Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Zwillinge
Zwillinge
Zwillinge
eBook279 Seiten4 Stunden

Zwillinge

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Auf der Suche nach der "ultimativen Erkenntnis" steht zunächst der Tod anderer im Mittelpunkt. Freunde, Eltern, Wesen, mit denen ich vielleicht nicht für lange, aber intensiv eine "Lebensblase" geteilt habe. Dabei spielt der Tod meines Vaters eine besondere Rolle. Denn damals, kaum Twen, begann sich eine ganz eigene Lebensphilosophie zu entwickeln, die erst heute, nach einem langen und erlebnisreichen Leben ihren Sinn erfüllt, tatsächlich zu einem Kompass geworden ist.

Mit Hilfe dieser Orientierung betrachte ich nun erzählerisch und bald tagebuchartig meine eigene persönliche Evolution im Kontext zum großen Ganzen. Es geht also nicht nur um den zerstörerischen Verlauf meines ererbten genetischen Defektes, den Umgang und Verlauf vor dem Hintergrund des spanischen Gesundheitswesen, die Beschreibung einer schleichenden Krankheit, die mich vor größte persönliche Anforderungen stellt, ein paar Tips für ebenso Betroffene, sondern auch gleichzeitig um die antidemokratischen Strömungen in den Gesellschaften weltweit.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum16. Jan. 2021
ISBN9783752930733
Zwillinge

Ähnlich wie Zwillinge

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Zwillinge

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Zwillinge - Thomas Kewitz

    Ich schaue mir diesen Bauch an, und beginne ein Buch zu schreiben. Mein erstes Buch nur für mich. Ich muss niemanden mehr gefallen, niemanden mehr unterhalten. Nicht so wie all die Jahre zuvor, in denen es auf unzähligen Blättern Papier im Prinzip nur darum ging, Anerkennung zu ernten, bewundert, ja geliebt zu werden. 

    Es existiert kein Plan. Ich habe keine Ahnung wo das Ganze enden wird. Ich sehe einfach diesen Bauch, sehe mich schwanger gehen, mit dieser meiner Geschichte und bin höchst gespannt, was hier zur Geburt reift.

    Eigentlich wirkt dieses Ding fremd, scheint so gar nicht zu passen. Macht eher einen absurden Eindruck zwischen meinen sehnigen Gliedern. Kaum zu glauben, dass diesem Monstrum einst die schönsten Frühlingsgefühle entsprangen. Zu jeder Jahreszeit. Immer wieder wimmelte es von Schmetterlingen. Ein Bauch, so rundum positiv. Quell unerschütterlichen Optimismus. Hort zweier ganz normaler Nieren, faustgroß, ungefähr zweihundert Gramm schwer, die sich mittlerweile auf ihr Zehnfaches vergrößert haben. Jede Einzelne besitzt nun die Ausmaße eines Footballs, wiegt runde zwei Kilo und ist durchsetzt von unzähligen bis zu apfelgroßen Zysten, die sich im Prinzip von Pisse und Zucker nähren.

    PKD, Polycystic Kidney Disease, polyzystische Nieren, eine der häufigsten lebensbedrohlichen, uns bekannten Erbkrankheiten. Allerdings ist „häufig" relativ. Von rund tausend erwischt es Eine/Einen, höchstens Zwei…

    Meine Großmutter starb daran. Am Ende ihrer Vierziger, lange vor meiner Geburt. Jene, von der man erzählte, dass sie als ehemalige Garderobiere des Wiener Konzerthauses mit dem damals überaus bekannten Dirigenten Karl Böhm ein Techtelmechtel einging, dessen Resultat meine Mutter gewesen sein soll… Tatsächlich besaß Muttern eine kleine goldene Damen Uhr, die ihr einst der Sohn des Dirigenten, Karlheinz Böhm, also eventueller Halbbruder, persönlich überreichte, als sie 13, 14, oder 15…wurde.  Also kurz bevor Karlheinz in der Rolle des österreichischen Kaisers Franz Joseph I an der Seite Romy Schneiders mit der Sissi-Trilogie bis zu 25 Millionen Zuschauer in die Kinos lockte. Ein Kaiser der seine minderjährige Cousine zur Frau nimmt. Eben jene inzestuöse Kinderehe, die ständig Sonntagnachmittag zum obligatorischen Kaffee und Kuchen über den alten Grundig flimmerte. Ausgerechnet! Da war mir Elvis oder Peter Alexander lieber. Ja selbst Peter Kraus!

