Alles wie immer - Die Wahrheit darf keiner wissen: Fast ein Kriminalroman
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Über dieses E-Book
Elisabeth Schinagl
Dr. Elisabeth Schinagl, geb. 1961 in München, studierte Latein und Germanistik in Eichstätt und Regensburg. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für mittellateinische Philologie an der Katholischen Universität Eichstätt und danach Gymnasiallehrerin. Von 2009 bis 2017 war sie als Referentin im Bayerischen Landtag tätig. Seit 2018 ist sie freie Autorin.
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Alles wie immer - Die Wahrheit darf keiner wissen - Elisabeth Schinagl
Dr. Elisabeth Schinagl, geb. 1961 in München, studierte Latein und Germanistik in Eichstätt und Regensburg. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für mittellateinische Philologie an der Katholischen Universität Eichstätt und danach Gymnasiallehrerin. Seit 2009 ist sie als Referentin im Bayerischen Landtag tätig.
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Besuchen Sie Elisabeth Schinagl auf ihrer Homepage unter http://elisabethschinagl.de oder auf Facebook.
Pecorum ritu sequimur antecedentium gregem pergentes non, quo eundum est, sed quo itur.
Wie Schafe folgen wir der Herde, die vor uns dahinzieht, und schlagen nicht die Richtung ein, in die wir gehen sollten, sondern die, in die die Masse geht.
(Nach Seneca, De vita beata)
Inhaltsverzeichnis
Das Lamm und der Wolf
Niemals besser als jetzt
Du musst dein Leben ändern
Never again
Mehr als ein Butterbrot
Allan wia a Stan
. . . triffst du nur das Zauberwort
Vera zum Beispiel
Fräulein Smilla reloaded
Der Fall B.
Nicht Sherlock Holmes
Das Dossier
Der Fall Barschel
Barschels Werdegang
Der Wahlkampf
Barschels Tod
Selbstmord oder Mord?
Mögliche Motive für einen möglichen Mord
Von Brühne zu Barschel
Same time, same place
Was wir nicht wissen wollen
Mister Wonderful
Reflexionen
Someone like you
Alles wie immer
Nachwort
Das Lamm und der Wolf
Ein Lämmchen löschte an einem Bache seinen Durst. Fern von ihm, aber näher der Quelle, tat ein Wolf das gleiche. Kaum erblickte er das Lämmchen, so schrie er:
«Warum trübst du mir das Wasser, das ich trinken will?»
«Wie wäre das möglich», erwiderte schüchtern das Lämmchen, «ich stehe hier unten und du so weit oben; das Wasser fließt ja von dir zu mir; glaube mir, es kam mir nie in den Sinn, dir etwas Böses zu tun!»
«Ei, sieh doch! Du machst es gerade, wie dein Vater vor sechs Monaten; ich erinnere michnoch sehr wohl, dass auch du dabei warst, aber glücklich entkamst, als ich ihm für sein Schmähen das Fell abzog!»
«Ach, Herr!» flehte das zitternde Lämmchen, «ich bin ja erst vier Wochen alt und kannte meinen Vater gar nicht, so lange ist er schon tot; wie soll ich denn für ihn büßen.»
«Du Unverschämter!» so endigt der Wolf mit erheuchelter Wut, indem er die Zähne fletschte. «Tot oder nicht tot, weiß ich doch, dass euer ganzes Geschlecht mich hasset, und dafür muss ich mich rächen.»
Ohne weitere Umstände zu machen, zerriss er das Lämmchen und verschlang es.
Diese Fabel verfasste der griechische Dichter Aesop um 600 v. Chr. An ihrem Wahrheitsgehalt hat sich bis heute nichts geändert.
Niemals besser als jetzt
Der Tag war unerträglich schwül gewesen. So schwül, dass Irma Legemann von ihrem Plan, heute endlich einmal im nahe gelegenen Cosimapark zu walken, wieder Abstand nahm. Wieder einmal. Wieder einmal mussten die wenigen Meter Gehminuten vom Rosenkavalierplatz zu ihrer Wohnanlage als Ausgleichssport genügen. Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach, pflegte Irma sich oft zu trösten. Besorgniserregend nur, wie dieses schwache Fleisch von Jahr zu Jahr immer mehr zunahm . . .
