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Der späte Besucher
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eBook260 Seiten4 Stunden

Der späte Besucher

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Über dieses E-Book

Es ist schon spät, als es an Türe der Coaching-Praxis läutet. Draußen steht ein Mann und bittet um Einlass. So beginnt eine ungewöhnliche Geschichte über das Suchen und Versuchen, das Verlieren und Wiederfinden, über die Liebe, Vergänglichkeit und Quantenphysik. Sie erzählt vom Leben, vom Sterben und einer Reise zu sich selbst, die Albert, den neurotischen Romanhelden, von Düsseldorf über Lissabon an die Ostalgarve zu den Menschen im "gelben Café" führt. Auf seinen langen Spaziergängen durch das herbstkalte Düsseldorf verschwimmen dabei die Grenzen zwischen Fantasie und Wirklichkeit. Erinnerungen an seine Kindheit und deren traumatisierende Erlebnisse mischen sich mit denen seiner Jugend in Düsseldorf, wo er in den Kneipen der Ratinger Straße zwischen Punks und Künstlern mit seinem ersten Ausbruchsversuch scheiterte. In dem kleinen Städtchen Tavira an der Ostalgarve beginnt er, zu sich selbst zu finden. Dort trifft er im "Gelben Café" Menschen, durch die er erfährt, was es heißt, sich selbst anzunehmen. Sie lehren ihn auf ganz unterschiedliche Weise, hinter die Wand seiner eigenen Fassade zu schauen und diese gleichzeitig als notwendiges Schutzschild anzuerkennen. Dabei macht er teils schmerzhafte Erfahrungen, die ihm helfen, von seinem Weg aus Angst und Hoffnungslosigkeit in ein neues Leben der Selbstachtung zu finden.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum16. Dez. 2017
ISBN9783742759900
Der späte Besucher
Autor

Wolfgang Brylla

Dr. Wolfgang Brylla ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Zielona Góra, Polen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kriminal- und Stadtliteratur sowie Raumtheorie.

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    Buchvorschau

    Der späte Besucher - Wolfgang Brylla

    Prolog

    An einem nebelverhangenen Novemberabend stand er an der Eingangstüre des Hauses, in dessen Erdgeschoss meine Praxis liegt. Die Türglocke hatte mich aus meinen Gedanken aufschrecken lassen, in denen ich den Tag ausklingen ließ, denn ich erwartete niemanden mehr. Im gelblichen Licht der Außenbeleuchtung sah ich ihn vor der Türe stehen. Seinen Mantelkragen hatte er hochgeschlagen, so dass ich nur den oberen Teil des Gesichtes wahrnehmen konnte. Ohne zu überlegen, ob ich drücken sollte, betätigte ich den Türöffner. Warum, das kann ich bis heute nicht sagen. Ich weiß nur, dass es richtig war.

    Als er den Flur zu meiner Praxis betreten hatte, meinte ich, den Mann wiederzuerkennen, ohne sein Gesicht zuordnen zu können. Aus strahlenden blauen Augen sah er mir offen ins Gesicht und sagte: „Danke, dass Sie mich hereinlassen. Draußen ist wirklich ein Sauwetter." Er machte eine Pause, als ich ihn mit einer Handbewegung einlud, einzutreten. Im Wartezimmer bot ich ihm an, seinen Mantel aufzuhängen und mir in meinen Coachingraum zu folgen. Auf dem Schreibtisch stand ein Glas Rotwein, welches ich mir zum Feierabend eingeschenkt hatte. Mit einem Lächeln nahm er es zur Kenntnis. Ich fragte ihn, ob er auch ein Glas trinken wolle, was er dankbar annahm. Ich kannte den Fremden nicht und lud ihn zu einem Glas meines besten Weines ein. Mir wurde vor mir selbst unheimlich. Wo sollte der Abend noch enden.