    Leider habe ich es verpasst mich noch während der Lebenszeit meiner Mutter für die ganze Geschichte wirklich zu interessieren.  Geschichte interessierte mich immer, aber nur im Großen, nicht im Detail. Vielleicht wollte ich aber die Dinge noch nicht zu früh an mich heranlassen…

    Auch sie starb an den Konsequenzen von PKD. Die „Lulu-Oma". So nannten sie meine Kinder. Klar. Pinkeln ist Top Thema eines jeden Nierentoten. Auch bei mir jetzt, an der Dialyse. Es tropft zwar nur noch, aber noch nie war pinkeln so schön wie heute...

    Sieh Dir diesen Bauch an. Einst blickte ich an mir herunter, verglich das Erblickte mit dem Wanst meines Freundes Chema und dachte „Jetzt ist Schluss mit der Biersauferei".  Das war am Strande des Atlantiks in Marokko. So um das Jahr 2010, am Ende einer viel zu langwierigen endgültigen Trennung von der Mutter meiner Kinder.

    Die Tage davor waren wir mit dem kleinen Fiat Panda durch das Rif gejagt, bepackt mit Stiegen voller warmer Bierdosen. Die Grundversorgung Chemas. Ziel war ein Dorf inmitten von Niemandsland, zu dem nur ausgestorbene Pisten führten. Dort lebten die „Ex-Schwiegereltern. Ein Dorf ohne Autos, ohne blonde Menschen. Es erinnerte mich an Besuche in der ländlichen DDR, als plötzlich massig Kinder und Hunde hinter unserem Gefährt herrannten, als wären wir Rockstars. Nur, dass wir hier keine Kugelschreiber mit westlichen Firmen Emblemen hinaus schleuderten um die Meute loszuwerden. Doch mein Freund konnte genügend Arabisch, brauchte bloß etwas mit „Allah zu zischen, und der Stress Moment verging im Nu.

    Langsam fuhren wir auf der staubigen Piste an Behausungen vorbei, die eher Ställen glichen, bis wir an einer aus Schrott und Brettern zusammen geschusterten Hütte ankamen.

    „Hier?? fragte ich ungläubig. Um das Ganze komplett zu machen fehlte nur noch die Mundharmonika aus „Spiel mir das Lied vom Tod.

    Chema hatte in diesem Dorf vor nicht allzu langer Zeit eine fast dreißig Jahre jüngere Frau geheiratet, der Idiot! Die marokkanische Hochzeit war Bedingung, um die Tochter mit nach Europa mitnehmen zu dürfen. Er war verliebt, obwohl ich persönlich sie nicht nur für zu jung, sondern ebenfalls für zu doof und dick hielt.

    Auch scheute er nicht davor sich deshalb ordentlich zu verschulden, ja selbst zum Islam zu konvertieren. Eine weitere Voraussetzung, um die junge Frau mit nach Spanien nehmen zu können, dort offiziell als Hausangestellte anzumelden, und natürlich auch die auf der spanischen Halbinsel üblichen hohen Sozialversicherungskosten zu bedienen. Hier natürlich nicht mehr rechtsgültig verheiratet.

