Fixfeuer: Flammen über Bernkastel
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Über dieses E-Book
Jörg Matthias Braun
Der Autor wurde Ende der 1960er Jahre in Bernkastel-Kues geboren. Dort besuchte er neun Jahre lang das Nikolaus-von-Kues-Gymnasium. Er ist ein intimer Kenner der lokalen Geschichte und veröffentlichte in den letzten 15 Jahren fünf Bücher über die Geschichte der Stadt Bernkastel-Kues und ihrer Einwohner.
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Buchvorschau
Fixfeuer - Jörg Matthias Braun
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Morgenstimmung
Die Familie
Die Stadt Bernkastel
Die Mutter
Gendarm Neubeiser
Frühstück
Auf der Amtsstube
Der Schuhmacher
Am Kapuzinerkreuz
Markttag
Papierkram
Heute gibt’s Fisch!
Der fette Zeller
Kontrollgang
Hochwasser
Am Gestade
Soleier
Brand in Zell
„Dä Cusa Nikla"
Der Kaufmann Simon Marx
An der Brauerei
„Schwarzbäckchen"
Die Graacher Gasse
An der Bärenpumpe
In der Kallenfels
Der Hirte
„Trarbach brennt!"
Kühlen Kopf bewahren
Die Vorhut
Aufregung am Rauschenpütz
Die Forelle
Auf dem Weg nach Trarbach
Blick auf Trarbach
Pfarrer Dorbach
Leuchtende Augen
Chaos
Die Idee
Löscharbeiten in Trarbach
Der Agent
Das Opfer
Versicherungsfälle
Die Planung
Die Police
Das Herdfeuer
Die Bernkast'ler Zeitung
Der Schuppen
Zähe Verhandlungen
„Endlich geht’s los!"
Gräwes
„Feuer! Feuer!"
Aufräumarbeiten
Das Wichtigste zuerst
Die Karten lügen nie
Nachbarschaftshilfe
Zurück nach Bernkastel
Kampf gegen die Flammen
Schlechte Nachrichten
In Reih und Glied
Schöne Aussicht
Total erschöpft
Ein Anblick zum Dahinschmelzen
Einen Versuch ist’s wert
Erste Schadensbilanz
Ein Besuch zur Unzeit
Zwei Brände in einer Ausgabe
Der Korinthenkacker
Die Grabutzke
Hoher Besuch
Versicherungsbetrug
Erste Untersuchungen
Scheibchenweise
Unschuldsvermutung
Das Fünf-Minuten-Ei
Das Geschäft muss laufen
Ein möglicher Verdächtiger
Der Kreissekretär
Das Hilfskomitee
Zeugenbefragung
Ablenkungsmanöver
Was für ein Pech
Die Lebensuhr
Spendenaufruf
Der Engländer
Hilferuf für die abgebrannten Trarbacher
Der Schlappeflicker
Die Geier kreisen schon
Es kribbelt wieder
Die Prutsch
Auf dem Eichelfeld
Steff und Paula
Der nächste Streich
Ein Verdächtiger weniger
Paula und Steff
Schon wieder das leidige Thema
Abgebrannt
Überall an der Mosel brennt es
Der Wolf
Der ungezogenste Bengel
Der neue Bürgermeister
Reinhaltung der Straßen
Der Sohn des Feldhüters
Kein Nachtisch, der mundet
Aller guten Dinge sind drei!
Die Römerstraße
Das erste Opfer
Was sollen wir noch tun?
Der bleiche Reiter
Zeugenvernehmungen
Hilfe läuft an
Weitere Spenden für die Mosel
Glück gehabt!
Der Drohbrief
Auferstehen aus Ruinen
Die Zustellung
Feuer allenthalben
Es wird Herbst
Auch schon in Trier gewesen
Lederallergie
Im Haus des Schreiners Burkard
Die Båhr
Schnell erkannt ist halb gebannt
Post aus Altona
Eine Handvoll
Drei zerstörte Dächer
Der kleine Joseph
Brandgeschädigte am Marktplatz
Vom Pech verfolgt
Weitere Geschädigte am Marktplatz
Ein dunkler Winter steht bevor
Gleich zwei Brände
Dä Ahmer Grompere
Expropriation
Die Feuerspritze
Ein sehr guter Herbst
Konstantinopel ist nicht aus der Welt
Die Geschwister Korger
Doch lieber Trier?
