Assmanns Inferno: Erzählung
Von Rainer Gross
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Rainer Gross
Rainer Gross, Jahrgang 1962, geboren in Reutlingen. Studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie. Lebt mit seiner Frau als freier Schriftsteller seit 2014 wieder in Reutlingen. Bisher veröffentlicht: Grafeneck (Pendragon 2007, Glauser-Debüt-Preis 2008); Weiße Nächte (Pendragon 2008); Kettenacker (Pendragon 2011); Kelterblut (Europa 2012). Bei BoD u.a. erschienen: Die Welt meiner Schwestern (2014); Yûomo (2014); Haus der Stille (2014); Schrödin-gers Kätzchen (2015); Haut (2015); My sweet Lord (2016); Holiday (2016); Am Ende des Regenbogens (2016); Scheherazade (2017); Die sechzigste Ansicht des Berges Fuji (2017); Der Sommer der Glühwürmchen (2017); In der fernen Stadt (2017).
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Buchvorschau
Assmanns Inferno - Rainer Gross
Rüdiger Assmann, Inhaber einer alteingesessenen Hamburger Tabakhandlung, hat sein Leben gut eingerichtet. Manchmal schleust er ein paar Einnahmen am Fiskus vorbei, wie das alle machen, und regelmäßig fährt er zu seinem Pfeifenmacher in Kopenhagen, wobei er sich mit seiner Geliebten trifft und schöne Tage verbringt. Seine Frau, seine Kinder, sein Haus in Volksdorf – so kann es bleiben. Wenn nicht die ständigen Albträume wären, die ihn plagen, nicht dieses Gesicht wäre, das ihn verfolgt, in seinem Rücken, und zu dem er sich nicht umzudrehen wagt. Etwas wartet auf ihn am Rand seines Bewusstseins, etwas Entsetzliches, dem er sich stellen müsste. Aber er wähnt sich in Sicherheit, will nichts ändern – bis eines Tages das Entsetzliche über ihn hereinbricht.
Rainer Gross, Jahrgang 1962, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie. Er lebt mit seiner Frau als freier Schriftsteller in Reutlingen.
Bisher veröffentlicht: Grafeneck (Pendragon 2007, Glauser-Debüt-Preis 2008); Weiße Nächte (Pendragon 2008); Kettenacker (Pendragon 2011); Kelterblut (Europa 2012).
Bei BoD u.a. erschienen: Die Welt meiner Schwestern (2014); Das Glücksversprechen (2014); Yūomo (2014); Haus der Stille (2014); Abendzug nach Blankenese (2014); Schrödingers Kätzchen (2015); Drei Tage Wicklow (2015); Haut (2015); Der Traum der Delphine (2015); Halleluja (2015); Das Herz ist ein Reisender – Liebesgeschichten (2015).
Durch mich geht man hinein zur Stadt der Trauer,
Durch mich geht man hinein zum ewigen Schmerze,
Durch mich geht man zu dem verlornen Volke.
DANTE, GÖTTLICHE KOMÖDIE
Inhaltsverzeichnis
EINS
ZWEI
DREI
VIER
EINS
Alteingesessener Handel in der vierten Generation, seriöse Lettern: Assmann & Söhne Tabakwaren, Rathausmarkt 5.
Morgens, nachdem Rüdiger Assmann den Laden aufgemacht hatte, saß er im Hinterzimmer und trank seinen Morgentee, einen kräftigen, malzigen Assam, bis die Türglocke läutete.
Gediegenes Interieur, Tresen und Regale aus Eichenholz, Pfeifenschränke, Glasvitrinen, die Blechdosen der Tabake mit bunten Aufklebern, mittlerweile zur Hälfte verschandelt von den Warnhinweisen des Bundesgesundheitsministeriums. Sein Augapfel: die Freehand-Pfeifen von seinem Pfeifenmacher in Kopenhagen und die selbst komponierte Tabakreihe Assmann Nummer Eins bis Vierundzwanzig.
Rüdiger Assmann war Anfang Vierzig, verheiratet, hatte zwei Kinder. Guter Durchschnitt. Assmann war guter Durchschnitt. Sein Verdienst für einen selbständigen Einzelhändler guter Durchschnitt. Das Haus draußen in Volksdorf ein Reihenhaus mit Garten und Garage, guter Durchschnitt. Assmann war mittelgroß, die Haare ergrauten schon, er trug Anzug und Krawatte im Laden, kaufte seine Schuhe bei Sauvage & Woelke im Neuen Wall, deutlich über dem Durchschnitt, und hegte Pläne, in der neu entstehenden Hafencity eine Filiale zu eröffnen.