    Doch tatsächlich erlebte ich die Beiden recht glücklich, ständig am kichern, essen und einkaufen . Bis auf den Tag, als wir von einer Reise nach Madrid zurückkamen und die junge Dame verschwunden war. Mit ihr ein Haufen Wertgegenstände und jede Menge Bargeld, das mein Freund im Hause gebunkert hatte. Einen Tag später stand die Polizei mit einer Anzeige wegen Körperverletzung  vor seiner Tür. Aufgegeben in Sevilla, rund 300 km entfernt, von eben jener jungen Frau. Da in Spanien nach wie vor die Schuldannahme gilt, sofern es sich um eine Anzeige einer Frau gegen einen Mann handelt, landete er noch am gleichen Tag für 48 Stunden in der Arrestzelle, und brach in Tränen aus,  als ich ihm ein Päckchen Zigaretten vorbei brachte. Die arme Sau! Schließlich vor den Richter, und bis zur endgültigen Verhandlung einmal die Woche bei der Polizei melden, und natürlich mindestens dreihundert Meter Abstand zu dem angeblichen Opfer halten. Zwei Jahre dauerte es, bis sie ihn freisprachen. Währenddessen kassierte die Dame eine monatliche Opferrente, arbeitete schwarz als Hausmädchen in einer sevillanischen Familie, und telefonierte fröhlich durch die Welt. Die horrenden Rechnungen erhielt Yussuf, alias Chema, da alles noch über ihn lief und er den Vertrag nicht rechtzeitig gekündigt hatte.

    „Echt hier" fragte ich noch einmal die Augen weit aufgerissen. Staub, kaum Grünes, nur ein alter Olivenbaum, halb vertrocknet, und über allem der Geruch von Tierscheiße. Kein fließend Wasser, kein Strom. Voll Sahelzone.

    Eine uralt anmutende Frau kam auf uns zu. Sie schien um die hundert, war aber erst fünfzig. Mutter von unzähligen Kindern, davon etliche tot. Und sie liebte Yussuf. Unschwer zu erkennen. Einmal rettete er ihr Leben mit 2,50€. Das kostete die Packung Antibiotika. Eine lächerliche Zahninfektion bedeutete fast das Ende, weil diese Familie nicht einmal 2,50€ locker machen konnte. In Marokko sterben die Leute vor den Eingängen der Krankenhäuser. Ohne Kohle kein Leben. Ganz schön amerikanisch!

    Chema, ziemlich besudelt von dem warmen Bier, vor lauter Nervosität hatte er mal schnell zuvor zehn Büchsen vernascht, begann sich in die Rolle des betrogenen Ehemanns zu begeben. Tränen flossen und immer wieder beteuerte er ihrer Tochter nichts angetan zu haben. Das verstand sogar ich. Allerdings ließ sich aus den Reaktionen der Mutter lesen, dass dies gar kein Thema war.

    Sie führte uns zu ihrem Gatten, ein kleines verdorrtes Männchen, mit einem unglaublich einnehmenden Lächeln. Schließlich saßen wir alle auf Steinblöcken vor dem winzigen Haus, aus dem immer wieder ein neuer Kopf lugte und uns begrüßte. Eigentlich alles ohne Worte. Dann kam der Jüngste von der Arbeit, jeden Tag zwei Stunden zu Fuß über Stock und Stein, um dann bis zu zehn Stunden in einer Fruchtkonservenfabrik zu arbeiten… selbstredend für einen Hungerlohn, der für die ganze Bagage reichen musste. Doch er konnte ein paar Brocken spanisch, so dass die Kommunikation an verständlichen Tönen gewann.  Alles sehr einfach, auch die Weltsicht. Der Vater ließ erkennen, dass seine Tochter nicht mehr seine Tochter sei, sondern Yussufs offizielle Ehefrau, und somit er alleine für sie verantwortlich. Allerdings räumte er ein, dass es Dinge gibt, die man nicht tut. Zum Beispiel den Ehemann beklauen. Wohl ab jetzt ein Grund für seine Tochter, sich besser nicht in ihr Dorf zurück zu trauen. Denn so jemand will man dort nicht haben. Genauso wie ihre ältere Schwester, die, wie jetzt herauskam, schon seit Jahren In Sevilla als Prostituierte arbeitete, und wohl die Auslöserin des Ganzen war. Sie seien schlechte Menschen, ohne Respekt vor der Autorität des Mannes, und somit für den Vater nun tabu. So, einfach gesagt und getan, Thema beendet. Wie wäre es mit einer neuen Frau? Schließlich gab es da noch mehr Töchter…

