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Schweine müssen nackt sein: Ein Leben mit dem Tod
Schweine müssen nackt sein: Ein Leben mit dem Tod
Schweine müssen nackt sein: Ein Leben mit dem Tod
eBook307 Seiten4 Stunden

Schweine müssen nackt sein: Ein Leben mit dem Tod

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Über dieses E-Book

"Schweine müssen nackt sein ist die Geschichte einer Bezwingung: Irgendwann hat das Virus mitten in einem alltäglichen, turbulenten Leben den Napoleon Seyfarth erwischt. Beinahe nebensächlich fand diese fatale Begegnung statt. Ohne großen Kampf, ohne Reue, Klage, Selbsterhöhung oder Selbstmitleid. Napoleon hat das Virus erst einmal verschlungen, verdaut. Irgendwann wird es ihm den Garaus machen. Wenn der Leser, der ihn fröhlich durch die Betten dieser Republik, von Schwanz zu Schwanz, von Bar zu Bar, begleitet, schließlich nach zig Buchseiten endlich auf Aids stößt, geht es ihm wie Napoleon: Das Leben ist zu prall, zu voll, zu ernüchternd kleinlich und dennoch hinterfotzig spannend, als dass nun mit dieser einen Krankheit alles umsonst, weggewischt, untergegangen sein könnte. Die Krankheit kriegt eine schöne, tragende Nebenrolle im absurden Theater, mehr nicht. Wozu hat man so viele Buchseiten grauenhaft komischer altbundesrepublikanischer, homophober Sittengeschichte durchlacht und durchlitten, nur um in Tränen auszubrechen?" (Thomas Kuppinger in Zitty)

Die Reihe "Es geht auch anders" in der Edition diá:

Gad Beck
Und Gad ging zu David. Die Erinnerungen des Gad Beck
ISBN 9783860345016

Georgette Dee
Gib mir Liebeslied. Chansons Geschichten Aphorismen
ISBN 9783860345061

Cora Frost
Mein Körper ist ein Hotel
ISBN 9783860345078

Ulrich Michael Heissig
Irmgard, Knef und ich. Mein Leben, meine Lieder
ISBN 9783860345085

Lotti Huber
Diese Zitrone hat noch viel Saft. Ein Leben
ISBN 9783860345023

Lotti Huber
Jede Zeit ist meine Zeit. Gespräche
ISBN 9783860345030

Charlotte von Mahlsdorf
Ich bin meine eigene Frau. Ein Leben
ISBN 9783860345047

Napoleon Seyfarth
Schweine müssen nackt sein. Ein Leben mit dem Tod
ISBN 9783860345054
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition diá
Erscheinungsdatum1. Okt. 2012
ISBN9783860345054
Schweine müssen nackt sein: Ein Leben mit dem Tod

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    Buchvorschau

    Schweine müssen nackt sein - Napoleon Seyfarth

    Über dieses Buch

    »Schweine müssen nackt sein ist die Geschichte einer Bezwingung: Irgendwann hat das Virus mitten in einem alltäglichen, turbulenten Leben den Napoleon Seyfarth erwischt. Beinahe nebensächlich fand diese fatale Begegnung statt. Ohne großen Kampf, ohne Reue, Klage, Selbsterhöhung oder Selbstmitleid. Napoleon hat das Virus erst einmal verschlungen, verdaut. Irgendwann wird es ihm den Garaus machen. Wenn der Leser, der ihn fröhlich durch die Betten dieser Republik, von Schwanz zu Schwanz, von Bar zu Bar, begleitet, schließlich nach zig Buchseiten endlich auf Aids stößt, geht es ihm wie Napoleon: Das Leben ist zu prall, zu voll, zu ernüchternd kleinlich und dennoch hinterfotzig spannend, als dass nun mit dieser einen Krankheit alles umsonst, weggewischt, untergegangen sein könnte. Die Krankheit kriegt eine schöne, tragende Nebenrolle im absurden Theater, mehr nicht. Wozu hat man so viele Buchseiten grauenhaft komischer altbundesrepublikanischer, homophober Sittengeschichte durchlacht und durchlitten, nur um in Tränen auszubrechen?« (Thomas Kuppinger in Zitty)

    Der Autor

    Napoleon Seyfarth wurde 1953 im pfälzischen Oggersheim geboren. Er starb 2000 in Berlin an den Folgen von Aids.