Der sechste Brand
Ermittlungen in der Vorstadt
Fixfeuer
Was für ein Scheißleben!
Bitte um kirchlichen Beistand
Dem Himmel sei Dank!
Abermals zwei Brände
Ermittlungen an der Heilig-Geist-Kirche
Neustart in Trier
Hausdurchsuchung im Armenspital
Reichen die Beweise?
Die Verhaftung
Anhang
Das Kreuz
Beim Marx
Die Wallfahrt
Vorwort
Im Jahr 1857 ereignete sich in der Stadt Bernkastel an der Mittelmosel eine Serie von insgesamt sieben Bränden, die von einer einzigen Person – dem einheimischen Tagelöhner Johann Meisterburg – gelegt wurden und insgesamt mehr als 60 Gebäude zerstörten oder schwer beschädigten. Die Fakten rund um die Brände, die Ermittlungen und die Festnahme des Verdächtigen sind dem Buch „Johann Meisterburg – der Brandstifter von Bernkastel" ¹ von Jörg Matthias Braun aus dem Jahre 2019 entnommen.
Das vorliegende Buch schildert die Ereignisse jenes Jahres in Romanform. Aus den zeitgenössischen Protokollen überlieferte Personen und Orte wurden unverändert im Roman übernommen. Andere Passagen des Buches sowie einzelne Charakterzüge der Akteure sind der Phantasie des Autors entsprungen, um die Geschichte für den Leser spannender und interessanter zu machen.
Juli 2023
Jörg Matthias Braun
¹ ISBN 978-3-86579-156-6
Danksagung
Ich danke meiner lieben Ehefrau für ihr Verständnis und ihre Unterstützung während meiner Arbeit an diesem Werk.
Morgenstimmung
„Kreytzdonnerkeyl nochemål!"
Johann Meisterburg hatte eine Stinkwut im Bauch! Gerade erst war die Sonne über den Weinbergen hinter dem kleinen Häuschen, in dem er und seine Familie wohnten, aufgegangen, da wurde er schon von ihr geweckt. Ein Dutzend Mal hatte er seinem Bruder Heinrich, dem das Haus gehörte – zumindest bildete der sich das ein – gesagt, dass im Fensterladen eine kaputte Lamelle ersetzt werden müsse. Genau durch diese Stelle fielen seit einer Woche die ersten Strahlen der im Osten aufgehenden Sonne genau auf seine Augenlider, sodass das grelle Licht seinem Schlummern ein jähes Ende bereitete. Heute hatte er ausschlafen wollen, denn mal wieder hatte er an diesem Tag nichts Besseres vor. Nicht, dass es für einen Tagelöhner wie ihn in Bernkastel nicht genügend Arbeit gab, wenn man welche wollte, aber arbeiten war nicht sein Ding. Er hatte schließlich ein Dach über dem Kopf und einen Faulenzer sollte seine Familie ja wohl durchfüttern können. Warum also sollte er sich Tag für Tag für andere im Weinberg abrackern, Lastkähne im Hafen entladen oder die schweren Waren mit Sackkarren von der Mosel aus in die Stadt fahren? Viel angenehmer war es doch, den Tag in aller Ruhe zu beginnen, nach dem Frühstück durch die Stadt zu stromern und sich die Deppen anzuschauen, die sich jahrein, jahraus plagten, nur um zu Hause ein keifendes Eheweib und eine Hand voll lärmender Bälger durchfüttern zu können. Ihm reichte es, ab und an ein wenig zu arbeiten, um genug Taschengeld zu haben, mit dem er sich hier und da einen Schoppen Wein oder eine Flasche Bier leisten konnte.
In Bernkastel war es üblich, Alkohol in rauen Mengen zu trinken. Fast jeder verließ die Gastwirtschaft im angetrunkenen Zustand. Johann Meisterburg mochte das nicht. Zum einen fehlte ihm das Geld, um sich zu betrinken. Sein Hauptgrund nüchtern zu bleiben war jedoch ein anderer. Er hatte gelernt, dass sich bei vielen Trinkgesellen mit jedem Glas Wein oder Bier die Zunge mehr löste. In diesem Zustand vergaßen die Leute alle Vorsicht und wurden redselig, manch einer prahlte geradezu vor den anderen, welche wertvollen Gegenstände er zu Hause liegen hatte oder wo im Haus sein Notgroschen versteckt war.