Assmann war geborener Hamburger, behielt stets die Fassung und verbarg seine Gefühle hinter kühler Freundlichkeit. Gemma, seine Frau, war blond, trug immer eine Kette aus echten Perlen und war ebenso hanseatisch gesittet und gesonnen wie er. Sie passten gut zusammen. Nur die Kinder machten ein wenig Sorgen; den Kleinen hatten sie in eine Waldorf-Schule getan, weil er offensichtlich ein Indigo-Kind war, und die Große kam in die Pubertät.
Assmann schlürfte seinen Tee, schaute aus dem Fenster hinaus auf den Hinterhof, genoss das Schweigen der Türglocke und überließ sich seinen Montagmorgengedanken es duftet im Laden, Duftladen, Kolonialwaren, würzig, würzige Gewürze aus Indien, gab’s da nicht einen Film? hübsche Inderin, Zimthaut, Beatrix wird im Sommer immer so braun, schwedischer Sommer, Baden in den Schären, Ferienhaus, Ausflug, Wasserglitzern ringsum, schwankendes Boot, ihre Haut, die nach Sonne riecht, wird bald wieder Sommer, Urlaub? will keinen Urlaub, nicht fort von Beatrix, Gemma merkt nichts, Gemma, unschuldig, Gemma, treu, Gemma, zuverlässig, im Bett ein kalter Fisch, merkt nichts, heiß, der Tee, Teeduft, mein Traum, einmal nach Indien, Teegarten, weit fort von Hamburg, Flughafen, die Passagiere des Fluges werden gebeten, Pass, inzwischen abgelaufen, muss ihn verlängern lassen, nächster Termin in Kopenhagen bei Lauridsen, nächste Woche? Kopenhagen im März, da hat’s angefangen, seit vier Jahren, merkt nichts, Beatrix, die Glückselige, Rüdiger, der Rüde, triebig, hitzig, treib’s mit ihr in den hellen Sommernächten, schwedische Sommernächte, Wasserglitzern, Sonnengeruch, ein Traum, ein Traum seit Langem, mein Glück gemacht, Glück kommt von Lücke, da geht’s hindurch durchs Dickicht, flott vorankommen, gelingendes Vorhaben, förderlicher Gang, mein Glück gemacht, die Glückselige, warum stell ich mir Glück immer blau vor, blau wie der Himmel, heiter, magisch, süß, die Türglocke, Mist –
Wenn er nach Hause kam, hatte er schon in einem Lokal zu Abend gegessen. Gemma hatte ein Abendbrot zurechtgemacht, die Kinder aßen Wurstschnitten, er saß dabei, weil es sich gehörte.
Er trank Tee.
Danach hörte Gemma die Kinder ab, ob sie ihre Hausaufgaben gemacht hatten, das gab Diskussionen und Streitereien. Er zog sich in sein Arbeitszimmer zurück, wo er einen tragbaren Fernseher stehen hatte. Er mochte die Vorabendsendungen. Der Vorabend gab ihm das Gefühl, den Tag hinter sich gebracht zu haben. Alles war in Ordnung, alles so, wie es sein sollte. Die Nachrichten bestätigten das, indem sie das Weltgeschehen in säuberliche Portionen verpackten. Katastrophen, Kriege, politisches Kabinett – alles wurde an seinen Platz gewiesen. Er wusste gar nicht, wie sehr ihn die Nachrichten von der Ordnung seiner Welt überzeugten. Er wusste nicht, dass er insgeheim nichts mehr fürchtete als Schicksalsschläge. Alles, was die tägliche Ordnung seines Lebens gefährdete, fürchtete er. Auch Krankheiten. Er ging zu Vorsorgeuntersuchungen, wie es die Versicherung empfahl. Keiner in seiner Familie hatte Krebs gehabt oder Irrsinn, seine Frau war gesund, bei den Kindern musste man abwarten. Er zündete sich eine Pfeife ein, weil er im Arbeitszimmer rauchen durfte. Er trank einen Genever dazu, fünf Jahre alt, aus Holland. In geschliffenem Kristallglas, eigentlich ein Sherryglas, aber es ging an.
Um acht erschien Gemma in der Tür und sagte ihm, das die Kinder nun auf ihren Zimmern waren. Er nahm das Glas mit hinunter. ließ die Pfeife im Aschenbecher liegen, um sie später zu reinigen, und schaute mit Gemma einen Film. Er schaute gern Filme, auch Spätfilme. Er mochte besondere, Aufsehen erregende Filme, die sich Gemma nicht anschauen würde. Er liebte Katastrophen- und Actionfilme, in denen Menschen den Kampf gegen das Unheil aufnahmen und letztlich siegten.
Gemma ging um zehn im Bett, er saß noch bis halb zwölf und genoss die Muße.
Viele Gedanken gingen ihm beim Fernsehen durch den Kopf. Gemma störte ihn nur, wenn sie ein Gespräch mit ihm beginnen oder Dinge planen wollte.
Eigentlich