    Napoleon Seyfarth

    Schweine müssen nackt sein

    Ein Leben mit dem Tod

    Mit einem Nachwort von Peter Süß

    Edition diá

    Inhalt

    Über dieses Buch

    1

    2

    3

    4

    5

    Nachwort: Lust will Ewigkeit – Tod hat sie!

    Impressum

    Für Uwe, Charly, Jessica,

    Thomas, Alar, Bertram

    und alle Wohlmeinenden

    in der Berliner Aids-Hilfe

    1

    Heute ist der 18. November 1990. Seit fünfundzwanzig Jahren bin ich schwul. Nein, schwul bin ich sicherlich schon vor meinem zwölften Lebensjahr gewesen. Aber gemacht habe ich »es« halt zum ersten Mal – damals vor fünfundzwanzig Jahren.

    Wie er aussah, daran kann ich mich heute nicht mehr erinnern. Obwohl es doch immer heißt, dass das erste Erlebnis das wichtigste sei. Nur dass er für mich damals ein uralter Mann war, mit seinen schätzungsweise Mitte zwanzig, das ist mir noch in guter Erinnerung. Besonders heute, da für mich der Altersunterschied zu Mitte Zwanzigjährigen derselbe ist. Allerdings in die andere Richtung.

    Den Ort des Geschehens habe ich hingegen ausgezeichnet im Gedächtnis. Es war eine Sackgasse, die beim Tor des Hauptfriedhofes endete, nicht weit von der Stelle, an der heute meine Mutter aus einem Leben voller Reinlichkeit in die ewige Kehrwoche eingezogen ist.

    Zwölf Jahre zuvor war ich in jenes öde Chemiekaff hineingeboren worden, dessen grüne Lunge ebenjener Hauptfriedhof war. Er signalisierte somit, dass die Toten es in dieser Stadt besser haben als die in ihr lebenden Roboter, deren Leben im Schichtwechsel der Chemiefabrik seinen gleichförmigen Rhythmus fand.

    »Schichtochsen«, so pflegte mein Vater dieses Arbeitsvieh zu bezeichnen, während er selbst als Nachtklub-, später Nightclub-Besitzer ein schlechterer Zuhälter war und von dem Geld ebenjener lebte, deren Schichtende er mit »Il silencio« aus der Musikbox, überteuerten Herrengedecken – Bier und Korn – und den Bezirzungskünsten von Tante Nutt die sündige Abrundung gab.

    Tante Nutt. Diesen Namen hatte ich der »rassigen« Rothaarigen – Rassigkeit war die milde Umschreibung dafür, dass sie behaarte Beine hatte – bereits als Vierjähriger gegeben, nicht wissend, dass Nutte ein Berufsstand und kein Name ist. Sie nahm es mit dem ihr eigenen mütterlichen Humor auf, lachte schallend und schüttelte ihre hochtoupierten Haare, denen sie die Bezeichnung Farah-Diba-Frisur gegeben hatte, obwohl sie mehr der gealterten Jovanka Tito glich. »Was für ein süßer kleiner Bub mit seinen großen Augen. Der wird mal genau wie sein Vater.« Eine Prognose, die mir damals noch verlockend schien.

    Und dann drückte sie mich an ihr großes Dekolleté, wohl insgeheim hoffend, dass ich später auch mal andere väterliche Tätigkeiten an ihr auszuüben gedächte. Tätigkeiten, die ich lieber mit den bodygebildeten Zuhälterkollegen meines Vaters hätte ausüben wollen.