    So hoben wir unsere Gläser, tranken einen Schluck und er begann mit einer ruhigen, tiefen Stimme zu mir zu sprechen: „Sie werden mich nicht mehr kennen und doch haben Sie etwas Großes für mich getan. Er machte eine Pause, als er meinen fragenden Blick bemerkte, und fuhr fort. „Sie haben mich vor langer Zeit einmal, als ich Sie hilfesuchend um ein Coaching gebeten hatte, zurückgewiesen. Nein, nicht zurückgewiesen in dem Sinne, dass Sie mir nicht helfen wollten, berichtigte er sich schnell, als er mein Unverständnis bemerkte. „Sie hatten mein Anliegen, mir zu sagen, was ich tun sollte, zurückgewiesen und mir klargemacht, dass ich das nur selber herausfinden könne. Sie würden mir nur helfen, meine eigenen Möglichkeiten zu finden. Damals war mir das Zuwenig. Ich verließ wütend Ihre Praxis, aber Ihre Worte hingen mir noch lange nach. Und dann habe ich getan, was Sie mir damals geraten hatten. Ich habe selbst herausgefunden, was mir hilft. Es war nicht leicht, doch jetzt bin ich so weit, dass ich weiß, wohin ich gehöre und wohin ich gehen werde. Ich war auf dem Weg, noch einmal alles Alte aufzusuchen und mich von dem Vergangenen zu verabschieden. So kam ich an Ihrem Hause vorbei. Als ich sah, dass noch Licht brannte, habe ich geschellt, ohne nachzudenken. Und jetzt sitze ich hier und verspüre das Verlangen, Ihnen zu berichten, was seitdem geschehen ist. Ist das nicht seltsam?" Da konnte ich ihm nur zustimmen. Ich fand die ganze Situation äußerst seltsam aber auch irgendwie stimmig.

    Vielleicht aus Verlegenheit hatte jeder von uns sein Glas viel zu schnell geleert. Ich war neugierig geworden und sagte es ihm. Nachdem ich unsere Gläser wieder gefüllt hatte, begann er zu erzählen. So saßen wir den ganzen Abend in den bequemen Sesseln, in denen ich sonst mit meinen Klienten an den Lösungen ihrer Probleme arbeitete, beisammen. Diesmal war ich nicht der Coach, sondern wurde immer mehr zum Schüler, der fasziniert den Lehren des Meisters lauscht. Dabei tranken wir Rotwein, bis die Flasche leer war und ich eine neue aus dem Keller holte.

    Zu Beginn vertraute er mir an, dass er sicher sei, ohne seinen Besuch bei mir vor langer Zeit nicht zu dem geworden zu sein, der er nun war. Dann begann er, die ersten Schritte zu beschreiben, die ihn immer weiter ins Nichts zu führen schienen, ohne dass er zu diesem Zeitpunkt ahnte, dass sie ihn in eine neue Welt leiten würden und in ein Land, in das er nun für immer reisen würde.

    Seit dieser Begegnung sind viele Tage ins Land gegangen und das neue Jahr hat begonnen. Endlich habe ich meinen Mut zusammengenommenen, um das aufzuschreiben, was ich in Erinnerung behalten habe. Mut deshalb, weil ich, schon während er bei mir saß, spürte, dass diese Geschichte allzu leicht meine eigene werden könnte.

    So sitze ich hier, versuche, mich zu erinnern und schreibe, was mir mein Inneres preisgibt. Es ist die Geschichte von Albert, und es ist auch meine, denn zwischen dem, was er berichtete und dem, was jetzt zu Papier kommt, liegt die Erinnerung und die Fantasie meiner Gedanken.

    Teil 1

    Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,

    die sich über die Dinge ziehn.

    Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,

    aber versuchen will ich ihn.

    Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,

    und ich kreise Jahrtausende lang;

    und ich weiß noch nicht:

    bin ich ein Falke, ein Sturm

    oder ein großer Gesang.

    Rainer Maria Rilke

    Kapitel 1

    "Auch die beunruhigendste Gegenwart

    wird bald Vergangenheit sein.

    Das ist immerhin tröstlich."

    Thornton Wilder

    Es war kalt geworden in der Stadt. Ein Tiefdruckgebiet verteilte dunkelgraue Wolken über den aschfarbenen Himmel. Schwarze Krähen saßen und spähten von blattlosen Ästen, ob irgendwo eine Beute zu ergattern sei. Ein Mann ging mit schleppenden Schritten, sich im hochgeschlagenen Mantelkragen verkriechend, durch den Volksgarten, der bei diesem Wetter wie ausgestorben war. Die Wiesen, auf denen im Sommer leicht bekleidete Menschen die Sonnenstrahlen genossen, waren bedeckt von einer gräulichen Patina aus Nebel und Sprühregen.

