfachen blauen Waffenrock —
Nichts Besonderes bietet dieses Bild für Fritz Peetz. Die Generale und Obristen, die Adjutanten und Ordonnanzen da oben auf dem Hügel mögen mit angehaltenem Atem dem Gang der Schlacht folgen, in dem Vorrücken und Weichen der Bataillone die Weltgeschichte über das Land schreiten sehen, — der Grenadier Peetz interessiert sich viel mehr für das, was in seiner nächsten Nähe ist: nämlich ein von einer Stückkugel getroffener Gaul, der plötzlich wild um sich zu schlagen beginnt.
„Menagier dich, verdammtet Aast!" Fritz tut einen Seitensprung, um von den Hufen nicht getroffen zu werden, und fühlt dabei wieder einen neuen, heftigeren Schmerz im Arm.
Blessiert! Auch nichts Besonderes. Es humpeln genug Gestalten über das Feld. Man braucht ihnen nur zu folgen, um zum Feldscher zu finden. Der Grenadier Peetz schneidet eine finstere Grimasse bei dem Gedanken. Zum Feldscher — das heißt, stundenlang liegen und warten zwischen jämmerlich schreienden Blessierten. Warten, warten, bis man ihm endlich im Arm herumwühlt, die Kugel herausholt. Sapperlot, das ist zum Kotzen! Man wird ja schlapp und krank von all dem Gewinsel und Geheule, das einem da die Ohren malträtiert, bevor man drankommt!
Fritz Peetz hat, wie die meisten seiner Kameraden, recht wenig Respekt vor der Kunst des Feldschers. Er ist der Ansicht, daß man eine Kugel, wenn sie nicht grade im Knochen steckt, ebensogut mit den Fingern herausklauben kann wie in dem schmerzenden Arm zu schneiden und zu stechen. Ein tüchtiger Verband darum, ein bißchen Ruhe — und mit Gottes Hilfe wird die Sache schon werden.
Während die meisten der aus der Schlacht zurückhumpelnden Blessierten sich nach links wenden, wo in einer Talsenkung die Feldschere ihr Strohhotel aufgeschlagen haben, hält Fritz Peetz sich nach rechts, schwankt, vor Schmerzen immer leise vor sich hin schimpfend, durch einen Hohlweg, klettert wieder einen kleinen Hügelabhang hinauf und findet sich an einem grasüberwucherten, desolaten Feldweg, an dessen Ende eine Gruppe armseliger Katendächer und ein hölzerner Kirchturm über das Gelände lugen.
Fernab donnert die Schlacht. Ein Pikett Husaren jagt in Karriere vom Dorf her gegen das Oderbruch hin. Ein Troßwagen, von Menschen und Pferden verlassen, steckt auf dem Weg, bis an die Radnabe im aufgeweichten Erdreich. In dem dürftigen Gras an der Böschung kauert ein Bauernjunge und starrt mit offenem Munde nach dem grausigen Pulverdampf da vorne.
Auch der Grenadier Peetz wendet einen Augenblick sein Gesicht dorthin. Viel sehen kann man nicht. Die Bodenwellen verdecken jetzt die formierten Bataillons und Schwadronen. Aber jenseits der infamen Nebelschlucht blitzen plötzlich Blechhauben aus den weißen Schwaden auf, verworrenes, wildes Getöse dringt herüber, eine zerfetzte Preußenfahne hüpft empor, recht wie ein Adler, der zur Sonne fliegt. Viktoria! Die Grenadiere haben den Hügelrand genommen und die Moskowiter zum Teufel gejagt.
„Na also! brummt Fritz Peetz befriedigt. „Viktoria! Da kann ich ja in Ruhe …
Er tritt einen Schritt seitwärts und stößt mit dem Knie gegen die Schulter des glotzenden Bauernjungen. „Heda, Bursch! Ist im Dorf da drüben noch Platz? Sind viel Blessierte da?"
„Blessierte? Nein. Der Junge starrt mit stumpfer Angst den blutüberströmten Rockärmel des Grenadiers an. „Ich … ich hab keinen gesehen.
„Dann wird ja wohl ein Unterkommen sein. Wie heißet das Dorf?"