    Später, als sie schon längst im Dienst erblondet war, zwinkerte sie mir, zwischen einem Chemiefachwerker und einem Maurerpolier sitzend, immer aufmunternd zu, wenn ich das Etablissement mit dem sinnigen Namen Bierstall betrat. Ein Stall, in dem toupierte Kühe abgearbeitete Ochsen mithilfe diverser Reanimationen in Form von »ä Piccolosche und ä Schäschtelsche HB« zu Stierverhaltensweisen zu ermuntern sich bemühten. Verhaltensweisen, die in den heimischen Ställen schon längst von Lockenwicklern und Rücksichtnahme auf Kinder, Kopfweh und Kirche ins statistische Mittel gebracht worden waren. Der Bierstall war der letzte Versuch, so etwas wie Lasterhaftigkeit und Aufregung in das Leben zu bringen. Ein Leben, von dessen wohlverdientem Ende meist Grabinschriften wie »Müh und Arbeit war sein Leben, Ruhe hat ihm Gott gegeben« kündeten. Gab es ein Leben vor dem Tod?

    Für den früh pubertierenden Hans waren diese vierzehntägigen Expeditionen ins Reich der Sündchen, Bierchen, Schnäpschen, Zigarettchen und Betrügerchen immer eine aufregende Sache. Durfte er sich doch bei den Unterhaltungen in den Arbeitspausen – Pfälzer Nutten haben einen ungeschriebenen Tarifvertrag – die neuesten Unterleibsbeschwerden der Damen und die ungewöhnlichsten Wünsche der Kunden mit anhören. Faustfick war schon damals ein Thema. Allerdings mit dem Akzent darauf, die Kunden zu betrügen und mittels Creme und halb geöffneter Faust dem Freier die Illusion einer heißen Vagina oder vielmehr »Bix«, wie es in der Sprache der Eingeborenen hieß, zu verschaffen.

    Wie anders waren doch die Unterhaltungen hier als die Unterhaltungen der »richtigen« Tanten im Wohnzimmer meiner Großeltern, bei denen ich nach der Scheidung meiner Eltern ein sogenanntes beschütztes Zuhause gefunden hatte.

    Meine Mutter hatte nämlich im Goldenen Buch der Ehe, erschienen 1957, gelesen, was man alles tun müsse, um zur perfekten Haus- und Ehefrau zu werden. Und dies praktizierte sie auf Feudel-komm-raus, um meinen Vater aus den rot lackierten Krallen der »falschen« Tanten zu entreißen. Nachdem sie ihn aus der Wohnung und sich um den Verstand geputzt hatte, beschloss der Amtsrichter im Scheidungsprozess, das Sorgerecht für mich weder der bakteriophoben Mutter noch dem pornophilen Vater, sondern den rechtschaffenen Großeltern väterlicherseits zu erteilen. Ein intelligentes, aufgewecktes Kind, so attestierte der psychologische Gutachter im Scheidungsprozess, bedürfe eines geordneten, geregelten Lebens.

    Und so bestimmten dann regelmäßige großmütterliche Gewehrsalven wie »Hans, aufstehen! Höchste Eisenbahn für die Schule. Hans, essen kommen! Ich möchte doch auch mal fertig werden mit meiner Küche. Hans, Schulaufgaben!« fürderhin mein gesundes, geordnetes und geschütztes Dasein in der nahen Kurstadt, die sich meine Großeltern zur Residenz erkoren hatten.

    Haut- oder vielmehr ohrnah durfte ich miterleben, wie mein Großvater die kulturelle Wüste dieser Kleinstadt urbar zu machen suchte. In der Funktion eines Musiklehrers für unmusikalische Bürgersöhne. In der Funktion eines Organisten für die sonntägliche Otto-Versand-Modenschau in der katholischen Kirche. In der Funktion des Bäckergesangsvereinsdirigenten für stimmgewaltige Bäcker, die den Gesang benutzten, um dem Weib zu entfliehen und den Wein zu finden.

    Harmoniebedürfnis, Pfälzer Ethos und Rechtschaffenheit waren die Leitmotive in der Fuge dieses Honoratiorenlebens zwischen Kulturarbeit und Stammtisch, deren Generalbass eine gesunde Familie war. Den Kontrapunkt bildete da mein Vater, der mit den anderen, den »falschen« Tanten im violetten Mercedes-Benz nach Saint-Tropez, dem Sündenbabel der bunten Illustrierten, fuhr und die Oggersheimer Antwort auf Gunter Sachs zu werden versuchte. Ein Lebenswandel, der ihm die Verbannung aus dem bürgerlichen Familienleben einbrachte, mir die geballte Fürsorge der Restfamilie – »Das arme Kind, die Mutter im Irrenhaus, der Vater im Bordell!« – und der Restfamilie erwünschten Anlass zu sittlicher Entrüstung und vor allem Gesprächsstoff, um den uns die Nachbarn beneideten.

