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Pommes und Scampi: Ruhrpott meets Italy
Pommes und Scampi: Ruhrpott meets Italy
Pommes und Scampi: Ruhrpott meets Italy
eBook361 Seiten5 Stunden

Pommes und Scampi: Ruhrpott meets Italy

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Über dieses E-Book

Tanja Karpinski ist die Tochter von bodenständigen, einfachen Eltern aus dem Ruhrpott, die es mit viel Fleiß und Geschäftstüchtigkeit zu mehreren Imbiss-Buden und damit zu Wohlstand gebracht haben. Doch Tanja leidet ein bisschen unter dem "kulturellen Background" ihrer Lieben, vor allem, nachdem sie ihre Freundin Lioba kennenlernt, die aus einer vornehmen Akademiker-Familie stammt.
Tanja ist eher still und zurückhaltend, ziemlich ambitions- und leidenschaftslos, aber das ändert sich schlagartig, als sie sich am Ende ihres Studiums in Luigi, einen Italiener verliebt und ziemlich schnell zu ihm nach Italien zieht.
Hier lernt sie nun ihre neue und völlig andersartige Familie kennen, aber auch die ist gewöhnungsbedürftig und sie muss sich mit vielen neuen Gegebenheiten auseinandersetzen und sich auch noch einer anderen Herausforderung stellen:
Roberta, der selbstsicheren und attraktiven Kollegin von Luigi.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum28. Feb. 2014
ISBN9783849576097
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    Buchvorschau

    Pommes und Scampi - Ricarda Berlin

    1. Kapitel

    Um es vorab zu sagen: ich liebe meine Eltern sehr und vermisse sie, wenn ich sie länger nicht gesehen habe, denn sie sind lieb, herzlich, großzügig, aufgeschlossen und fröhlich. Es hat auch nie ernsthafte Probleme zwischen uns gegeben, denn ich bin ihr Ein und Alles, ihre Tochter auf die sie stolz sind und der sie alles verzeihen.

    Ihr einziger Nachteil ist: sie sind manchmal ein kleines bisschen peinlich.

    Es fängt schon bei meiner Namensgebung an, denn es reichte nicht nur unser Nachname Karpinski, nein - sie gaben mir den schön dazu passenden Vornamen Tatjana.

    „Wenn schon Ruhrpott-Adel, dann auch richtig, datt klingt doch, wie ‘ne polnische Gräfin!", entgegnete mir damals mein Vater, als ich ihm in meiner Pubertät deswegen mal Vorwürfe gemacht hatte. Zum Glück nannten mich die meisten schon nach kurzer Zeit nur Tanja, was ich irgendwie erträglicher fand.

    Zu meiner Familie gehören da noch die zwei Omas, in unserer Familie mit zwei mm’s gesprochen, also die „Ommas", beide verwitwet, die ich in den ersten Jahren Mama-Omma oder Papa-Omma nannte, um sie zu unterscheiden.

    Wir alle stammen aus dem tiefsten Kohlenpott, aus einem Vorort von Duisburg. Der Mann von Mama-Omma war am Ende sogar Revier-Steiger

    „Datt war echt ein Sprung inne Karriereleiter!", pflegte diese zu sagen.

    Die andere dagegen war nur die Witwe eines einfachen Hauers…

    „…aber von einen echten Held!", wie wir öfter zu hören bekamen, denn er, der uns auch den schönen Namen Karpinski hinterlassen hatte, rettete einst drei Kumpel, die in einem Stollen nach einem Gebirgsschlag festsaßen. Als die drei dann bereits im sicheren Aufzug waren, löste sich ein Stein und traf meinen Opa tödlich am Kopf.

    Da ich von der anderen Seite den Namen Safranzky geerbt hätte, haderte ich irgendwann auch nicht mehr mit meinem Schicksal und nahm meine Namen hin.

    Irgendwie war klar, dass mein Vater in der Tradition weitermachte und ebenfalls in den Bergbau ging. Er heißt Leo, wie die Siegertaube aus dem Taubenschlag von meinem Opa, die ihm im Brieftaubenverein eine Menge Preise und sogar ein wenig Geld gebracht hatte.