Wieder ein staunendes Starren. Ist doch gar seltsam, daß man nicht weiß, wie das Dorf sich nennt. Das wissen doch alle hier in der Gegend und braucht keiner Schulmeister oder Bakel dazu, sich diese Kenntnis zu erwerben. Fritz Peetz muß seine Frage noch einmal wiederholen, bevor der Junge sich von seinem Staunen erholt und die Zähne voneinander bringt.
„Kunersdorf."
*
Fritz Peetz hat Glück. Die erste Kate am Eingang des Dorfes, an deren Tür er rüttelt, tut sich ihm auf. Der Mann, der sie bewohnt, ist ein Schäfer.
Ein Schäfer versteht mehr als ein Feldscher, — philosophiert Fritz Peetz und läßt sich, die Schmerzen verbeißend, von dem Mann den Rockärmel auftrennen, duldet es auch mit zusammengebissenen Zähnen, daß der Alte mit einem höchst ungeigneten Messer in der Wunde herumwühlt, bis er richtig die Bleikugel herausgefischt hat. Die Prozedur schmerzt viel mehr, als es die geschickte Hand des Feldschers getan haben würde, aber was tut nicht alles der Glaube! Fritz Peetz läßt sich dankbar den Arm zu einem unförmigen Wulst verbinden und streckt sich auf die Strohschütte aus, die ihm der Schäfer anweist. Zehn Minuten später schnarcht er schon.
Als ihn nach einigen Stunden die Schmerzen im Arm wieder wach machen, schnuppert seine Nase begierig durch die Stube. Auf dem Tisch steht eine Schüssel mit Leinöl. Der Schäfer schneidet eben dicke Brotscheiben ab.
„Bleib Er liegen! brummt der Alte, als Fritz einen vergeblichen Versuch macht aufzustehen. „Ich bring Ihm die Schüssel.
Gemeinsam stippen sie die Brotstücke in das Öl. Fritz Peetz grunzt vor Behagen. Mit der Sattheit kommt auch das Interesse für die Außenwelt zurück. Das kleine Fenster hat der Schäfer mit einem dünnen Tuch verhangen, aber man hört deutlich das ferne Grollen der Schlacht und ab und zu ein näheres, heftigeres Stampfen, Knirschen und Rollen. Troßkolonnen scheinen draußen durch die Dorfstraße zu ziehen.
„Wie stehet die Bataille?"
„In Gottes Hand, sagt der alte Schäfer trocken. „Eß Er und ruh Er aus! Das Kriegführen ist nur für Gesunde.
*
Wieder liegt Fritz lang ausgestreckt auf dem Stroh. Der Arm schmerzt ganz verteufelt. Man muß etwas finden, um die Gedanken abzulenken. Sein Blick wandert an dem Monturrock herab. Nicht nur der Ärmel ist aufgeschnitten, auch die ganze rechte Seite des Rockes ist entzwei. Das längst fadenscheinige Gewebe muß sich aufgetrennt haben bei den raschen Messerschnitten des Schäfers. Fritz faßt mit der gesunden Hand in die innere Rocktasche und zieht ihren Inhalt heraus. Ist alles noch da! Die silberne Tabatiere, die er in Gotha erbeutet hat unter dem zurückgelassenen Gepäck der Franzosen. Das Gesangbuch, das ihm die Mutter Peetzin beim Ausmarsch zugesteckt hat und in dem die österreichische Kugel von Leuthen stecken geblieben ist. Der Brief, den die Feldpost ihm ins Lager von Hochkirch gebracht hat. Ja, dieser Brief von Schwester Dorothea ist so recht geeignet, einen von den Schmerzen in dem infamen Arm abzulenken. Fritz Peetz faltet das Papier auseinander und beginnt es zu studieren, obwohl er längst weiß, was darinnen steht.
„Liebwerter Bruder!