    Denn die einzige Abwechslung in diesem Pfälzisch-Sibirien waren die Konzertabende meines Großvaters mit ihren gefälligen Melodien und die Nachmittagskaffees meiner Großmutter. Ein gnädiges Geschick hatte das Anwesen meiner Großeltern genau dorthin bestimmt, wo sich bis zur Sanierung in den fünfziger Jahren die Altstadt befunden hatte, die dann durch ein Einkaufszentrum ersetzt worden war. Von den fünf Kindern, die dem Schoße meiner Oma entsprungen waren, lebten vier – zwei Söhne, zwei Töchter – mit ihren Ehegatten und den Früchten ihrer Schleiflack-Ehebetten in der Stadt. Mein Vater hatte als schwarzes Schaf sehr frühzeitig das Weite beziehungsweise die nahe Metropole gesucht. Ein weiteres gnädiges Schicksal hatte es bestimmt, dass diese vier Ableger der großelterlichen Keimzelle jeweils in einem anderen Viertel wohnten, sodass unsere Familie der Stadt ein vierzackiges Informationsspinnennetz übergestülpt hatte, in dessen Mitte meine Großmutter die Fäden zusammenhielt.

    Pünktlich 14 Uhr werktags schossen vier einkaufswütige Tanten aus vier Richtungen in das Zentrum dieses Netzes und tätigten ihre Besorgungen, um dann pünktlich 15 Uhr der Kaffee kochenden Spinne ihre Aufwartung zu machen. Und so saß da tagtäglich die höchstrichterliche Kommission über Recht und Anstand beisammen, analysierte, vermengte, vermischte und verdichtete die neuesten Nachrichten, um sie dann pünktlich 17 Uhr im jeweiligen Stadtteil zu verbreiten.

    Die Vorsitzende dieser Kommission war meine Großmutter, die den unter der Hand öfter auftauchenden Hinweis auf ihre uneheliche Geburt mit der angeblich adligen Abstammung ihrer Mutter parierte. Sie war unbestrittene Expertin in Geburten, und fast keine dieser Kaffeetafeln verstrich ohne blutrünstige Schilderung mindestens einer Hausgeburt, wobei die Menge des dabei verlorenen Blutes zwischen fünf und zwölf Litern schwankte.

    Den Vizevorsitz in dieser Runde nahm die älteste Tochter Irene ein, deren Vorname, die Friedliche, im krassen Widerspruch zu ihrem Wesen stand. Sie klagte meist, dass sie als Älteste mütterliche Pflichten bei den anderen Kindern habe mitübernehmen müssen und dass ihr somit ein Großteil ihrer Kindheit und frühen Jugend verloren gegangen sei. Sie hatte beim BDM Strick- und Krankenpflegekurse mitmachen dürfen und galt somit als medizinische Expertin. Daneben war sie als Mitglied des Kirchenchors die kulturelle und als Vorsitzende des katholischen Frauenbundes die höchste moralische Instanz in diesem Damenquintett. Da ihr Mann Abteilungsleiter in einem Elektrowerk war, war sie außerdem überzeugt von ihrem wirtschaftlichen Sachverstand.

    Die jüngste Tante, die Irenes Mütterlichkeit im Kindesalter am meisten zu erdulden gehabt hatte, war Tante Ute. Sie war mit einem Magersüchtigen verheiratet, den sie mit deftiger Pfälzer Küche zu einem richtigen Mann herausfüttern wollte. Mit dem Erfolg, dass die ehedem hübscheste aller Töchter jetzt sogar für die figürlich »fraulichen« Maßstäbe der Familie zu dick war. Sie wirkte neben ihrem Mann wie Liesl Karlstadt neben Karl Valentin. Ihre monströse Figur pflegte sie mit einem heiteren Wesen und einem aufgesetzten Humor zu überspielen, der in Reimen wie »Der Elefant, das große Tier, braucht hundert Meter Klopapier« seinen peinlichen Höhepunkt hatte. Unter den knausrigen Blicken meiner Großmutter aß sie immer den meisten Kuchen, ohne jedoch zu verabsäumen, ihren hohen Blutzucker zu beklagen.