    Meine Mutter Anne-Marie, kurz Annemie genannt, begann dagegen zunächst eine Lehre als Friseuse, die sie jedoch abbrechen musste, da ihre Haut allergisch auf all die chemischen Produkte reagierte. Pragmatisch, wie Menschen in meiner Heimat nun mal eben sind, folgerte ihre Familie nun, dass sie eben nur Kontakt zu natürlichen Stoffen haben dürfe, und was ist natürlicher als frisches Fleisch? Also wurde sie Fleischerei-Fachverkäuferin und legt auch Wert auf den ganzen Titel, um klar zu machen, dass sie eine echte Lehre absolviert hatte, wobei sie das Wort „Fach" dabei immer besonders betonte. Sie blieb der Metzgerei, in der sie die Ausbildung beendete, treu und lernte darum mit fast fünfundzwanzig Jahren auch irgendwann meinen Vater kennen, der dort Kunde war.

    Die beiden mochten sich auf Anhieb, und es begann eine große Liebe, die bis heute hält. Aber zunächst war ihre Zukunft sehr vage, denn es begann die Zeit der Zechen-Stilllegungen, und mein Vater bangte stets um seinen Arbeitsplatz.

    An irgendeinem Sonntag nach ihrer Verlobung lud meine Mutter ihn nach Dinslaken auf die Trabrennbahn ein. Mein Vater setzte dort zum allerersten und allerletzten Mal auf ein Pferd und gewann einige Tausend Mark.

    „Datt iss ‘n Zeichen von da oben!", meinte er, und als sich ein weiteres Zeichen zeigte, indem man den Mitarbeitern seiner Zeche Mathilde II, die freiwillig kündigten, eine ordentliche Abfindung bot, nahm er diese an und quittierte den Dienst unter Tage.

    „Watt willze jetz machen?", fragte Annemie ihren Leo.

    „Datt wird mich der Himmel schon zeigen!", meinte mein Vater, fuhr danach auf dem Ruhrschnellweg zu nah auf und beim Bremsen direkt in einen Camping-Anhänger hinein. Der Anhänger entpuppte sich als Pommes-Wagen, dessen Besitzer über den Unfall heilfroh war, da er den Schaden als Totalschaden deklarieren konnte, obwohl es gar nicht so schlimm war, er hatte nur keine Lust mehr, von Kirmes zu Kirmes zu fahren und dort Pommes zu verkaufen.

    Das war das dritte Zeichen des Himmels, wie mein Vater es empfand. Er kaufte den Anhänger für sehr wenig Geld und er und sein Freund Harald brachten ihn total auf Vordermann. Mit dem gewonnenen Geld kaufte er neue Fritteusen, Grill und Herdplatten und nun war auch die Fleischerei-Fachverkäuferin gefragt, die die Qualitätsware bei ihrem Chef zum Sonderpreis bekam.

    Vielleicht hatten die beiden nie eine große schulische Leistung gezeigt, aber ihr Fleiß und Geschäftssinn waren unglaublich. Keine Kirmes, kein Fußballereignis, das die beiden nicht aufsuchten und „Leos Frittenbude war schon bald bekannt, da Qualität, Hygiene und Freundlichkeit alle Voraussetzungen erfüllten. Auch der richtige Tonfall kam bei den Kunden an, und wenn dann einer sagte: „Eine Tüte Pommes und mach mich auch ein Bier!, fragte mein Vater stets:

    „Und? Willze die Pommes rot oder weiß?", und wenn der Kunde zögerte, sagte er:

    „Gut! Ich mach dich datt beides!", und ließ sich das nicht extra bezahlen.

    In kürzester Zeit verdienten sie eine Menge Geld, eröffneten auch neue Imbissbetriebe und mussten dann ganz schnell heiraten, da ich bereits unterwegs war. Da beide mit zunehmendem Wohlstand auch an Körperfülle zunahmen, merkten sie zunächst gar nicht, dass ich schon lange auf dem Wege war. Ein Einzelkind jedoch blieb ich weniger, weil ich etwa eine schwere Geburt war, sondern mehr, da meine Mutter die letzten Wochen der Schwangerschaft im Krankenhaus verbringen musste und dort - mittlerweile sehr aufgedunsen - auf geringe Flüssigkeitszufuhr eingeschränkt wurde. Die schlimmen Wehen, bei denen sie immer: „Mein lieber Scholli! Mein lieber Herr Gesangsverein! stöhnte, waren sogar weniger traumatisch als die „Durststrecke vorher.

    „Datt war wie inne Sahara!", pflegte sie diese Erzählungen auszuschmücken

    … Da träumze schon von grünen Salat und saure Äpfel, sonn’ Durst hasse! Aber nich mal datt krisse!