Tue dir zu wissen, daß Vater und Mutter alleweile gesund und wohlauf seien und mir aufgetragen haben, dich schön zu grüßen und zu fragen, ob der Krieg bald aus ist. Es ist ein Kurier gekommen und hat die Nachricht gebracht von der großen Victoria von Leuthen. Ist auch Victoria geschossen worden und haben alle kräftig Hurrah und Vivat geschrieen, aber ganz wohl ist uns dabei nit gewesen, lieber Bruder, alldieweil das Leben immer teurer und schwerer wird hier in Berlin trotz eurer Gloire. Für Ein Thaler Preußisch bekommet man nur noch das, so man früher für vier Groschen kaufen konnte. Vater ist auch übel daran, denn die fremden Zuckersieder, so in die Fabrique des Herrn Wesely gekommen sind, schmälern ihm sein Verdienst. Es herrschet große Noth unter den Leuten und auch bitteres Weh. Denn es gibt kaum ein Haus hier in der Spandauerstraße, so nicht einen Sohn oder Bruder bei der Armée hat. Herr Euler meint, daß es hohe Zeit wäre, daß der König wieder nach Berlin käme und ich stimme ihm darin von ganzem Herzen bei. Das Victoriaschießen bessert nit viel an unserer Noth und machet die Toten auch nit lebendig. Nun bin ich mit meinem Briefe fertig und hoffe, daß er dich, herzlieber Bruder Fritz, bei guter Gesundheit antreffen wird und daß du recht bald nach Hause kommst.
Deine dich herzlich liebende Schwester Dorothea."
*
Ja, der Brief bringt einen auf andere Gedanken. Fritz Peetz kratzt sich unter heftigem Nachdenken die Bartstoppeln am Kinn. Ein Stolz auf die Schwester erfüllt ihn jedesmal, wenn er den Brief liest. Er ist vor Fibel und Bakel wahrhaftig auch nicht ausgerissen, und wenn er dem Schulmeister, dem ehrsamen Gottlieb Kühnebrecht, auch manchen infamen Streich gespielt, so hat er doch das Lesen und Schreiben gelernt. Aber einen so wohlgesetzten Brief wie Schwester Dorothea würde er kaum zustande bringen. Nun, das macht der Umgang, den das Schwesterchen hat. Seitdem sie in Charlottenburg im Hause des Herrn Professor Euler aufwartet, hat sie gelernt, wie eine Demoiselle zu sprechen und zu schreiben.
Aber was sie schreibt — ja, da steckt der Haken! Fritz Peetz kratzt sich das Kinn immer heftiger und nachdrücklicher. Das meiste ist natürlich unsinniges Geschwätze. Was auch versteht das Weibervolk vom Krieg! Der König kann doch keinen Frieden machen, wenn die Kaiserin nicht will! Aber sonst — Schwester Dorothea ist nicht kleinmütig und wehleidig. Es muß wahrlich nicht zum Besten stehen in Berlin, wenn sie so schreibt. Wäre auch wirklich ganz gut, wenn man einmal wieder zu Hause nach dem Rechten sehen könnte.
Und das ist der Punkt, an dem Fritz Peetz’ Gedanken hängen bleiben. Ist das so unmöglich? Er hat eine Blessur erhalten in der Schlacht. Vier Wochen wird’s mindestens dauern, bis der Arm wieder heil ist und er den Kuhfuß hantieren kann. Der Feldscher würde ihn für diese Zeit in ein Lazarett schicken. Nach Berlin wohl schwerlich, aber — kann man nicht Feldscher und Korporal einen langen Marsch pfeifen und selber nach Berlin gehen? Die Straßen sind voll von Deserteuren und Marodeuren, seitdem der König mit dem Kantonement nicht mehr auskommt, sondern Überläufer und allerlei Gesindel in die Armee einstellen muß, Leute, die bei der ersten Bataille davonlaufen und sich verdrücken, sobald sie dem Korporalstock entwetzen können. Da wird niemand einen ehrlich blessierten Grenadier aufhalten, wenn er seine Wunde in der Heimat auskurieren will.
„Das Kriegführen ist nur für Gesunde," hat vorhin der kluge Schäfer gesagt, und das ist wirklich so. Mit einem zerschossenen Arm ist man zu nichts nütze, weder beim Exerzieren noch in der Bataille.
„Au! Sapperlot!" Fritz läßt den Brief aus der Hand fallen und greift wieder mit schmerzverzerrtem Gesicht nach seinem Arm. Es tut wieder scheußlich weh. Aber das Stechen geht schnell vorüber, und die Schmerzensgrimasse weicht einem listig zufriedenen Ausdruck. Der Grenadier Peetz ist entschlossen, in Anbetracht seiner Blessur, nach vier Kriegsjahren einmal wieder in die Heimat zurückzukehren.
*
Der Abend ist gekommen, aber die kleine Stube des Schäfers ist trotzdem hell. Nicht die Abendsonne ist es,