    Die Gattin des ältesten Sohnes, der als Oberamtsrat der Bezirksregierung seiner Beförderung zum Regierungsrat entgegenverwaltete, saß dagegen klaglos in der Runde und kniff dafür umso mehr die Augen zusammen, um zu dokumentieren, dass sie unter entsetzlicher Migräne leide. Dieses stumme Leiden wurde dann von meiner Großmutter meist mit einer Gelonidaspende belohnt, die Tante Inge, so der Name der Schmerzensreichen, mit einer Valium, Baldrian und Kaffee zu sich nahm. Mit der Zeit wurde dann das Wundermittel Gelonida mangels Wirksamkeit durch Valoron ersetzt. Außer unter Kopfschmerz litt sie unter ihrer Körpergröße, die sie ihren Mann überragen ließ. Deswegen weigerte sie sich standhaft, Hüte zu tragen, was bei der sonntäglichen Messe als avantgardistisch galt.

    Die Gattin des jüngsten Sohnes, Tante Gisela, vertrieb sich ihre Ehe mit Onkel Hermann, der als Reisebusfahrer nie zu Hause war, frühmorgens mit Klosterfrau Melissengeist, »wegen des Kreislaufs«, bei der Kaffeerunde bei Oma mit Eierlikör, »weil’s so gut zum Kaffee passt«, und abends mit Weinbrandbohnen und einem kleinen Cognac, »wegen der Einschlafschwierigkeiten«. Sie bildete das proletarische Element in der Damenrunde, was an ihren hausmeisterlichen Eltern lag, schaute meist »unverständnisvoll« aus ihren schmetterlingsförmigen Sechs-Dioptrien-Gläsern und belebte die Konversation allenfalls durch Verständnisfragen, die ihr meist den vorwurfsvollen Blick der anderen eintrugen.

    Wer vor diesem Tribunal nicht bestand, hatte sein soziales Leben in der Kurstadt verwirkt. Sei es die Familie Alt, die im Urlaub nach Sylt fuhr, um dort nackt zu baden, was Tante Ute, die aufgrund ihrer Leibesfülle nicht mal im Freibad einen Badeanzug trug, sondern ihre Kittelschürze zum Strandkleid umdefinierte, zu der Äußerung verleitete, dass »solche Leute« es dort sicherlich auch öffentlich wie die Hunde trieben. Meine Fantasie war schon so weit entwickelt, dass ich mir Frau Alt dabei bellend vorstellte.

    Oder sei es der zweite Mann der Tanzlehrerin Beer-Trost, die von meiner Großmutter inständig gehasst wurde, weil Frau Beer-Trost – damals noch bloß Frau Beer – 1949 mit meinem Großvater nicht nur intensiv zu den »Capri-Fischern« getanzt, sondern sich mit ihm auch zwei Stunden außerhalb des Ballsaales im Kurpark »unterhalten« hatte. »Solange kann sich doch kein Mensch unterhalten« war der allseits nickend aufgenommene Kommentar der Großmutter. Dieser geschlagene Mann hatte als Polizist die Aufgabe, die Bürger der Stadt vor dem Besuch des Skandalfilms Das Schweigen auf ihre Volljährigkeit hin zu kontrollieren. Später kam durch eine Indiskretion des Filmvorführers heraus, dass er sich den Film vorher in einer Privatvorführung mit der Kinobesitzerin angeschaut hatte. »Öffentlicher Dienst«, empörte sich die großmütterliche staatsbürgerliche Gesinnung, »aber bei so einer Frau kein Wunder.«