    Nach der Geburt nahm sie einfach nicht mehr ab. Wenn man pingelig ist, könnte man sogar behaupten, dass sie nach der Geburt sogar ein bisschen mehr wog als am Tag vorher. Wurde sie auf diese Tatsache mal angesprochen, kam ihr unlogischer Kommentar:

    Tja, datt iss eben so bei eine Schwangerschaft! Ein bissken Schwund iss immer!.

    Erschwerend kam hinzu, dass sie hautenge Leggings, Miniröcke und knallenge Oberteile liebte. Ihre Lieblingsfarbe war eindeutig ein kräftiges Pink, was man am Lippenstift, dem Nagellack und den Plastik-Ohrclips unschwer erkennen konnte. Gottseidank hatte sich das kräftige Pink mit zunehmendem Alter in ein kräftiges Blassrosa gewandelt, was aber dennoch sehr im Kontrast zu ihrer blassen Haut, den blassblauen Augen und dem platinblonden Haar, das zu einer kolossalen Aufsteckfrisur toupiert war, stand.

    Hier kommt meine Tante Friedchen ins Spiel.

    Friedchen, die eigentlich Elfriede heißt, ist die jüngste Schwester meiner Mama-Omma, ein absoluter Spätnachkömmling - ein kleiner Unfall in den vermeintlichen Wechseljahren und deshalb nur knapp 8 Jahre älter als meine Mutter. In ihr fand meine Mutter wohl auch das modische Vorbild, da sie eher ihre große Schwester als ihre Tante ist, und sie war auch die Besitzerin des Friseursalons, in dem meine Mutter vergeblich ihre erste Lehre begann.

    Tante Friedchen ist eiserne Junggesellin, aber dennoch keine Kostverächterin, was Männer betrifft. Es war besser, sich vor jedem Fest zu informieren, wie der jeweilige Begleiter gerade zurzeit hieß, da sich das recht schnell änderte. Daran war aber nicht etwa eine unmoralische Einstellung Schuld, sondern - ganz im Gegenteil - der ausgeprägte Emanzipationsgeist meiner Tante. Hatte es mal einer bis in ihr Bett geschafft, wurde er danach einigen Härtetests unterzogen und nicht etwa nur in der Nacht! Es folgten vielmehr schlimme Tage und gemeine Prüfungen. Zunächst mal wurde er aufgefordert, Frühstück zu machen. Scheiterte er schon an dieser Aufgabe, konnte er gleich gehen und wurde aus dem Telefonregister gestrichen. In den nächsten Tagen musste er nun weitere Hausaufgaben bewältigen, wie Geschirrspülen, Abfall runterbringen, einkaufen und Wäsche aufhängen (Waschen wurde nicht vorgesehen, da zwei Kandidaten einmal teure Dessous bei 60 Grad gewaschen hatten). Nahmen sie auch das noch klaglos und lächelnd hin, ließ sie sie dann einmal pro Woche einen ganzen Abend vergebens auf sich warten und erschien erst sehr spät nach ihrem Kegelabend mit all ihren beschwipsten Freundinnen aus dem Kegelclub „6 heiße Kugeln", obwohl sie sieben Frauen waren. Von nun an musste der Kandidat kichernde, kreischende Weiber, zotige Witze und manchen derben Schlag auf den Oberschenkel ertragen. Nahm er auch dies noch klaglos hin, gehörte er echt zur engen Wahl.

    Aber viele fühlten sich auch echt wohl im „Penthouse" meiner Tante Friedchen mit einem riesigen Dachgarten, auf dem sich ein großer Kühlschrank voll mit Bier, Sekt, Schnaps und eingelegten Rollmöpsen befand und der einen unglaublichen Blick auf die Dächer und Antennen unseres Duisburger Vorortes bot. Die große, moderne Küche versprach mehr, als sie hielt, aber dafür gab es ja zu jeder Tageszeit Gutes von meinen Eltern. Zum großen Schlafzimmer habe ich keine Informationen.

    Im selben Gebäude unten war ihr Laden „Salon Elfi" in - natürlich - pinkfarbenen Lettern auf dem Schaufenster und zart-duftigen Tüllgardinen an den Seiten.

    Die letzte große Hürde für einen möglichen Heiratskandidaten war dann ein Familienfest mit uns allen. Nach leckerem Essen und reichlichem Trinken, sah sich nun so ein Kandidat unserer lauten Familie ausgesetzt, in der jeder unablässig versuchte, irgendwelche Anekdoten zum Besten zu geben, was angesichts des Duisburger Temperaments gar nicht so einfach ist. Wer das überstand, musste Tante Friedchen echt lieben. Und das war wohl nur einer: Heiner!