    „Das ist genau die richtige Umgebung für mich, dachte der Mann. Mühsam und mit außergewöhnlicher Langsamkeit setzte er Fuß vor Fuß, so als würde kein kalter Wind in sein Gesicht fegen. Er schien die Kälte nicht einmal zu bemerken, so sehr war er in seine Gedanken vertieft. Der Mann hieß Albert Lang und wusste in diesem Moment nicht, was er hier tat. Wie ein schwebender Roboter lief er über die matschigen Wege. Erst die helle Leuchtreklame eines Kiosks am Ende des Parks riss ihn aus seinen Gedanken. Langsam näherte er sich der Bude, die einsam in dieser verlassenen Gegend ihre Existenzberechtigung durch ein Geöffnet-Schild" verteidigte. Der Verkäufer, ein kleiner Mann mit dunklen Haaren, lächelte mit anerzogener Unpersönlichkeit, als Albert eine Flasche Altbier bestellte. Wieselflink glitt er zum Bierkasten, holte eine Flasche Gatz heraus und stellte diese auf die schmale Theke. Albert nickte dankend, zahlte und wandte sich wieder dem immer dunkler werdenden Park zu. Im Gehen öffnete er mit seinem Feuerzeug die Flasche und trank. Er brauchte nur wenige Schlucke, um sie zu leeren. Sein Blick war dumpf auf den dunklen Weg gerichtet. Die entspannende Wirkung des Bieres tat ihm gut. Jetzt nahm er sich wieder wahr. Was war los mit ihm? Am Vormittag hatte er eine Auszeichnung für einen außergewöhnlichen Entwurf erhalten. Die Kollegen hatten ihm gratuliert. Einen Moment lang war er sogar stolz gewesen. Doch dann war sie wieder da gewesen, die Gleichgültigkeit, die ihn seit Tagen und Wochen beherrschte. Wenn er genau überlegte, kannte er dieses Gefühl, seit er auf dieser Welt war. Manchmal erschien es ihm als Angst, dann als Wut oder wie heute als Gleichgültigkeit. Immer hatte es seinen Ausgangspunkt im Magen, als Kloß, als Faust oder als Feuer. Im Beruf hatte er mehr oder weniger großen Erfolg. Auch bei den Frauen kam er gut an, wenn seine Beziehungen auch selten länger als ein paar Monate anhielten. Sogar die eine oder andere große Liebe war dabei gewesen, aber auch die waren schnell vorübergegangen, wie alles, was er erlebte.

    Albert bemerkte, dass er eine leere Flasche in seinen Händen hielt, und ging zurück zum Kiosk, an dem der Besitzer gerade hektisch damit beschäftigt war, die Bude im stürmischen Regen von außen mit hölzernen Verschlägen zu verriegeln. Albert überredete ihn, noch einmal in sein Häuschen zu gehen und ihm vorsorglich zwei Flaschen Bier und ein Päckchen Jägermeister, in dem drei Minifläschchen steckten, zu verkaufen. Der Verkäufer bedankte sich wieder höflich im asiatischen Stil. Kopfschüttelnd sah er dem Mann nach, dem der Regen nichts auszumachen schien.

    Albert schleppte sich zurück in den inzwischen finsteren Park, bis er zu einem Unterstand kam, wo zwei Tische mit im Boden verankerten Sitzgelegenheiten standen, an denen tagsüber alte Männer Karten spielten oder Penner ihren billigen Tetrapack-Rotwein tranken. Er hatte nicht vor, in diesem Zwischenzustand in seine teure Singlewohnung zurückzugehen. Entweder er kehrte gar nicht mehr zurück oder voll betrunken. Niemand erwartete ihn dort. Diese Wohnung hätte eine fünfköpfige Familie bequem aufnehmen können. Sie war Luxus pur oder die Vergeltung für seine Kindheit, wo er ohne eigenes Zimmer aufwachsen musste.

    Völlig durchnässt und betrunken war es Albert gelungen, bis zum Rhein zu kommen, ohne zu wissen, wie er dort hingelangt war. Er hatte das Bier und den Schnaps vertilgt und fragte sich nun, was er hier suchte. „Freiheit?, dachte er. War es das Gefühl von Freiheit, welches ihm der alte Fluss immer wieder bescherte. Am Rhein hatte er schon als verletzter Jugendlicher gesessen und Gedichte geschrieben. Damals hatte er versucht, seine Ängste und Sehnsüchte in Gedichten auszudrücken, wie es viele junge Menschen tun. „Machen die das heute auch noch, bei dem ganzen Hype um Twitter und Facebook, fragte er sich?