    Spannend wurde dieser Intensivkurs an Gemeinheit, Tratsch, Intrigen, Verleumdung und Bigotterie, der mich auf mein späteres Leben im schwulen Klassenkampf bestens vorbereitete, wenn das Gespräch auf den Sohn der Wäschereibesitzerin Steinmetz kam. Dieser verlorene Sohn war dem Terror der Kleinstadtgrabenkämpfe nach Berlin entflohen, um den Beruf des Tänzers zu ergreifen. Oder, wie ich später erfuhr, zu erschlafen. Nach dem Urteil der migränischen Tante Inge waren Tänzer ja schon von vornherein keine richtigen Männer, da sie alle dürre Beine hätten und nicht so muskulöse wie ihr angetrauter, im Sportverein seine Freizeit verbringender Oberamtsrat. In Anbetracht ihres häuslichen Karl Valentins enthielt sich die gemütliche Tante Ute eines witzigen Kommentares.

    Dieser Wäschereibesitzerinnensohn hatte nun wirklich die Stirn, nach Bad D. zu kommen und mit einem Mann (!), der einen roten (!) Pullover trug, seine Mutter zu besuchen. »Die arme Frau«, solidarisierte sich meine Großmutter, »erst Kriegerwitwe und dann so etwas.«

    Tante Gisela schaute noch verständnisloser als sonst durch ihre dicken Gläser und konnte die mitgesprochenen Ausrufezeichen noch immer nicht im Sinne der Anklage interpretieren.

    Frau Dengler, die unter der Steinmetz’schen Wohnung lebte und genau mitbekommen habe, dass der Sohn der Frau Steinmetz mit seinem »Kumpel« in einem (!) Bett geschlafen habe, wurde als Kronzeugin bemüht. Die melissengeistreiche Tante Gisela verstand immer noch nicht die Anführungsstriche und konterte diesen angeblichen Beweis eines ungeheuren Verbrechens mit dem Hinweis, dass die Frau Steinmetz ja nur eine Zweizimmerwohnung habe. Auch die Hinzufügung des Dengler’schen Indizes, dass diese nachts so »komische Geräusche« gehört habe, konnte Tante Gisela nicht aus ihrer Arglosigkeit befreien.

    Meine Oma rang, »mit Rücksicht auf das Kind«, nach einem unverfänglichen Wort. Als Deus ex Machina sprang da die hilfreiche Tante Irene ein, die wegen ihres Krankenpflegelehrgangs im Kriege auch als psychologische Sachverständige galt: »Ei, Gisela, merkst du es immer noch nicht. Der Sohn ist ein bisschen DUDUDU.«

    Der Fuchs war in der Verkleidung des Wortes DUDUDU in den Hühnerstall eingebrochen. Ein aufgeregtes Gegacker vermischte sich mit aufgesetzten Kaffeetassen, Tante Ute nahm sich schnell noch ein Stück Kuchen, und die wissende Großmutter holte eine Gelonida – für Tante Inge – und einen Eierlikör – für Tante Gisela – aus dem Wohnzimmerschrank, auf dem die Verdiensturkunden meines Großvaters – »Er hat sich um das Bäckergesangsvereinswesen verdient gemacht« – aufgereiht standen. Den Enkeln zum Vorbild. Den Gästen des Hauses zum Neid.

    Verschiedenste Theorien zum »Sosein« des Wäschereibesitzerinnensohnes wurden in der Expertinnenrunde doziert. Mal war es die fehlende väterliche Hand des bei Stalingrad gefallenen Erzeugers. Mal der Lebenswandel der Mutter, die sich zu Schwarzmarktzeiten nicht zu schade gewesen sei und es mit Franzosen getrieben habe. Und dass der Helmut, so hieß der Schandbare, schon als Kind so was Gewisses im Blick gehabt und nie Fußball gespielt habe, erkläre wohl alles.

    Ich war froh, dass mich während des Geschnatters niemand beachtete und somit auch niemand bemerkte, wie ich knallrot geworden war. Die drei Silben DUDUDU hatten meine Kindheit beendet.

    DU DU DU

    Das stand für anders sein, ausgeschlossen sein, nicht normal sein. Das bedeutete Aufgeregtheit, Empörung, Verachtung der Tantenschar, die für mich die öffentliche Meinung symbolisierte. Dass es 1964 auch für Kriminalität stand, das wusste ich noch nicht. Ich erfuhr es erst später aus Stern-Berichten über den Knabenmörder Jürgen Bartsch. Dass es auch irgendwie für mich stand, das ahnte ich aber. Sonst wäre ich ja nicht rot geworden.