Johann saß gerne still und leise mit am Tisch – wobei, meistens saß er für sich alleine. Zum einen war er bei den Bernkastelern nicht besonders wohl gelitten, was wohl auch damit zu tun hatte, dass er – aus Abneigung gegen die Bernkasteler Winzer – grundsätzlich nur auswärtigen Wein trank, am liebsten einen „Kirchberg aus Veldenz oder einen „Himmelreich
aus Graach, falls auswärtiger Wein im Wirtshaus überhaupt angeboten wurde. Wann immer ihn ein Wirt darauf ansprach, ob er nicht lieber einen guten Tropfen aus Bernkastel trinken wolle, gab er diesem zur Antwort: „Bleib mir bloß mit dem Buppel² weg!"
Zum anderen mochte Johann selbst kaum jemand anderen leiden und sich mit ihm an einen Tisch setzen. Daher saß er meist an einem Nebentisch, stellte seine Lauscher auf und hörte aufmerksam zu. Auf diese Weise hatte er schon manch gute Beute bei einem seiner vielen Einbrüche gemacht. Viele Haustüren standen tagsüber immer offen und da er selten arbeitete hatte er zu dieser Tageszeit leichtes Spiel. Wenn ein Hausbesitzer vorsichtiger war und die Haustüre während seiner Abwesenheit verriegelt hatte, so brauchte sich Johann in der Regel nur über ein anderes Haus Zugang zum Dachboden zu verschaffen, denn die in der engen Stadt direkt aneinander gebauten Häuser waren oft über den Dachboden miteinander verbunden und jene Verbindungstüren waren so gut wie nie verschlossen. Unverfängliche Beutestücke konnte er in der Stadt selbst zu Geld machen. Bei eindeutig identifizierbaren Dingen, wie beispielsweise einer Taschenuhr mit Monogramm, musste er notgedrungen nach Trarbach oder gar bis Trier reisen, um diese zu versetzen. Nach Trarbach konnte man von Bernkastel aus problemlos in ein paar Stunden hin- und zurückgehen. Eine Reise nach Trier konnte demgegenüber leicht ein paar Tage in Anspruch nehmen, vor allem, wenn man sich die Mitfahrt auf einem Kahn nicht leisten konnte. Wenn aber das finanzielle Ergebnis stimmte, lohnte sich auch dieser Aufwand. Außerdem kam er auf diese Weise ab und an aus dem „Drecksnest" – wie er seine Heimatstadt Bernkastel zu bezeichnen pflegte – heraus.
Eben sinnierte er, wie früh am Tag es wohl sein mochte, da zeigte die Uhr des auf der Anhöhe gelegenen ehemaligen Kapuzinerklosters mit ihrer Glocke sieben volle und eine halbe Stunde an. Zum Aufstehen war es ihm noch zu früh und Johann verfiel ins Grübeln. Wenn er sich die anderen Männer seines Alters betrachtete, war er froh, dass er unverheiratet geblieben war. Er war nun 25 Jahre alt und manch ein Schulkamerad hatte seiner Ansicht nach schon sein Leben mit einer Ehefrau und Kindern verpfuscht! Die Kleinen fraßen einem die Haare vom Kopf, ständig war das Geld knapp und wenn im Winter oder Frühjahr bedingt durch die dann nasskalte Witterung mal ein Arzt oder Medizin zu bezahlen waren, dann musste der Gürtel noch enger als sonst geschnallt werden. Und wofür das Ganze? Als Familienvater galt es von Montag bis Samstag von früh bis spät zu arbeiten, nur um die Familie durchzubringen. Trotz aller Anstrengung starb einem nicht selten die Hälfte der Kinder weg und wenn man eine Alte zu Hause hatte, die von Jahr zu Jahr mehr herumnörgelte, dann hatte man auch nach Feierabend keine Ruhe. Da half dann nur noch der Gang ins Wirtshaus, aber ein Wirt wollte auch nicht ewig anschreiben, wenn man nicht bezahlen konnte.