Zum Jahreswechsel hatte sie sich deshalb ganz fest vorgenommen, im neuen Jahr endlich etwas dagegen zu unternehmen, Sport zu treiben, ihr Leben in puncto Fitness und Ernährung endlich umzukrempeln. Bisher war es allerdings beim bloßen Vorsatz geblieben. Erst lag zu viel Schnee, dann waren die Wege abwechselnd vereist oder matschig, der Frühling war nahezu durchgehend verregnet gewesen und dann war es von einem Tag auf den anderen viel zu heiß und zu schwül geworden, um an sportliche Aktivitäten überhaupt nur zu denken. Heute jedenfalls nicht, und auch für den Rest der Woche war laut Wetterbericht keine Abkühlung in Sicht. Kurzzeitig hatte sie noch mit sich gerungen, ob sie nicht wenigsten ein paar Schritte im Denninger Anger machen sollte, der war gleich auf der anderen Straßenseite, wirklich unmittelbar vor ihrer Haustüre. Aber nicht einmal dazu konnte sie sich aufraffen. Die schwülwarme Luft fühlte sich an wie eine Mauer, deren Widerstand sie mit jedem Schritt, mit jeder Bewegung aufs Neue überwinden musste. Das allein war schon Schwerstarbeit, wie Irma fand.
So war wieder einmal der siebenminütige Fußweg von der Stadtbibliothek, wo sie arbeitete, nach Hause die einzige sportliche Betätigung. Immerhin: Die drei Stockwerke zu ihrer Wohnung ging sie zu Fuß. Das war Ehrensache – zumindest wenn sie keine allzu schweren Einkaufstüten zu schleppen hatte. So war inzwischen die erste Jahreshälfte verstrichen und Irma vertagte ihre Vorsätze auf den Herbst, wenn es nicht mehr so heiß sein würde.
Kurz nach neun begann das Gewitter. Der Regen fiel in großen, schweren Tropfen, die bei ihrem Aufprall auf der Wasserfläche, die sich schon nach kurzer Zeit im Innenhof gebildet hatte, Blasen warfen. Es blitzte und donnerte nahezu ununterbrochen. Ein wahres Inferno.
Niemals besser als jetzt, sie hatte den Satz vor kurzem in einem Krimi gelesen und er gefiel ihr. Hier und jetzt war einer dieser seltenen perfekten Momente, ihre blue hour, wie Irma sie nannte. Aus der Stereoanlage tönte Bob Dylan, und sie stand bei Kerzenschein am Fenster, genoss ein Glas Rioja Gran Reserva und erfreute sich am Unwetter draußen.
Niemals besser als jetzt. Diese knapp 50 Quadratmeter, zwei Zimmer, Küche, Bad, Balkon, das war ihr persönliches Reich. Angekommen in München. Von Himmelkron, einem Kaff in der Nähe von Bayreuth, nach Bogenhausen. Ein Glücksfall. Irma war stolz auf sich. Wie so oft in den vergangenen Jahren dachte sie im Stillen und voll Dankbarkeit an die Cousine ihrer Mutter (die sie persönlich kaum gekannt hatte), der sie dieses Glück zumindest indirekt zu verdanken hatte. Diese Cousine, eine kinderlose Witwe, hatte es gemeinsam mit ihrem Mann in den goldenen Zeiten des Wirtschaftswunders mit einem der ersten Supermärkte damals mehr oder weniger aus dem Nichts zu einem beachtlichen Vermögen gebracht. Einen Teil davon hatte sie in ihrem Testament dann Irmas Mutter vermacht, und die wiederum, da das eigene Haus längst abbezahlt war und weder sie noch ihr Mann besondere Ansprüche hatten, hatte den größten Teil davon noch zu ihren Lebzeiten Irma vermacht, der einzigen Tochter. Wahrscheinlich hegte sie die heimliche Hoffnung, Irma könnte es sich mit ihrer dauerhaften Übersiedlung nach München noch einmal überlegen und sich wenigstens in Bayreuth oder der näheren Umgebung häuslich niederlassen – häuslich im wahrsten Sinne des Wortes, denn für ihre Eltern war es nahezu undenkbar, in einer Wohnung und nicht im eigenen Einfamilienhaus zu wohnen. Aber Irma hatte es nach längerem hin und her Überlegen schließlich gewagt, sich den Traum einer eigenen Wohnung in München zu erfüllen. Was sollte sie als alleinstehende Frau, damals bereits Anfang 40, auch in Bayreuth?
Der Kauf war ein Glücksfall. Angesichts der rasant steigenden Immobilienpreise hätte sie sich ihre Wohnung nur ein paar Jahre später schon nicht mehr leisten können, wahrscheinlich nicht einmal mehr zur Miete. Und wer weiß, vielleicht wäre sie auf diese Weise schließlich doch noch gezwungen gewesen, sich anderswo um eine Stelle umzutun, wenn sie nicht im letzten Mauseloch hausen wollte.