    Aber was war es genau? Zum Ersten schlafen zwei Männer zusammen im Bett und machen komische Geräusche. Zum Zweiten sind es keine richtigen Männer, sie haben dürre Beine, sind Tänzer und leben in Berlin. Außerdem tragen sie rote Pullover.

    Ich begann, meine Beine zu betrachten – sie waren Gott sei Dank nicht dünn –, rote Pullover zu hassen und alle Zeitungsartikel, die über Berlin erschienen, eifrig zu lesen. Aber immer war nur von Willy Brandt, der Mauer und irgendwelchen Passierscheinabkommen zu lesen, nie von Balletttänzern.

    In meiner Not blätterte ich sogar die Otto-Versand-Kataloge meiner Großmutter durch und betrachtete die Unterwäschereklame. Es war etwas Neues in mein Dasein gekommen.

    Nicht, dass ich nicht schon früher etwas mit Männern im Sinn gehabt hätte. Mit vier Jahren hatte ich sogar mein erstes Sexualerlebnis, auch wenn es mir als ein solches erst später bewusst wurde. Ich freute mich damals immer auf das samstägliche gemeinsame Baden mit meinem Vater und das Hoppe-Hoppe-Reiter-Spielen mit ihm. Das Pferd war dabei sein Knie und seine Oberschenkel die Rutschbahn. Dass ich dabei einmal, nach vielen Rutschversuchen, ein ganz neues Gefühl bekam und in die Badewanne pinkelte, das interpretierte ich damals noch nicht als Orgasmus.

    Und dass es mich später mehr anzog, im Schwimmbad auf dem Schoß meiner Onkel zu sitzen als auf den zellulitischen Schenkeln meiner Tanten, hatte mir nie das Gefühl gegeben, anders zu sein. Erst das Verdikt DUDUDU machte mir klar, dass es noch etwas anderes auf der Welt geben musste als die Lebensweisen, die mir als normal und allgemeingültig vorgelebt wurden. Auf der Welt? Ja. In Berlin? Ja. Aber hier in Bad D.?

    Ich fieberte Weihnachten entgegen, an dem der Wäschereisohn normalerweise seine Mutter besuchte. Ich postierte mich vor seinem Haus in der Hoffnung, mit ihm in Kontakt zu kommen. Er kam aus dem Haus, ging an mir vorbei und beachtete mich nicht. Mein einziger Berührungspunkt zu dieser obskuren Welt nahm mich nicht wahr.

    Da dieser mich ignorierende Berührungspunkt nicht nur einen Kumpel hatte, der rote Pullover trug, sondern selbst auch rötlich blonde Haare – genau wie unser früheres Dienstmädchen, das zudem noch weißhäutig war und feuchte Hände hatte –, beschloss ich, in Zukunft rothaarige Männer zu hassen.

    Ich beschloss überhaupt viel in diesen Weihnachtstagen. Mir war klar, was ich wollte. Ich wollte mit Männern im Bett liegen. Dazu musste ich nach Berlin. Der einzige Weg, nach Berlin zu kommen, war der des Studiums. Dazu musste ich Abitur machen. Und deswegen beschloss ich, ein guter Schüler zu werden. Meine schulischen Leistungen verbesserten sich schlagartig. Meinen Lerneifer erklärten meine Großeltern den Nachbarn stolz mit der Wirkung des beschützten Zuhauses, das sie mir böten.

    Aber bis zum Abitur waren es noch sieben Jahre. Sieben Jahre sind eine lange Zeit, wenn der Otto-Versand-Katalog nur zweimal im Jahr erscheint.