    Er war der einzige, der alles klaglos lächelnd hinnahm, still ertrug, was nicht zu umgehen war, stets eine gute Miene zum bösen Spiel machte und sich sogar animiert fühlte, ihr wegen der allzu großen Zuneigung unserer Familie ihm gegenüber, an einem Abend irgendwann vor allen einen Heiratsantrag zu machen.

    Zum ersten Mal schwieg unsere Familie einige wenige Minuten betroffen und gerührt, auch Tante Friedchen, die sogar vor ihrer Antwort ins Bad musste, um sich den eisgrauen Lidschatten und die nachtblaue Wimperntusche von der Wange zu wischen, musste sich zusammennehmen, um dann, als sie frisch geschminkt zurückkam, sehr förmlich auf den Antrag zu erwidern:

    „Heiner, mein Lieber, ich nehme deinen Antrag an. Ich sach dich dann später noch, wann!"

    Dann wurde das gemacht, was man in meiner Familie besonders liebte: gefeiert.

    Von nun an gehörte er zur Familie, obwohl sie allerdings dann doch nie geheiratet haben. Genau genommen, haben sie sich sogar getrennt, aber als Freunde. Als nach weiteren 3 Jahren immer noch keine Heirat geplant war, fragte die Familie doch mal kurz nach:

    „Sach ma, Friedchen, iss eigentlich alles in Ordnung mit Heiner?"

    „Ja sicher! Warum fragt ihr?"

    „Ich mein ja nur! Ihr wolltet doch ma heiraten!"

    „Ja, schon. Aber ich weiß nich! Der iss lieb und nett und alles, der macht auch alles, iss ‘n echt guter Kerl, aber der iss auch irgendwie ein bissken langweilig!"

    „Aber der sieht doch ganz gut aus, hat sogar Geld und später ‘ne gute Pengsion!"

    „Doch, der zieht sich auch echt chic an und pflegt sich, der hat sogar noch gute eigene Zähne, aber irgendwie sieht der doch bescheuert aus!"

    „Aber datt iss kein Schlechter!"

    „Nee, ein Schlechter iss datt nich, aber auch nix für mich!"

    Damit hatte sich das Thema erübrigt, es war alles gesagt. Nach weiteren 2 Jahren zog Heiner sogar wieder bei Tante Friedchen aus, blieb aber ihr Freund und fühlte sich weiterhin auch mit uns verwandt, nur scheint uns, ist er danach zum anderen „Ufer" gewechselt und kam dann plötzlich zum Adventskaffeetrinken mit einem männlichen Begleiter, der Tante Friedchen anfangs meistens giftig und argwöhnisch ansah und sich mit blassen, zusammengekniffenen Lippen immer diskret, aber mit weit aufgerissenen Augen in unserer Wohnung umsah.

    Um alle familiären Informationen zu vervollständigen, darf die Beschreibung meines Elternhauses nicht fehlen.

    Wir wohnen in einem Reihenhaus einer ehemaligen Bergmannssiedlung, das nach den Zechenstilllegungen günstig zum Kauf angeboten waren und mein Vater deshalb kurz nach meiner Geburt erwarb und nach und nach ausbaute. Im Häuschen nebenan wohnen meine Omas, denn das hatte der Mama-Opa schon vor langer Zeit erworben und „… weil er dafür sein Leben lang hart inne Grube schuften musste…", wollte meine Oma das Häuschen auch nie mehr verlassen. Da sie sich aber mit der Schwiegermutter ihrer Tochter regelrecht angefreundet hatte, beide verwitwet und ohnehin dieselben Interessen hatten, wie z.B. an unserem Familienleben teilzunehmen und mindestens dreimal in der Woche auf den Friedhof zu gehen, lebten sie praktischerweise zusammen. Bei ihnen im Haus war alles noch fast wie damals und obwohl es Fernheizung gab, benutzten sie vorwiegend immer noch den alten Brikettofen im spärlich eingerichteten Wohnzimmer mit der Sitzgarnitur aus der Vorkriegszeit, die aber alle 20 Jahre neu bezogen wurde. Die Küchenmöbel waren zwar mittlerweile modern, aber trotz Spülmaschine wurde mit der Hand gespült und abgetrocknet, so wie sie alle Innovationen, die sie als Geschenk von meinen Eltern erhielten, wie z.B. einen elektrischen Eierkocher, zunächst skeptisch betrachteten und dann als unnütz, aber wertvoll und sicherlich teuer, dekorativ in ihre Küche stellten, genau neben das alte Emaille-Töpfchen, in dem weiterhin die Eier gekocht wurden. Ihre Schlafzimmer hatten den Charme der 50-er Jahre und über jedem Doppelbett hing ein großes Jesusgemälde in Öl. Bei der einen Oma war es Jesus beim Spaziergang mit seinen Jüngern im deutschen Eichenwald, bei der anderen Jesus, der am Möhnesee steht und dort die Arme segnend ausbreitet.