² minderwertiger Wein
Die Familie
Nein, dann war es ihm schon lieber, dass er frei und ungebunden war. Er lebte zusammen mit seinem fünf Jahre älteren Bruder Heinrich und seinen Eltern in einem Häuschen in der Vorstadt von Bernkastel. Da seine Familie wenig Geld hatte, besaßen sie nur ein ganz kleines Häuschen, das nicht vorne an der Straße, sondern hinten an den Weinbergen lag. Sie hatten schon immer in der Vorstadt gewohnt, in der vornehmlich der ärmere Teil der Stadtbevölkerung sein Dasein fristete. Etwas anderes konnten sie sich nicht leisten. Früher hatten sie oberhalb der Heilig-Geist-Kirche gewohnt, aber dieses Haus brannte im Januar 1845 ab. Ein leichtes Grinsen umspielte Johanns Lippen, als er daran dachte. Das Haus, in dem sie nun wohnten, hatte hauptsächlich sein Bruder Heinrich bezahlt. Der hatte zwar auch keinen richtigen Beruf gelernt, war aber so dumm, jeden Morgen zeitig aufzustehen, um sich in der Stadt eine Gelegenheitsarbeit zu suchen. Deswegen beanspruchte Heinrich das Haus als das seinige, worüber es fortwährend zu Streitigkeiten kam, denn nach Johanns Meinung gehörte es der gesamten Familie.
Seine Familie war nie übermäßig wohlhabend gewesen. Eigentlich interessierte ihn die Familiengeschichte nicht sonderlich, aber sein Vater Peter Sebastian hatte ihm ab und zu etwas erzählt. Wenn er sich recht an die Erzählungen erinnerte ging es der Familie im 18. Jahrhundert gar nicht so schlecht. Man war zwar nicht reich, hatte aber sein Auskommen. Sogar ein Jesuitenpater war aus der Familie hervorgegangen. Der wirtschaftliche Niedergang der Meisterburgs begann allem Anschein nach mit seinem Großvater Nikolaus, der schon verstorben war, als Johann im Jahr 1832 geboren wurde. Dieser konnte nicht gut wirtschaften und als er mit nicht einmal 50 Jahren verstarb, hinterließ er seiner Witwe einen Haufen Schulden. Sein Vater war ein Tagelöhner, der keinen Beruf erlernt hatte und diese „Tradition" hatte er an seine beiden Söhne vererbt. Da sowohl sein Vater Peter Sebastian, als auch dessen Vater Nikolaus als jeweils einzige ihrer Familien geheiratet hatten, war die Verwandtschaft der Meisterburgs in Bernkastel sehr übersichtlich und die aktuelle Zahl der Namensträger auf eben jene vier Köpfe seiner eigenen Familie begrenzt: Er selbst, sein Bruder, sein Vater und seine Mutter. Wobei – eigentlich hielten sich zurzeit nur drei Meisterburg in Bernkastel auf, denn sein Vater saß mal wieder wegen Bettelei seit einigen Monaten im Gefängnis zu Trier!
Die Stadt Bernkastel
Bernkastel war ein kleines Städtchen an der Mittelmosel, ungefähr auf halbem Weg von Trier nach Koblenz, welches sich in ein enges Tal des Hunsrücks auf der stromabwärts gesehen rechten Seite des Flusses schmiegte. Dementsprechend beengt waren die Platzverhältnisse und die Fachwerkhäuser waren Wand an Wand gebaut. Bernkastel lag in der preußischen Rheinprovinz. Innerhalb dieser gab es nur zwei Brücken über die Mosel – eine in Trier und eine in Koblenz. Wollte man von Bernkastel aus auf die gegenüberliegende Flussseite auf der nach links versetzt das Dorf Cues lag, so musste man eine Fähre oder einen Nachen benutzen. Genau gegenüber der Bernkasteler St. Michaelskirche lag das Cusanus-Hospital, welches weit und breit nur von eigenen Ländereien umgeben war. Bernkastel selbst hatte auch ein Armenhospital, welches dem Heiligen Geist geweiht war. Diese Stiftung war sogar noch ein paar Jahrzehnte älter als die des bekannten Kardinals Nikolaus Cusanus. Die dazugehörige Heilig-Geist-Kirche lag in der Vorstadt von Bernkastel neben dem Friedhof.