    Wie so oft gab die allwissende Tante Irene den Anstoß. Da sie im Buchklub war und des Öfteren populärwissenschaftliche medizinische Ratgeber zum Einschlafen las, verkündete sie bei einem der Gute-Ruf-Schlachtfeste als Sachverständige, dass solche Kreaturen wie der Wäschereisohn ja, Gott sei Dank, nur im Verhältnis 1 : 100.000 vorkämen. So konnte ich mir leicht ausrechnen, dass ich das einzige Exemplar dieser Spezies im Landkreis um Bad D. war. Aber in der nahen Großstadt, in der mein Vater den guten Ruf der Familie mit Füßen trat und die zusammen mit ihrer Schwesterstadt am anderen Ufer des Rheines über vierhunderttausend Einwohner beherbergte, müssten mindestens vier solcher Männer wohnen.

    Ich widmete die vierzehntägigen Besuche im alkoholischen Reich meines Vaters zu Erkundungszügen durch die Straßen der Stadt um. Den ganzen Spätwinter und das Frühjahr hindurch lernte ich bei diesen Streifzügen die Schaufensterauslagen auswendig, ohne allerdings den Artikel zu finden, der mich am meisten interessierte.

    Im Sommer saß ich stundenlang auf Parkbänken. Leider suchten nur Rentnerinnen das Gespräch mit mir, um mir von ihren Enkeln zu erzählen. Im Herbst, der in jenem Jahr sehr kalt war, erfroren mir beim Spazierengehen fast die Finger, und ich beschloss, wieder einmal, unverrichteter Dinge nach Hause zu fahren. Dank dem Himmel versäumte ich die Rhein-Haardt-Bahn, die um 17 Uhr nach Bad D. fuhr. Die nächste ging erst zwei Stunden später. Ich hatte noch eine Mark und suchte im nahe gelegenen Hallenbad eine Wärmestube. Fünfzig Pfennig Leihgebühr für die Badehose, fünfzig Pfennig für den Eintritt in das Paradies, als das es sich später für mich herausstellte.

    Im Gegensatz zum Hallenbad in Bad D., in dessen beiden Duschkabinen die Badegäste durch einen Vorhang vor unbefugten Blicken abgeschirmt waren und in denen man zudem noch in Badekleidung duschte, kündete hier ein Schild, dass beim Duschen alles abzulegen sei. Als ich die Tür zu dem dampfenden Duschraum öffnete, war ich Hans im Glück. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich nackte Männer. Und zwar nicht einen, nicht zwei, nicht drei – eine ganze Armee bot sich meinen Blicken dar. In der Gesamtheit der Duscher war die Gesamtheit der Jugendbettträume versammelt. Ein Versandhauskatalog ohne Unterhosen. Die Halsschlagader pulsierte.

    Die meisten duschten nur kurz und gingen dann in die Schwimmhalle. Ein Teil jedoch schien sehr reinlich zu sein, seifte sich intensiv ein, spülte den Schaum ab und seifte sich wieder ein. Andere wiederum halfen sich gegenseitig bei der Körperpflege. Sie seiften dem jeweils anderen die schwer zugängliche Rückenpartie ein.

    Ich bekam Augen wie eine Wildsau in der Duldungsstarre. Ich muss wohl einige Sekunden zu lange geschaut haben. Jene entscheidenden Sekunden, die einen Hetero- von einem Homoblick unterscheiden, jenem Insiderblick, bei dem sich zwei Pupillen für den Bruchteil einer Sekunde treffen und dem anderen signalisieren: »Ach, du auch.«

    Einer löste sich aus der Reinigungsmannschaft, trat auf mich zu und begann, mir den Rücken einzuseifen. In meiner Not musste ich mich mit der Vorderseite eng an die gekachelte Wand drücken, um eine Reaktion, die mir hier in der Öffentlichkeit unschicklich schien, vor den anderen zu verbergen. Nach ausgiebiger Einseifung des Rückens bewegte sich die pflegende Hand dem Hüftknochen und der Stelle zu, an der damals gerade jene Haare zu sprießen begannen, die man sich Ende der achtziger Jahre aus Modegründen wieder abrasierte. Jetzt wurde aus der duldungsstarren Wildsau eine hysterische Ziege. In panischer Angst zog ich meine Badehose an und floh in die Schwimmhalle.

    Ich durchlebte eine Achterbahn der Gefühle. Hie die Wollust, da die höchste aller Autoritäten, der Bademeister, der mich zu beobachten schien. Hat er bemerkt, dass ich nicht normal bin?

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