    Dieser Strom floss durch diese Stadt und das gab ihm immer wieder Kraft. Es war seine Stadt Düsseldorf, in die Eltern als Flüchtlinge gekommen waren und die sie nie als ihre neue Heimat anerkannt hatten. Doch er war hier geboren und er war stolz auf seine Heimatstadt. Es war eine der wenigen Dinge in seinem Leben, welche ihn glücklich und zufrieden machten. Im Widerspruch dazu träumte er ständig, woanders hinzugehen. Er hatte es schon oft versucht, doch nach einer Reihe von Lebensversuchen an anderen Orten war er immer wieder hierhin zurückgekehrt.

    Am Fluss hatte er sich auf einem großen Stein niedergelassen und in das träge dahin fließende Wasser gestarrt. Was war nur so verkehrt in seinem Leben gelaufen, dass er hier saß, mit zwei Flaschen Bier und drei Jägermeistern im Bauch? Warum konnte er sich nicht mehr freuen? Was sollten diese Magenschmerzen, die ihn seit der Kindheit quälten und immer schlimmer wurden? Auch die schlaflosen Nächte nahmen zu. An seiner Arbeitsstätte, einem renommierten Architekturbüro, hatten sie es noch nicht bemerkt. Zumindest glaubte er das. Wenn er es recht bedachte, schauten die Kollegen zunehmend seltsam, wenn er mit ihnen beim Kaffee saß. Aber das war sicherlich nur Einbildung, na klar! Oder doch nicht? Konnte es ihnen verborgen bleiben, wie schlecht er sich oft fühlte?

    Irgendwann hatte ihn eine der Frauen verlassen, die er wirklich zu lieben geglaubt hatte. Sie war nicht im Streit gegangen oder weil sie einen anderen hatte. Er war ihr einfach mit seiner Art zu viel geworden. „Ich muss an mich denken. Deshalb gehe ich. Du bist ein netter Kerl, aber mit dir zusammen werde ich verrückt. Das oder etwas Ähnliches hatte sie gesagt und hinzugefügt: „Wenn ich du wäre, dann würde ich mir einen guten Therapeuten suchen. Ich meine das ehrlich, weil ich dich mag. Und weil es nie zu spät ist. Auch bei dir.

    Nach der ersten aus verletztem Stolz geborenen Wut und dem Schmerz des Verlassenwerdens hatte er sich nach professioneller Hilfe umgeschaut. Hoffnungsvoll und skeptisch zugleich hatte er fremden Menschen die Erlaubnis gegeben, in seiner Psyche und seiner Kindheit herumzustochern, auf der Suche nach Gründen für die Verzweiflung und die Angst, die ihn quälten. Aber keiner dieser Fachleute hatte ihn mit seinen Therapieversuchen wirklich weitergebracht. Es hatte auch gute Momente gegeben, auch Erfolge, wie sie vor allem von den Therapeuten empfunden wurden. Doch nur selten war das auch sein Eindruck. In erster Linie waren es Gerede, Ratschläge und in der Umsetzung erfolglose Anstrengungen. Immer wieder fiel er zurück in dieses unendlich tiefe, dunkle Loch aus Angst, Hilflosigkeit und Wut. Einmal war da ein sogenannter Coach gewesen, der hatte keine Ratschläge geben wollen. Er hatte behauptet, dass er seine Probleme selber lösen könne, dass alle Möglichkeiten in ihm lägen und er, der Coach, würde ihn dabei unterstützen, diese nutzbar zu machen. Das hatte ihn überrascht und mit Hoffnung erfüllt. „Alles liegt in mir", hatte er sich ungläubig gefragt? Damals hatte er noch nicht gewusst, wie recht er damit hatte. Auch diesen Coach suchte er nicht wieder auf.

    Während er der dunklen Strömung nachschaute, erinnerte er sich an ein Gedicht, welches er als Jugendlicher geschrieben hatte und in dem all seine Verzweiflung zum Ausdruck kam. Ganz deutlich blickte er in seiner Erinnerung zurück. Er sah, wie er am großen Fluss saß, das Heft auf seinen Knien, den Kummer im Herzen und die sehnsuchtsvolle Verzweiflung in seinem Blick. Er war noch jung, voller Lebensdrang und gleichzeitig hoffnungslos.  

    Er sah, wie der Junge aufstand und mit von Tränen gefluteten Augen zum Wasser ging. Da, wo die kleinen Wellen auf den Kies spülten, blieb er stehen. Ein kurzer Gedanke, ob er weiter gehen sollte. Doch dazu war er noch nicht bereit, dafür fehlte ihm der letzte Tropfen Verzweiflung. Noch war das Fass nicht voll und die Hoffnung auf Leben war noch zu groß.