Die Stadt hatte circa 2.400 Einwohner von denen rund 95% katholisch waren. Es gab eine 4-zügige Schule, die Höhere Knabenschule, sowie eine jüdische Schule. Hauptwirtschaftszweig war der Weinbau, wozu sich die steilen Weinberge mit Schieferböden hervorragend eigneten. Die häufigsten Berufe waren Winzer, Bäcker, Fassbinder, Seiler, Gerber, Schreiner, Schuhmacher, Metzger, Sattler und Zigarrenmacher. Im Gegensatz zu den umliegenden Dörfern gab es in der Stadt aber auch Ärzte, Goldschmiede, Apotheker und – seit man ein Teil Preußens war – auch Beamte wie Landrat, Notare, Gerichtsvollzieher, Gendarme, Schreiber etc. Diese wurden oft von weit her nach Bernkastel versetzt und hatten den Anteil der Bevölkerung mit protestantischem Glauben deutlich vergrößert.
Insgesamt konnte man in dem Moselstädtchen sein Auskommen finden, wenn man arbeitsam war, auch wenn die letzten Jahre für den Weinbau nicht besonders gut gewesen waren.
Die Mutter
Johann Meisterburgs Mutter Maria Elisabeth – genannt „Lissbeth – war eine geborene „Schuh
. Sie war in erster Ehe mit dem Bergmann Johann Beucher verheiratet gewesen. Aus dieser Ehe brachte sie als Witwe die beiden Kinder Johann und Elisabeth mit, die demnach Johanns und Heinrichs Stiefgeschwister waren. Über diese Seite hatte Johann demnach weitere Verwandtschaft in der Stadt. Seine beiden Stiefgeschwister waren allerdings 19 respektive 14 Jahre älter als Johann, so dass er zu ihnen keine besonders tiefe Beziehung hatte. Man grüßte sich, ging sich ansonsten jedoch eher aus dem Weg.
Ein wirklich gutes Verhältnis hatte er in Bernkastel sowieso nur zu seiner Mutter. Die konnte zwar ein richtiges Luder sein, aber er war ihr Liebling und die beiden kamen im Großen und Ganzen gut miteinander klar. Manchmal nannte sie ihn sogar „mein Hannichen"! Seine Mutter bestritt ihren Lebensunterhalt durch Betteln, Kartenlegen und Wahrsagen, was sie in den Augen der meisten Bernkasteler zu einer Außenseiterin machte. Allerdings hatte sie es in ihrem Leben nicht leicht gehabt. Sie war ein uneheliches Kind und ihre Mutter heiratete erst zehn Jahre nach Lissbeths Geburt, so dass Elisabeth in frühester Kindheit kein wirkliches Familienleben kennengelernt hatte. Auch ihre Mutter Margaretha war bereits mit sechs Jahren Vollwaise gewesen und hatte ebenfalls keine leichte Kindheit und Jugend gehabt.
Nun ja, so war das nun mal im Leben. Es war nicht immer leicht, aber man musste selbst sehen, dass man das Beste daraus machte. Deshalb hatte und wollte er auch keine eigene Familie und arbeitete nur das Nötigste.
Seine Mutter liebte es, innerhalb der Familie über andere Leute herzuziehen und sich über diese lustig zu machen. Sie hatte vielen potentiellen Opfern, bei denen Johann ins Haus einsteigen und etwas stehlen konnte, einen Spitznamen gegeben, so dass niemand außer ihnen beiden wusste, wer gemeint war, falls sie mal bei der Planung einer Tat belauscht würden. Bei der Vergabe der Namen war seine Mutter an Einfallsreichtum kaum zu überbieten. Im Laufe der Zeit hatte er selbst viele gute Namen erfunden, aber seine Mutter war immer noch die Meisterin und die besten Spitznamen stammten von ihr. Allerdings hatte Hanni eine andere Begabung, bei der er besser war als seine Mutter: Gedichte schreiben. Das tat er eher unregelmäßig, aber in der Regel führte er immer ein paar kleine Zettel und einen Bleistift in der Hosentasche mit sich, falls ihn ein Einfall zu einem lustigen Gedicht überkommen sollte.