    Bei der Anreise sprach Chema davon, dass es ihm wichtig sei, persönlich mit den Eltern zu reden und die Dinge klar zu stellen. Natürlich erhoffte er sich ebenfalls den väterlichen Machtspruch, die Anzeige wieder zurück zu nehmen.  Tatsache war aber auch, dass er vor langer Zeit am Rande des Hauses fast ein Kilogramm Haschisch versteckt hatte, das er nun wieder mitzunehmen gedachte und auch tat. Und kaum saßen wir im Auto, entfernte sich in Blitzeseile der depressive Gesichtsausdruck des betrogenen Ehemanns und an seine Stelle trat das Lächeln eines pubertierenden Buben…

    Allerdings mit dem gleichen dicken fetten Bierbauch wie schon zuvor. Ja mein Freund war Bier-Alkoholiker. In Spanien kein Problem, und im islamischen Marokko auch nicht. Denn er kannte in jedem verfluchten Ort einen meist gut versteckten Schuppen, in dem man uns das marokkanische Gesöff verkaufte. Selbst am Arsch der Welt. Bier, das offiziell nur für uns ungläubige Touristen gebraut wurde.

    Ich trank zwar lange nicht so viel, doch regelmäßig. Und so lag es nahe, vor allem bei Betrachtung des Bauches Chemas, dem Gerstensaft die Schuld für meine eigene physische Expansion zu geben. Also trank ich nicht mehr. Doch natürlich ohne Erfolg.

    Chema, das ist die spanische Kurzform für Jose Maria, starb 2015. Eine Mischung aus Unfall und Selbstmord. Wie oft hatten wir das Thema… Entscheide Dich! Leben oder Tod! Er gehörte zu den ersten zweihundert Hippies in Francos Madrid, von denen die Meisten schon früh das Zeitliche segneten. Damals war es leichter an Heroin als an Marihuana zu kommen. Noch in den späten Achtzigern saß in jeder spanischen Großfamilie mindestens Eine/Einer am Tisch, vollkommen weggetreten, sabbernd, und wenn nur dummes Zeugs labbernd. Doch das schien integriert, entbehrte jeder Dramatik. Es wurde kein Unterschied gemacht. Man betrachtete die Nadelabhängigen wie den Alkoholiker. Also ganz normal…. Niemand hätte die Sucht als Krankheit bezeichnet. Natürlich vor allem das Resultat fehlender staatlicher Aufklärung.

    Selbst als Bankangestellter jagte sich Chema das Teufelszeug noch ins Blut. Einen Schuss auf dem Kloo und anschließend an die Kasse.  Und keiner merkt es…..

    Ich hätte es gemerkt. So wie ich es merke, ob jemand zu viel gekifft, gekokst, Tranquilizer geschluckt hat, auf einem Pilz-, Tollkirschen-, Stechapfel- oder LSD Trip, besoffen oder einfach nur verrückt ist.  Es gibt nur wenige Substanzen, deren Begleiterscheinungen mir nicht persönlich bekannt sind. Bekannt, weil nicht nur selbst probiert, sondern vor allem über lange Zeiträume beobachtet. Darum zolle ich Menschen wie Chema einen großen Respekt, wenn sie sich von dem einen oder anderen lossagen konnten. Na ja, was heißt lossagen? Im Prinzip tauschen wir nur das Eine gegen das Andere aus. Und wie oft hörte ich mich sagen, die schlimmste aller Drogen ist das Leben selbst.

    Chema tauschte Heroin gegen Bier, viel Bier. Aber aufgrund seiner ungewöhnlichen Genetik, diesem großen hochgewachsenen Körper, konnte er sich sehr viel mehr antun als die Meisten anderen. Es gab Zeiten, in denen er monatelang jeden Tag zwischen sieben und neun Litern Bier trank. Für andere Nahrung war da kein Platz mehr. Und so brach dieser riesen Typ regelmäßig zusammen, wurde eingeliefert, um dann anschließend ein/zwei Wochen alkoholfrei zu bleiben. Wie viele Male von mir solidarisch begleitet! Für mich aber war das nichts weiter als eine willkommene Gelegenheit einfach mal wieder eine Weile keinen Alkohol zu trinken. Doch für Chema ging es zunehmend um Leben und Tod. Er hatte sich in einer Endlosschleife verheddert. Gut. Endlos ist relativ, auch wenn es das nicht sein sollte.