Der Münchner Stadtteil Bogenhausen erschien ihr damals und auch jetzt noch aus mehreren Gründen ideal. Nicht nur, weil sie seit gut acht Jahren in der örtlichen Stadtbibliothek tätig war. Die Gegend rund um den Rosenkavalierplatz besaß in ihren Augen eine einmalige Mischung zwischen mondänem, international angehauchtem Leben und den überschaubaren Strukturen einer Kleinstadt; vor allem im Sommer, wenn das Viertel von arabischen Touristen bevölkert war. Irma konnte Stunden damit zubringen, bei einer Weißweinschorle in Wiener’s Café sitzend dem Treiben auf dem Platz zuzusehen. Die meist schwarz verhüllten Araberinnen erschienen ihr wie rätselhafte Vögel von exotischer Schönheit, die mit der Regelmäßigkeit von Zugvögeln hier eintrafen. Die Kinderschar betreut von Nannys malayischer Herkunft saßen sie auf den Bänken und unterhielten sich in ihrer gutturalen Sprache.
In den Sommermonaten sah Irma auch regelmäßig einen Mann, den sie den Bettlerkönig nannte. Ein dicker Mensch im Anzug, einem viel zu kleinen Hut auf dem massigen Kopf und mit fleischigen, beringten Fingern saß, nein, thronte er auf einer der Bänke, stets begleitet von einem oder zwei jüngeren Männern, die ihn ehrerbietig behandelten. Mochte der Mann im echten Leben Zahnarzt, Manager oder Ladenbesitzer sein – für Irma war er der Bettlerkönig, direkt einem Roman entsprungen, den sie einmal gelesen hatte. Darin war der König der Bettler Chef einer organisierten Bande von Bettlern in Istanbul, von wo aus sie zielgerichtet in westeuropäische Städte geschleust wurden, darauf abgerichtet, die systematisch erbettelten Tageseinkünfte Abend für Abend bei ihrem Chef abzuliefern. Ein streng organisiertes Geschäft mit dem Mitleid.
Seit Irma hier wohnte, war sie nicht einmal mehr in einen längeren Urlaub gefahren. Das Geld konnte sie sich sparen, kam doch die Welt zu ihr auf diesen Platz. Neben den Fremden gab es aber im Verlauf der Zeit auch immer mehr vertraute Gesichter, ältere Damen mit kleinen Hunden, Mütter mit ihren Kindern, Männer und Frauen, die in den umliegenden Büros irgendeiner Tätigkeit nachgingen, der eine oder andere Nachbar. Mit Ausnahme der Nachbarn, bei denen sie zumindest bei einigen einem Gesicht auch einen Namen zuordnen konnte, kannte sie keinen der anderen Menschennamentlich oder gar persönlich, aber die bekannten Gesichter vermittelten ihr ein Gefühl von Vertrautheit. Das genügte.
Das Gewitter draußen erreichte allmählich seinen Höhepunkt. Sie liebte diese Stimmung. Die Bäume schwankten bedrohlich, es blitzte und krachte. Irma stand in ihrem bequemen Hausanzug am Fenster, Dylan sang gerade Knocking on heaven’s door und sie hatte sich zur Feier des Tages noch ein zweites Glas vom schweren Rioja gegönnt, als sie plötzlich zusammenzuckte. Sie meinte, einen Schatten gesehen zu haben. War da gerade ein schwerer Ast vor ihrem Fenster herabgestürzt? Einen Aufprall hörte sie jedoch nicht, weil es in diesem Moment gerade heftig donnerte.
Wenige Minuten später ging das Gewitter in gleichmäßig rauschenden Regen über. Irma öffnete ihre Balkontür und sog einige Momente lang die frische Luft ein. Eins mit sich und der Welt ging sie schließlich nach Sara, ihrem absoluten Lieblingssong, kurz nach elf glücklich ins Bett, lauschte noch kurz dem Geräusch des Regens und glitt unmerklich in einen ruhigen, tiefen Schlaf über.