    Albert stand auf. Seine Beine breit auseinander gestellt, fühlte er den Kies unter den Sohlen und lauschte diesem so typischen Klang der Wellen, die wie im Spiel versunken ans Ufer rollten, um sich dort aufzulösen und den nachfolgenden Platz zu machen. Es hatte aufgehört, zu regnen und auch der Wind war abgeflaut. Albert atmete tief ein. Das tat ihm gut. Frische kalte Luft strömte durch die Nasenflügel und erwärmte sich in seinen Bronchien. Leben, dachte er, ja das war immer sein Ziel gewesen. Und Freiheit, aber das war für ihn irgendwie dasselbe. Warum war das für ihn so wichtig? Welche Kraft ließ ihn dieses wunderbare Gefühl immer und immer wieder verlieren, so als wäre es gar nicht seines und als müsste er es immer wieder zurückerobern? „Ist es meine Lebensaufgabe, hinter diesem Gefühl herzulaufen?", fragte er sich.

    Schließlich, weit nach Mitternacht, hatte er doch in seine Wohnung zurückgefunden. Es gelang ihm trotz seiner Trunkenheit noch, sich der nassen Kleidungsstücke zu entledigen und in sein Bett fallen zu lassen. Sofort schlief er ein und durchlebte wieder eine jener angsterfüllten Nächte voller wütender Träume.

    Es war Mittag, als er mit Kopf- und Nackenschmerzen erwachte. Glücklicherweise hatte er keine Termine für den heutigen Tag und nach dem gestrigen Erfolg würde es ihm niemand verübeln, wenn er nicht an seinem Arbeitsplatz erschien. Das war der Vorteil des Erfolgreichen, dachte er. Man muss nicht so viel buckeln, wenn man erkannt hat, was man wert ist. Doch der Antreiber in ihm ließ das nicht so stehen. „So geht das nicht, vernahm er die Warnung. „Du bist schneller weg vom Fenster, als du glaubst. Außerdem, was denken die anderen?

    Da war es wieder. „Was denken die anderen? Wenn er so richtig Druck in sich verspüren wollte, musste er nur diesen Gedanken denken. „Was sagen sie über mich? Albert spürte erneut die Kotze in sich aufsteigen, bemühte sich jedoch, dem nicht nachzugeben, da ihm der Hals noch von der Nacht her schmerzte. Zuverlässig halfen bei solchen Gedanken und gegen den anschließenden Druck ein, zwei Biere. Seltsamerweise erinnerte er sich jetzt an den Park, in dem er gestern Abend das erste Bier getrunken hatte. Sein Aufenthalt am Fluss kam ebenfalls in sein Gedächtnis. Es war fast wie früher gewesen, als er noch ein junger Mann war und ein Hoffnungsstrahl aus der Tiefe seiner verzweifelten Stimmung sagte ihm: „Du musst etwas ändern! Er konnte die Stimme förmlich spüren. Wer sprach da zu ihm. „Das bist du selbst, hörte er sich sagen. „O.k., du Schlaumeier, dann weißt du sicher auch, wie ich das machen soll, und wozu das gut sein soll. Schließlich versuche ich das schon mein ganzes Leben. Selbst die Fachleute, die gelernt haben, solche Probleme zu lösen, haben bei mir aufgegeben. „Ich glaube, du kokettierst mit deinem Elend, hörte er die Stimme in sich sagen. „Jetzt ist der Moment gekommen, einen neuen Versuch zu starten. Vertraue dem, was kommt."

    Müdigkeit kehrte zurück und ließ ihn erneut in einen kurzen Schlaf fallen. Als er wieder erwachte, erinnerte er sich nicht mehr an den Dialog mit sich selbst. Aber er fühlte sich besser. Er duschte und frühstückte, indem er eine Tasse Kaffee trank, denn nach etwas Essbarem war ihm noch nicht zumute, und setzte sich an den Computer, um seine Mails abzurufen.

    Neben dem üblichen Müll fand er einige geschäftliche Mitteilungen und die Einladung zu einem Seminar, welches im Titel die Aussicht auf ein erfülltes Leben ankündigte. Zwar war auch das Werbung, aber aus Gründen, die er nicht verstand, öffnete er die Mail. Die Einladung sprach ihn an, und ehe er lange über Vor- und Nachteile nachgedacht hatte, so wie es seine Art war, und ohne eine oder mehrere Nächte darüber geschlafen zu haben, wie er es sonst getan hätte und was ihn schon oft vor falschen Entscheidungen bewahrt hatte, noch öfter aber seine Chancen verpassen ließ, hatte er sich online zu diesem Seminar angemeldet. Es sollte in der Woche Ende des Jahres in Bayern stattfinden.