Es war schon zu so früher Stunde wieder recht warm an diesem Dienstag und die Sonne drückte durch den Fensterladen. Seit Wochen war es heiß und hatte keinen Tropfen geregnet. Er konnte sich nicht an einen so heißen Sommer erinnern und auch die Alten in der Stadt hatte er sagen hören, dass sie Solches selten erlebt hatten.
Johann beschloss aufzustehen. Er hatte zwar nichts vor, aber bei zunehmender Temperatur war an Schlaf sowieso nicht mehr zu denken. Mühsam und müde vom gestrigen Nichtstun erhob er sich aus seinem Bett und ging zum Waschtisch. Er goss sich ein wenig Wasser aus der Kanne in die Porzellanschale, dann zog er sein Nachthemd aus und vollzog seine übliche „Katzenwäsche", die wie sonst auch nur eine knappe Minute dauerte. Er trocknete sich ab, nahm das gestrige Hemd vom Stuhl und zog es an. Dann noch schnell die darunterliegende Hose geschnappt und angezogen, die Gallien³ auf die Schultern geschoben und fertig war ein „frischer Johann für einen neuen Tag".
³ Hosenträger
Gendarm Neubeiser
„Nun lass doch, so schlimm sieht es gar nicht aus.", sagte Ludwig zu seiner Frau, die letzte Hand an die Jacke seiner grünen Uniform anlegte.
Ludwig, der mit vollem Namen Johann Ludwig Neubeiser hieß, war Gendarm in Bernkastel, genauer gesagt: Fußgendarm, denn in größeren Städten gab es auch Vertreter seines Standes, die hoch zu Ross unterwegs waren, um für Recht und Ordnung zu sorgen. Er war weit weg von hier geboren, nämlich in Culm an der Weichsel im Osten des Königreiches Preußen. In die Rheinprovinz, die seit 1822 eine Preußische Provinz war und zu der auch das Moselstädtchen Bernkastel gehörte, hatte ihn sein Beruf und die Praxis, dass man Beamte und Bedienstete vorwiegend heimatfern einsetzte, geführt. Sein Vater war mit Ludwigs Berufswunsch nicht besonders glücklich gewesen. Zum einen war jener ein Musiker, zum anderen erachtete er den Beruf des Gendarmen als nicht ungefährlich und damit für einen zukünftigen Familienvater als unangebracht.
Bevor Neubeiser nach Bernkastel kam, hatte er in dem rund zwölf Kilometer entfernt gelegenen Hunsrückdorf Morbach seinen Dienst versehen. Dort hatte er 1849 auch seine Ehefrau Anna Maria Gertrud Mehn geheiratet, die aus Lieser an der Mosel stammte und theoretisch flussabwärts nach Bernkastel hätte schwimmen können, wenn sie dessen mächtig gewesen wäre. Zumindest lag Lieser als moselaufwärts gelegener Nachbarort von Cues – das auf der anderen Seite der Mosel gegenüber von Bernkastel lag – ganz in der Nähe der Stadt. Von dem Berg, auf dem die Burgruine „Landshut über Bernkastel thronte, konnte man Lieser sogar sehen. Er hatte damals heiraten „müssen
, denn seine Ehefrau war schwanger und fünf Monate später kam ihr Töchterlein Margaretha zur Welt. Aber er liebte seine Frau und hatte die Entscheidung nie bereut. Zum Zeitpunkt der Heirat war er bereits 37 Jahre alt gewesen und seine Frau auch schon 33 – für beide sozusagen „höchste Eisenbahn"! Seine Ehefrau war als Witwe in ihre zweite Ehe gegangen, hatte aus der kurzen Ehe mit einem Förster jedoch keine Kinder.
Ein Jahr später war er an die Mosel versetzt worden und dieser Standort kam ihm viel mehr gelegen, war er doch auch in einer Stadt aufgewachsen, die an einem Fluss lag. In Bernkastel gesellten sich im regelmäßigen Abstand von zwei Jahren noch ein Mädchen und zwei Buben zur Familie, so dass sie nun zu sechst waren. Viele Kinder verstarben Mitte des 19. Jahrhunderts sehr jung, aber von diesem Schicksal waren sie gottlob bisher verschont geblieben.