    Unser Haus nebenan dagegen wurde bald vergrößert und modernisiert. Unten gab es einen Durchbruch, sodass wir ein großes Wohnzimmer hatten, eine ziemlich große moderne Küche, leider in orangefarbenem Hochglanzlack und ein kleines Gäste-Klo mit ockerfarbenen florentinischen Kacheln, weinrotem Marmorboden aus hochwertigem Kunststoff, brauner Sanitäreinrichtung mit vergoldeten, schnabelförmigen Armaturen.

    Im Wohnzimmer protzte ein riesiger Perser mit irrem Muster, das fast vor den Augen verschwamm, an den Wänden gab es barocke, honigfarbene Wandschränke aus massiver Eiche und eine giftgrüne Ledergarnitur, vor der ein großer Glastisch mit vergoldeten Beinen in der Form von schlanken, korinthischen Säulen stand, lud zum gemütlichen Verbleib ein. In einem separaten Eichenschrank mittlerer Größe war der Fernseher versteckt, in einem zweiten neben der Garnitur die Stereoanlage und die Hausbar mit Beleuchtung. Überall gab es Brokatdeckchen als Untersetzer und alle Telefone hatten einen weinroten Schonbezug aus Samt mit Brokatkante. Die Lampen waren kitschige Lüster, in denen sich alle Stilrichtungen hemmungslos vereinigten und sie somit schon fast etwas wie Kunstobjekte waren, da sie die Trends von 1955 bis 1995 darstellten. Zu wissen, dass all diese Stücke in nur zwei Möbelgeschäften im Zentrum der Stadt, und zwar in den teuersten, erstanden waren, zeugt von einer ungeheuerlichen Konsequenz an Geschmacklosigkeit.

    Das Schlafzimmer meiner Eltern im ersten Stock gebe ich nicht der Öffentlichkeit preis. Dann gab es dort noch mein ehemaliges Jugendzimmer, das, sehr zum Kummer meiner Eltern, ein extrem schlichtes Kiefernholzzimmer war, da ich es selber aussuchen durfte. Dafür war das dunkelgrüne Marmorbad nebenan, ebenfalls mit vergoldeten Armaturen, unglaublich viel Schnickschnack, Nippes und bunten Glas-Karaffen, ebenfalls ein Unikat. Im sogenannten Büro, das auch die Funktion des Gästezimmers hatte, waren dagegen die guten Stücke aus ihrer Jugend in den frühen 50-er Jahren aufgestellt: hochglanzpolierte Lackschränke mit goldenen Einrahmungen in den verschiebbaren Glasscheiben, die einst zum Aufbewahren von Gläsern und Geschirr gedacht waren, beherbergten Akten, wie die daneben hinter der, damals als Kleiderschrank gedachten, Doppeltür. Alle alten Bilder, kitschigen Fotos und auf Karton geklebte Puzzles, die z.B. den Groß-Glockner und Van Goghs Sonnenblumen darstellen, sind in barocken Goldrahmen über und untereinander gehängt, eben Dinge, die zwar nicht mehr ins Ambiente unten passten, aber es nach Meinung meiner Eltern doch zu schade wäre, sie weg zu werfen.

    Der Hammer aber ist unsere Kellerbar! Neben dem ehemaligen Kohlenkeller, der nun als Getränkevorratsraum genutzt wird, lag die Waschküche, deren Hälfte zwei Toiletten weichen musste. Der ganze Rest ist ein niedriger, mit weinroter Samttapete bekleideter Raum, in dessen Mitte eine U-förmige Bar aus weißem Schleiflack steht, deren Oberfläche mit türkisfarbenen Kacheln ausgestattet und von schmiedeeisernen Geländern im mittelalterlichen Stil umrandet ist. Unter der Decke hängt ein Regal, das sämtliche Gläser und Flaschen beherbergt. Um den Raum grösser erscheinen zu lassen, ist eine Wand voll verspiegelt, allerdings im Abstand von wenigen Zentimetern von einer Art Nachttischlämpchen, mit roten Plüsch-Schirmchen dezent beleuchtet. Eine für den Raum viel zu potente Stereo-Anlage bietet dem Gast alles an Volksmusik, Trinkliedern und Schlagern, was Deutschland in seiner Subkultur so zu bieten hat. An Regalen, in denen sich Zinnkännchen, messingfarbene Urlaubsmitbringsel aus Tunesien, Väschen aus dem Schwarzwald und in Holzrahmen eingerahmte Sprüche wie „wenn‘s Arscherl brummt, ist‘s Herzl ‘gsund" hängen, vermitteln den Gästen gleich die Liberalität in diesem Hause.