Der Regen der vergangenen Nacht hatte endlich die ersehnte Abkühlung gebracht und es gelang Irma am nächsten Tag, einem Freitag, tatsächlich, ihren inneren Schweinehund zu überwinden und eine Stunde zu walken. Immerhin. Im guten Gefühl, etwas für ihre Gesundheit getan zu haben, verzichtete sie sogar auf das gewohnte Glas Wein und beschränkte sich an diesem Abend auf Mineralwasser. Ihr Ehrgeiz hielt noch für das gesamte Wochenende. Auch an den beiden nächsten Tagen nutzte sie das gute Wetter, um sich endlich einmal ernsthaft zu bewegen. Am Montag ließ ihr Eifer allerdings schon wieder nach. Sie war nach der Arbeit einfach zu müde.
Als sie am Dienstagabend wieder einmal ihren Briefkasten leerte (sie schaute nicht alle Tage hinein, denn es war ohnehin außer Werbung, die sie nicht interessierte, meist nichts drinnen), fand sie eine standardisierte Benachrichtigung vor, sie möge sich mit einem Polizeiobermeister Denzinger von der Kripo unter der angegebenen Nummer in Verbindung setzen. Mit Ausnahme einer Verkehrskontrolle zu der Zeit, als sie noch ein Auto besessen hatte, hatte Irma noch nie mit der Polizei, geschweige denn mit der Kripo zu tun gehabt und sie konnte sich auch jetzt keinen Anlass vorstellen. Halb neugierig, halb verunsichert und mit einem schlechten Gewissen, weil die undatierte Mitteilung vielleicht schon länger in ihrem Briefkasten gelegen hatte, wählte sie die angegebene Nummer, aber es meldete sich niemand. Als sie es eine Viertelstunde später noch einmal versuchte, erklärte ihr der diensthabende Beamte, sein Kollege Denzinger sei bereits im Feierabend und erst morgen wieder an seinem Platz. Warum Denzinger sie sprechen wollte, konnte er ihr nicht sagen, sie solle es morgen noch einmal probieren. Als sie es Tags darauf noch einmal versuchte, erklärte man ihr, der Herr Denzinger sei im Moment zu Tisch, sie könne ihn aber heute bis 17:00 Uhr erreichen. Ganz offensichtlich hatten die echten Kriminalbeamten im Gegensatz zu denen im Fernsehen neben ihrer beruflichen Tätigkeit auch noch ein Privatleben und mehr oder weniger geregelte Mahlzeiten.
Am Nachmittag erreichte sie ihn dann schließlich doch. Sie habe seine Nachricht vorgefunden, sie solle sich bei ihm melden. Worum es ginge? Auf diese Frage wusste Denzinger nun auf Anhieb auch keine Antwort. Offensichtlich hatte er, ebenfalls im Unterschied zu den Tatort-Kommissaren, mehrere Fälle gleichzeitig zu bearbeiten und war nicht bei jedem gleichermaßen im Bilde.
«Tut mir leid, Frau Legemann, aber im Moment weiß ich nicht . ..wie lautet denn Ihre Adresse? Ah, Daphnestraße – der Selbstmord. Ja, Frau Legemann, da handelt es sich um eine reine Routinebefragung. Der Bewohner der Wohnung über Ihnen, Harald Gutjahn, ist nach unseren bisherigen Erkenntnissen in der Nacht vom 28. auf den 29.6. von der Bedachung über Ihrem Balkon gesprungen. Haben Sie davon etwas bemerkt? Haben Sie etwas gehört oder gesehen?»
Das hatte Irma nicht. Denzinger hatte offensichtlich auch nicht ernsthaft damit gerechnet.
«Das dachte ich mir schon fast, in der Nacht hat es ja heftig gewittert. Von Ihren Nachbarn, sofern sie überhaupt zu Hause waren, hat auch keiner was bemerkt. Eine Frage noch, Frau Legemann, war in der fraglichen Zeit vielleicht außer Ihnen noch jemand in Ihrer Wohnung, den wir befragen sollten?» Irma verneinte. «Ja, dann danke ich Ihnen, dass Sie sich bei uns gemeldet haben, schönen Tag noch, Frau Legemann.»
Es dauerte einige Stunden, bis die Nachricht tatsächlich in Irmas Bewusstsein gesickert war. Nahezu vor ihren Augen hatte sich ein Mensch umgebracht. War von seiner Wohnung auf das Dach ihres Balkons geklettert, um sich in den Tod zu stürzen, während sie im selben Moment behaglich in ihrem Wohnzimmer saß, Musik hörte und Wein trank. Was genau hatte sie wohl in diesem Moment getan? Sie versuchte, sich den Abend in allen Einzelheiten ins Gedächtnis zu rufen.
Plötzlich fiel ihr der vermeintliche