„So meine Herzallerliebste, nun wird es Zeit in die Amtsstube zu gehen."
sagte er seiner Ehefrau, die inzwischen den jüngsten Sprössling – den nach ihm benannten Johann Ludwig – auf ihren Arm genommen hatte. Er gab ihr einen Kuss auf die Wange, drückte seine beiden jüngsten Kinder – die beiden großen waren schon in der Schule – und verließ das Haus. Sein Ziel war das am Marktplatz liegende Rathaus, in dem sich die Amtsstube befand.
Er blickte sich noch einmal um und sah seine Frau mit den beiden Kindern vor der Haustür stehen und ihm zuwinken. Er erwiderte lächelnd ihre Geste und freute sich schon darauf seine Familie heute Abend wiederzusehen.
Frühstück
Johann Meisterburg ging nach unten in die kleine Küche, die er verwaist vorfand. Sein Bruder Heinrich war sicherlich schon bei der Arbeit, aber dass seine Mutter nicht anwesend war, verwunderte ihn ein wenig. Vielleicht war sie ja zum Einkaufen in die Stadt gegangen? Er nahm das Brot aus dem hölzernen Kasten, schnitt sich eine dicke Scheibe davon runter und legte diese auf den Tisch.
Die kleine Turmuhr des „Klösterchens" schlug acht.
Johann ging zur Kellertür, entriegelte die kleine Tür, nahm das Glas mit der Zwetschgenmarmelade, die seine Mutter letztes Jahr eingekocht hatte und trug es in die Küche. Auf der Kellertreppe bewahrten sie im Sommer die Lebensmittel auf, die kühl stehen mussten. Er öffnete eine Schublade im Küchenschrank, entnahm einen Löffel, den er in die Marmelade tauchte, um diese anschließend auf dem Brot zu verteilen. Gerne hätte er auch Butter auf dem Brot gehabt, aber da sie selbst keine Kuh besaßen, um von deren Milch die Butter selbst herstellen zu können, war diese im Haushalt nicht immer vorhanden. Eine Möglichkeit diesen Zustand zu vermeiden wäre natürlich gewesen, regelmäßiger einer Arbeit nachzugehen, aber so wichtig war ihm die Butter nun auch wieder nicht! Auf dem Herd stand noch eine Kanne mit lauwarmem Kaffee, von dem er sich eine Tasse eingoss. Es war „natürlich kein richtiger Kaffee, denn der war für seine Familie unerschwinglich und wurde höchstens mal zu Weihnachten gekauft. Sie tranken normalerweise einen Kaffeeersatz, der aus Getreidekörnern hergestellt wurde. Nachdem er aufgegessen und ausgetrunken hatte, erhob er sich und brachte das Marmeladenglas zurück an seinen angestammten Platz auf der Kellertreppe. Nun konnte der Tag beginnen. Er ging zur Haustür, schlüpfte in seine dort stehenden Werktagsschuhe, nahm seine am Zapfenbrett hängende Mütze und öffnete die Tür. Warme Luft schlug ihm an diesem 21. Juli entgegen, aber glücklicherweise wehte ein leichtes Lüftchen, welches die Temperatur erträglicher machte. „Mal schauen, was in der Stadt so los ist
dachte er sich, dann betrat er das Pfädchen hinter dem Haus und ging nach links, um zur Vorstadtstraße zu gelangen.
Gerade als Johann in die Straße einbog blickte Susanne Bechter, die im Haus an der Einmündung des Scheuerhofpfädchens in die Vorstadtstraße wohnte, aus ihrem Küchenfenster und sah ihn ums Eck entschwinden.
„Da geht ja der Spitzbub", sagte sie laut, obwohl außer ihr kein anderer im Raum war.
„Was der wohl wieder vorhaben mag? Nun, egal, ich habe genug Hausarbeit, als dass ich mir darüber den Kopf zerbrechen könnte".
Auf der Amtsstube
Ludwig Neubeiser betrat das am Marktplatz gelegene Rathaus. Er steuerte auf die Steintreppe zu, deren 17