    In der Gartengestaltung wurde sich auch noch mal ausgetobt. Im hintersten Eck des ca. 300 Quadratmeter großen Gartens mit englischem Zierrasen steht der erste Frittenwagen meiner Eltern mit der Aufschrift „Leos Frittenbude" samt Adresse und Telefonnummer, in dem Sonnenschirm, Gartenmöbel und Rasenmäher aufbewahrt sind. Neben dieser praktischen Anwendung soll er stets an die Anfänge erinnern und so eine Art Glücksbringer sein.

    Links daneben befindet sich Papas Goldfischteich, der jedes Jahr neu bestückt werden muss, da die Fische wegen Überfressens stets recht bald das Zeitliche bei uns segnen. Schmiedeeiserne Laternen beleuchten einen mit Fliesen ausgelegten Weg, dessen Rand mit italienischen Putten oder deutschen Gartenzwergen gesäumt ist. Als einzige Begrenzung zum schlichten Garten der Omas, in dem nur viele Ziersträucher stehen, gibt es 4 Vogelhäuschen in allen Stilrichtungen: vom einfachen Birkenholzschlag, über ein Schwarzwaldhäuschen aus Plastik, zu einem im Japan-Look bis hin zu meinem selbstgebastelten aus Zigarrenkisten, dem ersten Geschenk, das ich meinem Vater machte und er es deshalb stets repariert und ausbessert, weil es eben von mir ist.

    Neben unserer Verandatür steht eine Hollywoodschaukel (im Winter wird sie durch dicke Plastikfolie geschützt) und davor befindet sich ein tragbarer Springbrunnen, der, wenn er in Funktion ist, sein Wasserplätschern mit wechselndem Neonlicht in allen Farben unterstreicht.

    Es ist ein kleines Wunder, dass ich so völlig aus der Art geschlagen bin. Von jeher hasste ich Schweinebraten, Würste und Grillplatten, hasste alles Frittierte und stark Gebratene, was mich vor dem Übergewicht, wie bei meinen Eltern bewahrte. Ich war auch nie hellblond, sondern brünett und habe dunkelgrüne Augen und bevorzuge gedeckte Farben, hasse fast alles Bunte und habe von Geburt an auch eine eher leise Stimme.

    „Die kommt auf den Opa, der war auch immer so dünn und hat so wenig gegessen!", meinte die Mama-Omma, verschwieg aber, dass jener unter starker Silikose litt und deshalb auch so jung starb.

    Das Thema Essen war vielleicht der einzige Reibungspunkt zwischen mir und meinen Eltern, aber niemand von beiden konnte wirklich streng sein. Sagte mein Vater mal: „Datt Kind iss zu dünn!, erwiderte meine Mutter nur: „Leo! Jetzt lasse!.

    Meinte meine Mutter hingegen: „Du muss auch ma Fleisch essen, sonst wirsse krank!, sagte mein Vater „Jetz lasse! Essenstechnisch schlägt se eben ausse Art!

    Bei ihm war alles wirklich Wichtige in einer Beschreibung oder Diskussion „-technisch". Als ich mal eine Zeitlang morgens schlecht aus dem Bett kam und meine Eltern schon mit den Autoschlüsseln in der Hand auf mich warteten, meinte er:

    „Also, wenn aus dir watt werden soll, musse dich zeittechnisch noch mal am Riemen reißen!"

    Oder brauchte ich einen Taschengeldvorschuss schon in der Mitte des Monats, sagte er:

    „Finanztechnisch musse noch viel lernen!"

    Am schönsten aber war mal sein kläglicher Versuch, abzutasten, ob ich genügend aufgeklärt war.

    „Tanja, hör ma, ich wollt dich ma watt fragen!"

    „Was denn?"

    Er druckste herum und war ganz verlegen.

    „Bisse eigentlich so liebestechnisch auf dem Laufenden?"

    Ich starrte ihn wohl entsetzt an, er wurde rot und verbesserte sich.

    „Ich mein, hasse schon so jungenmäßig gesehen Kontakte, oder interessiert dich datt noch nich?"

