Der alte Mann und sein inneres Kind: Das Leben wirklich leben
Von Uwe Böschemeyer
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Buchvorschau
Der alte Mann und sein inneres Kind - Uwe Böschemeyer
Kind.
Der Junge am Meer
Es ist der erste Tag in den Ferien. Henry sitzt auf dem Balkon seines Hotels und schaut aufs Meer. Fünf Wochen Urlaub liegen vor ihm. Seit zwanzig Jahren verbringt er seine Ferien hier in diesem Hotel. Allein. Seine Frau ist vor zwanzig Jahren verstorben. Er ist vor Kurzem siebzig geworden. Man hat ihn gefeiert. Einige Gäste haben ihn seit Jahren nicht mehr gesehen und über sein »jugendliches« Aussehen gestaunt. Zum Nachdenken ist er bislang nicht gekommen. Dabei hat er sich fest vorgenommen, nach dem Fest noch einmal sein ganzes Leben an sich vorbeiziehen zu lassen. An diesem Morgen jedoch findet er nicht die Ruhe, die er sich dafür gewünscht hat.
Nicht dass es im Hotel zu laut wäre – es ist unruhig in ihm.
Von seinem Balkon aus sieht er aufs Meer. Graue Wolken ziehen über den Himmel, als wären sie vor etwas auf der Flucht. Dann wieder brechen sich ein paar Sonnenstrahlen Bahn, aber nur für kurze Augenblicke. Das Meer ist etwas unruhig. In der Ferne schlagen die Wellen ans Ufer, sie sind nur leise zu vernehmen. Kein Mensch ist zu sehen. Keine Möwe kreischt. Henry fühlt sich ein wenig melancholisch, obwohl er, wie er meint, keinerlei Anlass dazu hat. Wie schön war sein Geburtstag gewesen! Die Gäste waren bester Laune. Viele Freundlichkeiten waren ihm entgegengebracht worden. Er fühlte sich jung. Er lachte viel. Auch die Jungen suchten das Gespräch mit ihm. Schön war es, rundum schön.
Er schließt die Augen und überlässt sich seinen Erinnerungen an den festlichen Tag. Vor seinem inneren Auge sieht er die Gäste wieder, so nah, als ob die Zeit stehen geblieben wäre. Nein, Melancholie will er heute keinesfalls aufkommen lassen, das wäre diesem Festtag, überhaupt dem Leben gegenüber nicht angemessen.
Henry war ein erfolgreicher Geschäftsmann, konnte seine Firma vor fünf Jahren seinen tüchtigen Söhnen Andreas und Ingo überlassen. An seinen vier Enkeln hatte er viel Freude. Dass seine Frau vor zwanzig Jahren an Krebs gestorben war – das ist es, was immer noch wehtat. Sie hatten eine glückliche Ehe geführt. Wären nach ihrem Tod nicht seine Söhne und Freunde gewesen … Aber sie waren da – und sind es noch immer!
Er steht auf, ergreift das hölzerne Geländer des Balkons und sagt mit lauter Stimme »Jawoll!« – ein Wort, das ungewöhnlich für ihn ist, ein Ausruf, der ihm etwas peinlich ist. Er sieht nach rechts und links zu den nachbarlichen Balkonen, um sich zu vergewissern, dass ihn niemand gehört hat.
Dann sieht er den Jungen. Er geht langsam am Strand entlang. Er scheint das Meer gar nicht zu beachten, auch nicht die anderen Spaziergänger. Offenbar sucht er etwas Bestimmtes. Seine Schritte wendet er mal nach rechts, mal nach links. Vermutlich sucht er nach Muscheln. Henry beobachtet ihn aufmerksam. Er scheint nicht älter als zehn Jahre zu sein. Zehn Jahre? Hatte nicht auch er damals – also vor sechzig Jahren! – Muscheln an diesem Strand gesucht? Damals, in den Sommerferien mit seinen Eltern? Er erinnert sich an eine große weiße Muschel. Er hatte in sie hineingehorcht und war fasziniert gewesen von dem aus der Tiefe dringenden Rauschen.
Henry verliert den Muschelsucher aus den Augen, sein Blick wandert über den Strand hinaus und verliert sich in der Weite des Horizonts. Er bemerkt nicht, wie sich seine Augen schließen. Er schläft nicht, doch er vergisst seine Umgebung. Er träumt nicht, aber es ist ihm, als hole seine Seele ihn weit zurück in eine frühere Welt.
Er sieht einen Jungen in einem großen Garten. Der Junge spielt mit einem anderen Jungen Ball. Der mit der Lederhose – das ist doch er selbst! Ja, tatsächlich! Er trägt ein rotes Hemd und einen auffälligen Gürtel um seine Hose. Sein volles Haar fällt ihm ins Gesicht. Er lacht. Der Junge im Garten ruft etwas. Henry versteht es nicht. Da formen sich seine Lippen zu einem Ruf. »Henry, Henry!«, ruft es in ihm – aber der Junge hört ihn nicht.
Dann geschieht etwas Seltsames: Der alte Henry sieht sich selbst im Garten – und spielt mit! Er lupft den Ball leichtfüßig hoch und schießt ihn einem anderen Jungen zu. Der andere – das ist ja Bernhard! Bernhard, sein bester Freund! Bernhard war für ihn wie ein Bruder gewesen. Es gab kaum einen Tag, den die beiden nicht miteinander verbrachten. Auch in der Schule saßen sie nebeneinander. Dann zog es Bernhard ins Ausland. Aber die Beziehung hielten beide aufrecht – bis zu Bernhards Tod vor zwei Jahren. Ja, hätte es diesen Freund nicht gegeben, sein Leben wäre ärmer gewesen. Auf Bernhard war immer Verlass gewesen.
Da ist noch jemand im Garten: ein Junge, kleiner als Henry und Bernhard, mit rotblondem Haar. Er scheint nicht zu den beiden zu passen. Sein Haar sieht unordentlich aus, seine Hose könnte sauberer sein. Das ist doch der Karl aus der Nachbarschaft, dessen Mutter die drei Kinder allein erziehen musste! Der Vater hatte die Familie früh verlassen. Henry hatte für Karl, den er liebevoll Karlchen nannte, eine Schwäche – wie überhaupt für solche Kinder, die von anderen nicht ernst genommen wurden und sich nicht wehren konnten. Deshalb durfte Karl mitspielen, wann immer er wollte. Wenn ein anderer Junge sich über