    Und immer wenn ich ihn zur Seite nahm und ihn auf allen möglichen Weisen daran erinnerte, dass er eine Entscheidung treffen musste, eben Leben oder Tod, schaute er mich mit diesen wunderschönen großen mandelfarbigen Augen an, grinste wie ein kleiner unschuldiger Junge, erwiderte etwas die ganze Weichheit seines herzlichen Wesens offenbarend mit einer Selbstironie, wie sie mir bis heute nicht noch einmal begegnet ist. Die volle Entwaffnung.

    Ihm verdanke ich es zu großen Teilen, das ich mich heute schnell ermahnen kann, wenn sich mal wieder meine Gedanken um vollkommen unnötiges Zeugs drehen. Etwas, das Chema zum Schluss ständig geschah und mich mal laut, mal sarkastisch, mal liebend aufregen ließ. Aber was ihn letztlich umbrachte war Orientierungslosigkeit, die ungeheuren Selbstzweifel und gnadenlose Entscheidungsunwilligkeit.

    Die Beerdigung fand in Granada statt. Auf dem städtischen Friedhof, gleich neben der Alhambra. Es war das erste Mal, dass ich einer solchen Zeremonie beiwohnte. Und meine zweite Beerdigung überhaupt. Und das bei so vielen Toten! Damals aber, das erste Mal, dazwischen lagen rund 30 Jahre, wartete ich vor der Kapelle. Erst als die winzige Gruppe mit der Urne in ihrer Mitte hinauskam, schloss ich mich ihnen an um dann das schmucklose Ding zu versenken.  Darin verglüht ein anderer intimer Freund. Ollie hatte sich mit Anfang Zwanzig eine Überdosis verpasst. Ganz sicher ohne Absicht.

    Mit ihm stritt ich mich oft darüber, dass er von nichts genug bekommen konnte. Und das ihm die Dröhnung wichtiger als die Liebe sei. Uff! Ich kritisierte natürlich nicht nur ihn, sondern vor allem mich. Allerdings in jenen Jahren noch sehr unbewusst.

    Auch mit Olli verbrachte ich endlose Momente, wir alleine, in einer winzigen Lebensblase, obwohl sie uns damals gar nicht so klein vorkam…  Doch natürlich war auch diese längst geplatzt, als er sich die ultimative Nadel ansetzte.

    Wenige Tage vor seinem Tod trafen wir uns in einer Bar. Das Gespräch war kurz. Er beschwerte sich von mir noch nicht ein einziges Mal nach Berlin eingeladen worden zu sein, und ich antwortete und erklärte, solange er an der Nadel hinge, wollte ich nichts mehr mit ihm zu tun haben. Null. Ebenso wenig wie mit so einigen anderen, mit denen wir früher zusammenhingen. Übrigens heute auch alle tot. Totgespritzt. 

    Chema lag aufgebahrt in einem schlichten hölzerneren Sarg, leicht schmunzelnd. Und während die rund fünfzig anwesenden Personen dem Pfarrer lauschten, starrte ich wie gebannt auf meinen großen friedlichen Freund in seiner engen Kiste. Plötzlich liefen die Tränen. Und sie liefen und liefen. Zum Glück saß neben mir einer der Brüder Chemas und teilte mit mir sein Taschentuch, das von nun an ständig zwischen uns hin und her wanderte. Mir wurde klar, dass ich all diese Tränen nicht nur für Chema weinte, sondern auch für die vielen anderen Toten. Nie zuvor hatten sie es geschafft mir nur einen Tropfen zu entlocken. Nicht einmal meine eigene Mutter. Und jetzt ein Wasserfall…

    Der Anblick der Leiche war mir nicht neu. Schon mit rund achtzehn Jahren sah ich meine ersten hominiden Kadaver. Und gleich Drei in einer Woche!  Damals arbeitete ich in einem Hospiz für die Ärmsten der Ärmsten in Fulda. Verknackt zu 48 Stunden Sozialarbeit. Man hatte Ollie und mich dabei erwischt wie wir in einem Privatteich einen Hecht angelten. Oder war das doch wegen der unzähligen geklauten Autoradios?  Jedenfalls bekam Ollie „nur" eine Geldstrafe, während man mich zu den Nonnen schickte. Seltsamerweise empfand ich es gar nicht wirklich als Strafe, sondern konnte dem Ganzen Positives abgewinnen.