    Ich schüttelte damals stumm den Kopf.

    „Ja ich mein ja nur, da kannze immer mit zu uns kommen, ich mein, wennze watt wissen willz. Du kriss echt auf alles eine Antwort, ich wollte nur gesagt haben, wennze mal so eine Auskunft brauchs, gehsse am besten gleich zu Mutti, die weiß datt auch! Die kann dir datt auch redetechnisch viel besser vermitteln als ich!"

    Meine pragmatische Mutter schüttelte nur den Kopf und sagte:

    „Papa wollte nur sagen, wennze die Pille brauchs, sachett rechtzeitig!"

    Ich war von jeher mangels Interesse an irgendetwas ein völlig ruhiges, in sich gekehrtes Kind, das lieber beobachtete und zusah, als etwas zu unternehmen. Still saß ich, meistens den Kopf auf meine Arme gestützt, am Küchentisch meiner Omas und hörte zu, wenn sie über ihre Friedhofsbekanntschaften sprachen, wer das schönste Grab hätte, wer sich gar nicht um die Pflege kümmerte und ob man nicht diese neue Witwe, Frau Hingsterkamp, mal zum Kaffeetrinken einladen sollte, da sie scheinbar über den Tod ihres Mannes, der sie übrigens zu Lebzeiten gar nicht so nett behandelt haben soll, nicht hinweg kam.

    Dass in meiner skurrilen Familie der Ruhrpott-Slang besonders ausgeprägt war, bemerkte ich immer, wenn ich die Tagesschausprecherinnen im Fernsehen sah und mir dann immer vornahm, so wie sie zu sprechen und nicht etwa wie meine Angehörigen.

    Deshalb war das einzige Spiel, das ich als Kind gerne spielte, die „Nachrichtensprecherin" und mit einem Blatt Papier in der Hand las ich sehr deutlich akzentuiert erfundene Nachrichten vor, z.B. dass der Hund von Herrn Kempkes aus der Schlegel-und-Eisen-Straße spurlos verschwunden sei, dass Frau Müller aus der Bochumer Straße auf dem Weg zum Einkaufen ihr Portemonnaie verloren hätte und ohne Lebensmittel wieder nach Hause zurückkehren musste und dass Frau Hingsterkamp demnächst zu einem Kaffeeklatsch bei Frau Safranzky und Frau Karpinski eingeladen würde.

    Und abends lauschte ich dann erneut den Nachrichten, um meine Aussprache noch weiter zu verbessern.

    Als mein Vater einmal beobachtete, wie ich gebannt die Nachrichten der Tagesschau verfolgte, meinte er zu meiner Mutter:

    „Mutti! Aus dem Kind wird noch ma watt ganz Großes, die hat viel aufm‘ Kasten und schlägt ausse Art!"

    „Wieso?", fragte meine Mutter erstaunt, die da wohl zum ersten Mal auf meine intellektuellen Anlagen aufmerksam gemacht wurde.

    „Ja hasse denn schon mal ein Kind gesehen, datt mit fünf Jahren jeden Abend am liebsten die Tagesschau guckt?"

    Meine Mutter grübelte etwas vor sich hin und erwiderte dann:

    „Vielleicht hasse Recht, Leo! Und? Watt meinze denn, watt se mal wird?"

    „Auf jeden Fall Akademikerin! Watt genau, wird sich noch finden!"

    Obwohl die beiden sehr leise gesprochen hatten, bekam ich ihren Dialog mit und auch wenn ich noch nicht wusste, was eine Akademikerin war, wusste ich, dass es ums Lernen ging und dass man mir viel zutraute. Deshalb nahm ich mir vor, auch in der Schule gut sein zu wollen.

    Bevor ich aber eingeschult wurde, veränderte sich in unserer Familie etwas.

    Onkel Harald, der beste Freund meines Vaters seit der Kindheit, verlor seine Frau, die er abgöttisch geliebt hatte. Seine Tochter Silke, ein Jahr älter als ich, war nun öfter bei uns zu Hause, obwohl sie im selben Haus mit ihren Großeltern wohnten, zu denen sie aber kein sehr herzliches Verhältnis hatten.

    Ich bekam aber nun mit, dass Onkel Harald mittlerweile sehr stark mit dem Trinken anfing.