    Völlig verwundert betrachtete er wenige Minuten später die Onlinebestätigung in seiner Mailbox. Jetzt weiß ich, was ich zwischen Weihnachten und Neujahr tun werde, dachte er belustigt. Was ihn jedoch irritierte, war, dass er sich zu einem Seminar angemeldet hatte, welches in mehr als einem Punkt nicht in seine vom Bewusstsein dominierte Welt zu passen schien. In der Beschreibung war die Rede von persönlicher Entwicklung und Wachstum, von Meditation und spirituellen Erkenntnissen sowie gemeinsamen Gesängen. Es rief ein Gefühl von Verunsicherung in ihm hervor, aber gleichzeitig auch die Erinnerung daran, wie er sich gefühlt hatte, als er in jungen Jahren fremde Länder bereist hatte, ohne Planung aufs Geratewohl, und ohne vorher zu wissen, was ihn dort erwarten würde. Wenn er damals Lust verspürte, zu reisen, hatte er ein Flugticket gekauft, war in den Flieger gestiegen, ohne Plan, aber voll neugieriger Erwartung auf das, was er erleben würde. So ähnlich fühlte er sich nun, als er auf das wartete, was bei diesem Seminar auf ihn zukommen würde. Es waren noch sechs Wochen bis dahin. Im Architekturbüro würde sich die Arbeit anhäufen, die Vorbereitungen zu Ideenwettbewerben standen an, Ausschreibungen waren fertigzustellen und Abrechnungen zu prüfen. So würde er schon bald nicht mehr an das Seminar und die Buchung denken.

    Heute jedoch saß er in der stilgerecht eingerichteten Wohnung im Dachgeschoss eines renovierten Altbaus mit dem Blick über die Dachlandschaft seines Viertels bis hin zum Fernsehturm am Rhein. Endlich verspürte er wieder einmal so etwas wie Zufriedenheit und Tatendrang. Doch die Freude währte nicht lange, denn schon bald überfielen ihn Gedanken, die ihn zwangen, an all das zu denken, was noch zu erledigen sei. Sie drängten sich ihm auf, ohne dass er sie gerufen hätte oder er sich gegen sie wehren konnte. Die einzige Möglichkeit, dem Druck zu entkommen, war, eine Flasche Bier zu öffnen und zu trinken. Eigentlich war es noch zu früh dafür, aber für diesen Zweck hatten die Deutschen ja das Wörtchen „eigentlich" erfunden. Damit zeigte man, dass man zwar wusste, was besser wäre, um dann mit gutem Gewissen das Schlechtere tun zu können.

    Nach zwei Flaschen Gatz war er ruhig und leicht benommen. So stieg er die Treppen hinab und ging auf die Straße hinaus. Er fühlte den Drang, sich zu bewegen. Draußen begann es bereits zu dämmern. Seine Füße trugen ihn wie immer in die Innenstadt.

    Er ging durch die Wohnstraßen des Viertels, an alten Häuserfronten vorbei, bis er auf die Friedrichstraße kam. Hier war ihm entschieden zu viel Volk unterwegs. Autos hupten im Stau, der schon jetzt den Verkehr nahezu lahmlegte. Bald würde die Rushhour einsetzen. Eine Straßenbahn klingelte unaufhörlich, als würde ihr das helfen, voranzukommen. Zum Glück war auch für diese Strecke eine U-Bahn geplant, dessen Bau im nächsten Jahr beginnen sollte. Das wusste er aus gut unterrichteten Kreisen. Schließlich war er ja vom Fach.

    Schnell überquerte er die verstopfte Straße und schon nach wenigen Metern befand er sich am Eingang eines kleinen Parks, in dessen Mitte ein Weiher, der Schwanenspiegel, im Dämmerlicht glänzte. Die biegsamen Äste der Trauerweiden schwangen über dem Wasser, auf dem sich Enten quakend treiben ließen und Möwen hoch über ihnen schreiend ihre Runden drehten. Von den um den Park führenden Straßen drangen die roten Rücklichter langsam rollender Autos durch die kahlen Zweige der Büsche. Bald würde die Beleuchtung des alten Ständehauses eingeschaltet, welches bis 1988 Sitz des Landtages war. Imposant thronte das wilhelminische Bauwerk am Rande des Teichs. Heute befand sich dort das „K21", die Dependance der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen mit Ausstellungen zur zeitgenössischen Kunst. Nicht weit

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