    Einmal floh ich mit zwei super Greisen, davon ein Spastiker im Rollstuhl, in die Innenstadt. Wahrscheinlich unbewusst inspiriert von „Einer flog über das Kuckucksnest". Auf jeden Fall hatten die alten Herren ihren Spaß. In einem Tabakladen erpresste ich Zigarren, und in einem Kiosk für jeden eine Büchse Bier. Wie? Ganz einfach! Ich sagte, dass wir nicht eher verschwinden. Und weil sich die restliche Kundschaft durch meine beiden sabbernden Halbtoten ziemlich belästigt fühlte, dauerte es nicht lange, bis wir im Zentrum der Stadt, unter den kritischen Augen der damals rund 95% katholischen Fuldaner, gemütlich eine kostenlose Havanna pafften und ein ebenso kostenloses Bierchen dazu schlürften… also schlürfen im wahrsten Sinne des Wortes.

    Am nächsten Tag starb der alte Spastiker. Trotz seiner ständigen Verrenkungen strahlte er für mich vom ersten Moment an ungewöhnlich viel Würde aus. Seine Glieder mochten sich selbständig gemacht haben, aber sein Geist schien von ihm selbst kontrolliert. Er sprach zwar so gut wie nie, denn es kostete ihn enorme Kraft, doch die Augen waren voller Weisheit und Wärme. Im Gegensatz zu dem trüben toten Blick eines anderen bemitleidenswerten Greises, der ihm gleich darauf in die Unterwelt folgte. Wie nur einen Tag später eine arme alte Oma, die manchmal nur deshalb in das Bett pinkelte, um die bitter ersehnte Aufmerksamkeit zu erzwingen.

    Unten im Keller lagen sie dann, katholisch aufgebahrt, umringt von großen immer brennenden katholischen Kerzen, fein zu Recht gemacht. Es war mir wichtig, wenn auch tränenlos, von diesen armen Geschöpfen Abschied zu nehmen. Denn ich hatte das Gefühl, dass sie mich wirklich mochten. So verbrachte ich einige Zeit mit dem Anblick der Leichen. Tote, um die sich schon zu Lebzeiten keiner scherte. Gab es Familienangehörige, so tauchten sie oft erst jetzt auf um zu sehen, ob es noch etwas zu erhaschen gab. Und wie viele kamen nur für ein paar Minuten zum Monatsersten um die Sozialhilfe der Sterbenden zu kassieren! Leben scheiße, Tod scheiße…   

    Ein anderer Freund, mit dem ich schon in der Pubertät begann so einige Lebensblasen zu teilen, war Frisco. Er starb 2014 an Leukämie. Unsere gemeinsamen intimen Momente verteilten sich über die Jahre. Den Letzten dieser Art, so Anfang der 2000er, als er uns mit seiner ersten Tochter in Spanien besuchte. Ja, wir waren jetzt „Papas, nicht mehr die wilden Jungs von früher. Und wild, das waren wir! Wobei Frisco immer schon zu den mehr geerdeteren Typen gehörte, und ich mich oft dabei erwischte, gerade gegenüber ihm auch so erscheinen zu wollen. Allerdings ohne Erfolg. Denn für Frisco blieb ich immer der „Abgehobene, egal wie vehement ich dagegen argumentierte, egal wie viel Bäume ich pflanzte oder Häuser baute.  Doch er meinte „abgehoben im Sinne der Freiheit eines Paradiesvogels, ohne gesellschaftliche Konventionen. Von denen fühlte er sich einerseits sein ganzes Leben stark eingeschränkt, aber andrerseits befriedigten sie sein erhöhtes materielles Sicherheitsbedürfnis. Etwas, das mir bis zum heutigen Tage unbekannt geblieben ist. Aber ich fühle, dass es genau das ist, worum er mich beneidete, und wofür er mich liebte.  Wie oft versuchte Frisco mich zu bremsen, während ich versuchte ihn zu überreden! Immer wieder das gleiche Spiel: Bedenken, Besorgnis äußernd, hin und her und schließlich „scheißegal mit dem Resultat, meist etwas Tolles erlebt zu haben.