    Abends saß er nun am Tisch meiner Eltern, hatte eine Flasche Doppelkorn vor sich und heulte und schluchzte, wie ein kleines Kind. Niemand konnte ihn wirklich trösten oder Halt geben, schon gar nicht Silke, die ihn eben auch vom Aussehen erst recht an seine Frau erinnerte, sodass er dann erneut in lautes, heiseres Weinen ausbrach. Fasziniert verfolgte ich, wie er stets auf dem Höhepunkt seines Ausbruchs ein halbes Wasserglas Doppelkorn in sich hineinschüttete, sich dann zwar etwas beruhigte, aber sobald die Wirkung des Alkohols ein wenig nachließ erneut Tränen und Rotz nur so flossen.

    Peinlich berührt beobachtete ich, wie ihn meine Eltern dann irgendwann aus dem Stuhl hoben, um ihn nach nebenan zu meinen Omas zum Übernachten zu bringen „…damit datt Kind nix davon mitkriegt!"

    Als einer der wenigen arbeitete Onkel Harald noch als Elektriker unter Tage, wo große Kollegialität und Mitgefühl herrschten, aber als alles nach einem halben Jahr nicht besser, sondern eher schlimmer wurde und er entweder gar nicht zur Arbeit erschien oder wenn, seine Arbeit eher eine Gefahr für alle darstellte, wurde er nach mehrmaligen Abmahnungen auch noch zu allem Unglück entlassen.

    Zwei Tage und zwei Nächte war er verschwunden, dann fand ihn mein Vater in einer Kneipe irgendwo im Duisburger Hafen und brachte ihn wieder zu meinen Omas. Es mussten noch zwei weitere Tage vergehen, bis er einigermaßen ansprechbar war, aber nun bekam er von meiner Familie eine Predigt zu hören, die nicht arm an Schimpfworten und unflätigen Ausdrücken war. Sogar meine harmoniesüchtige Mutter schrie ihn an:

    „Harald, watt bisse nur für ‘n egoistischer Birnemann! Wennze inne Gosse landen willz, iss datt deine Entscheidung, aber watt wird dann aus datt Kind? Und watt würde deine Gerti dazu sagen, wenn se dich jetz so sehn könnte!"

    Blass, stumm und immer noch verkatert, saß er vor unserem Familiengericht und nun liefen nur noch ein paar Tränchen der Reue und der Scham.

    „Ich weiß ja, datt ich Scheiß gebaut hab, aber nu isset zu spät. Mein’ Job kann ich abhaken!"

    Nachdem nun jeder, einschließlich der Omas und Tante Friedchen, kräftig abgelassen hatten und der Dampf nun raus war, nahm mein Vater ihn plötzlich unvermutet herzlich in den Arm und drückte ihn kräftig.

    „Harald, du bekloppter Armleuchter! Wozu hasse denn uns? Iss doch klar, datte jetz bei mir einsteigst, ich brauch schon längst eine rechte Hand, so, wie ich expandier! Und lass’ deine Alten in ihrem Häusken wohnen bleiben, die ham‘ sich noch nie richtig um dich und datt Kind gekümmert, aber jetz guck ma hier!"

    Und schon holte er umständlich einen schon seit Tagen angefertigten Plan aus einem großen, gelben Umschlag und zeigte ihm, wie man das Dach im Haus meiner Omas zu einem gemütlichen kleinen Appartement ausbauen würde. Es würde nicht sehr groß sein, aber für die beiden reichen.

    Ab diesem Tag also waren Onkel Harald und Silke adoptiert und ich hatte plötzlich so etwas wie eine Schwester, obwohl sie schon die letzten Wochen fast ohnehin nur bei uns verbracht hatte und bereits ein Zimmer unter unserem Dach für sie eingerichtet war. Ja, so waren meine Eltern, denn bei aller unglaublichen Geschäftstüchtigkeit, haben sie nie ihre menschliche Seite verloren. Onkel Harald war tatsächlich bald der zweite Chef und Mädchen für alles im Betrieb, was meinem cleveren Vater eben den Rücken frei hielt, damit „er noch mehr expandieren" konnte.

    Silke war ein wunderhübsches Kind mit mandelförmigen, smaragdgrünen Augen. Da mütterlicherseits einige Vorfahren aus dem slawischen Raum stammten, gaben die hohen Wangenknochen, der kleine, runde Mund und ihre unglaublich dichten, kastanienfarbenen Haare ihr ein fast puppenhaftes Aussehen und ihre kleine, zierliche Gestalt untermalten ihre Schönheit noch. Außerdem war sie lieb und großzügig, auch wenn mir ihre nassen Küsschen, die sie mir damals ständig gab, sehr auf die Nerven gingen. Ich war aber nun ihre kleine Schwester, die

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