    Für mich war dieser Mensch ein Fels in der Brandung. Er lebte seine Prinzipien, einen dem Herzen entsprungenen Humanismus, und doch begleitet von der ständigen Frage nach dem Sinn des Ganzen. Vielleicht war es diese Frage, die ihn letztendlich aus dem Leben riss. Ich weiß es nicht. Leider hatten wir die letzten Jahre kein Kontakt. Beide nun Familienväter, Garten, Hypotheken, einfach ordentlich eingespannt. Er 2300 Kilometer weiter nördlich im höchst gelegensten Dorf Hessens, in dem ehemaligen Einfamilienhaus eines Pfarrers, durch dessen Flure einst meine Mutter wandelte, als sie Ende der Sechziger dessen Buchhalterin war. Welch´Zufall…

    Ich frage mich, ob es bei mir überhaupt angekommen wäre, wenn ich von der Leukämie gewusst hätte?  Ich, der sich schon als unfähig erwies, den Leidensweg der eigenen Mutter zu realisieren. Wahrscheinlich nur von Angesicht zu Angesicht. Wahrscheinlich nur in einer neuen Blase…   

    Ja Mensch, was ein Bauch! Als ich einst einsah, dass sich seine Größe anscheinend doch nicht vom Biere nährte, dachte ich, dann müsse es wohl eine Laktose Unverträglichkeit sein. Kein Käse, kein Joghurt, keinen Kakao mehr. Das war schwieriger als das Bier. Wirklich nur Gase, nur Luft? Obwohl wissend um den genetischen Defekt, obwohl wissend um die längst getroffene Diagnose, harrte ich auf dem ignorierenden Standpunkt, nichts mit all dem zu tun zu haben. Selbst mit Ende Vierzig ging ich noch davon aus, dass mich mit meiner Familie höchstens der Nachname verbindet. Zwar wurden schon erste Zysten vor Jahren zufällig entdeckt, aber natürlich bin ich nicht jedes Jahr zu der verurteilten Revision gegangen. Im Gegenteil. Zwischen 1999 und 2011 kein einziger Arztbesuch. Nur mal ein angebrochener Arm, als ich vom Dach fiel… So war es ein Leichtes sich in der Illusion zu wiegen, nichts wirklich mit den Mädels mütterlicherseits gemeinsam zu haben, also nicht mein Problem.

    Auch das Resultat der Verbindung eines damals 48 Jahre alten Preußens mit einer 17 Jahre jüngeren Schlesierin zu sein, entbehrte lange meiner Akzeptanz. Der alte Charmeur. Tausend rote Rosen auf ihrem Bürotisch und eine Einladung zum Diner. Muttern arbeitete damals Mitte/Ende der goldenen Fünfziger für Warner Brothers in Frankfurt, als einfache Sekretärin. Und Papa war Chef von der Werbeabteilung der Paramount Pictures Deutschland. Klar, immer gestriegelt, die intellektuelle Pfeife zwischen den damals noch vorhandenen Zähnen, massig Pomade in den nach hinten gekämmten Haaren, und das bis zu seinem Tod. Ich kann es noch heute riechen. Wie so vieles. Erinnerungen, die sich am Geruch orientieren. Mein Langzeitgedächtnis ist voll davon. Und jeder Ort, jede Kreatur besitzt einen anderen Geruch. Und Vatern stank. Sein Geruch war natürlich für mich der Inbegriff von Männlichkeit. Logisch. Er war ja der erste Mann in meinem Leben. Und wie oft ertappte ich mich dabei inständig zu hoffen, niemals ein solcher Mann zu werden, so zu stinken, überhaupt so alt so werden…

    Papa und Mutti wurden ein Jahr nach ihrer Hochzeit von dem hessischen Bembelkönig Heinz Schenk zum glücklichsten Ehepaar gekürt, natürlich in Schwarz-Weiß, gewannen eine Kreuzschifffahrt, noch ohne die heute üblichen Ringelschwanztänzchen und selbstredend in Etikette! Der Königsberger und die junge Breslauerin. Beide waren sie schwer

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1