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Denk an die Steine unter Deinen Füssen: Roman
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Denk an die Steine unter Deinen Füssen: Roman
eBook181 Seiten2 Stunden

Denk an die Steine unter Deinen Füssen: Roman

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Über dieses E-Book

Die elfjährigen Zwillinge Leonora und Marcio leben in einer Diktatur, deren Präsident durch einen Putsch entmachtet wird.
Ihre Eltern, einfache Landwirte, müssen hart ums Überleben kämpfen, sie gönnen sich nicht die Zeit, ihre Kinder zu lieben, schlagen sie stattdessen und nutzen sie als pure Arbeitskräfte aus. Die beiden suchen Zuflucht in der Schönheit der Natur und in ihrer anwachsenden leidenschaftlichen Intimität zueinander. Bis ihr Vater sie erwischt und sie voneinander trennt, indem er Leonora zu ihrem Onkel schickt. Marcio macht sich heimlich auf den beschwerlichen Weg, seiner Schwester zu folgen. Ein Weg, an dessen Ende ein ganzes Dorf zum Widerstand gegen korrupte Politik, Ausbeutung und menschliche Verödung aufsteht.
Ein Roman, der den rebellischen Geist feiert und daran erinnert, dass wir düstere gesellschaftliche Verhältnisse überwinden und ein selbstbestimmtes Leben führen können.
SpracheDeutsch
HerausgeberSecession Verlag
Erscheinungsdatum15. Okt. 2021
ISBN9783907336038
Denk an die Steine unter Deinen Füssen: Roman

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    Buchvorschau

    Denk an die Steine unter Deinen Füssen - Antoine Wauters

    ANTOINE WAUTERS

    DENK AN DIE STEINE

    UNTER DEINEN FÜSSEN

    ROMAN

    Die Arbeit des Übersetzers am vorliegenden Text wurde im Rahmen des Programms „NEUSTART KULTUR" aus Mitteln der Beauftragten des Bundes für Kultur und Medien vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

    Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

    Pense aux pierres sous tes pas.

    © 2018 Éditions Verdier, Paris

    Erste Auflage

    © 2021 by Secession Verlag für Literatur, Zürich

    Alle Rechte vorbehalten

    Übersetzung: Paul Sourzac

    Lektorat: Christian Ruzicska

    Korrektorat: Peter Natter

    www.secession-verlag.com

    Typografische Gestaltung:

    Marco Stölk und Erik Spiekermann, Berlin

    Satz: Marco Stölk, Berlin

    Herstellung: Daniel Klotz, Berlin

    Friedrich Pustet, Regensburg

    Gesetzt aus FF Hertz & FF Hydra

    ISBN: 978-3-907336-02-1

    eISBN: 978-3-907336-03-8

    Den Getrennten

    INHALT

    VORSPIEL

    1. DIE VERKLEIDUNG

    2. DIE BRÄNDE

    3. DIE NACHRICHT

    ZWISCHENSPIEL I: UNSERE ZEIT AUSSERHALB DER ZEIT

    4. DAS VERSCHWINDEN

    5. IHR FORTGANG

    6. DAS LEBEN BEI ZIO

    7. ZBABOU

    ZWISCHENSPIEL II: DIE ZEIT DER KINDHEIT

    8. DIE REGIME

    9. MEINE REISE

    10. DAS FIEBER

    11. MAMA LUNA

    12. DAS NEUE LEBEN

    13. DIE ÄRA DES WANDELS

    ZWISCHENSPIEL III: BRIEF VON PAPS AN SEINEN BRUDER PEPINO

    14. DIE RACHEAKTE

    15. ZIO

    ZWISCHENSPIEL IV: LETZTER BRIEF VON PAPS AN PEPINO

    16. DAS PÄCKCHEN

    17. MAMA LUNAS GESEGNETE RÜCKKEHR

    18A. DIE ÜBUNGEN

    18B. DIE ANDERE ÜBUNG

    ZWISCHENSPIEL V: DAS SCHICKSAL

    19. DER FUSSMARSCH

    ZWISCHENSPIEL VI: DER TRAUM

    20. UNSERE WELT

    ZWISCHENSPIEL VII: ZÄRTLICHKEIT UNTER VERZWEIFELTEN

    21. ETWAS UNMITTELBAR GUTES

    22. TOD UND WIEDERGEBURT DER HABDOURGA

    VORSPIEL

    Die Worte, die Ihr lesen werdet, sollen lediglich Zeugnis ablegen von unserer Geschichte, von unserer schwierigen Kindheit an bis zu den Zeiten des Friedens.

    Wir wurden nicht bezahlt dafür.

    Wir scheißen drauf, ob wir bezahlt werden oder nicht.

    Wir wollten es aufschreiben, weil man viel zu selten betont, dass die Schatten besiegt werden können.

    Und weil wir alle Klarheit brauchen.

    1. DIE VERKLEIDUNG

    Wir waren als Zwillinge zur Welt gekommen, doch mein Bruder war für mich stets der Ältere gewesen. Weil er der Junge war und sich mit Paps um das Vieh kümmern musste, brach er jeden Morgen in die Täler voller Nebel auf, wo kein Mensch lebte, die Flüsse aber nur so rauschten. Allein schon beim Gedanken an diese Dinge – ich hielt es nicht mehr aus, eingesperrt zu sein und Mams’ Standpauken zu hören, weil ich träumte, statt ihr zu helfen, weil ich einsam war und träumte, weil ich an ihn, an meinen Bruder, dachte – zerriss es mir den Bauch vor Lust: Ich träumte davon, mit ihnen zu fliehen und, wie sie, den Bauch der Tiere zu berühren. Die Unermesslichkeit. Den Himmel und die Erntefülle und die Gipfel der Berge.

    Wir beide waren ihnen lästig, und waren es immer gewesen. So sehr, dass Paps uns lieber nicht gehabt hätte, um sein ganzes Leben schlicht mit Mams zu verbringen, die ihn ganz verrückt machte mit ihren Hüften aus Marzipanmasse und den schweren, stets glänzenden Brüsten.

    Zwar glaube ich nicht, dass er uns hasste. Doch er musste bloß sehen, wie wir vor ihm umherrannten, oder uns manchmal auch nur hören, um vollkommen auszurasten: Er trat gegen die Stühle, zerbrach Vasen, brüllte und verzog sich dann für mehrere Stunden; wohin, erfuhren wir nie.

    Armer Paps.

    Mit jeder Faser hasste er unseren Präsidenten Desotgiu, der seit über zwanzig Jahren an der Macht war. Es ging ganz einfach: Sobald Desotgiu im Radio sprach, fuhr Paps in seinem Ecksessel auf und begann zu brüllen, erging sich in Beschimpfungen, spie seine Wut und seinen Hass aus, bevor er sich erhob, um den Apparat auszuschalten und noch einen letzten Fluch auszustoßen. Und sicher, Paps hatte recht, obwohl sich niemand, auch er nicht, offen beschwerte. Seit zwanzig Jahren nahm uns Desotgiu neunzig Prozent unserer Einnahmen weg, um sich luxuriöse Anwesen an der Küste errichten zu lassen. Seit zwanzig Jahren wurden wir von Steuern erdrückt, eine Menge Leute mussten plötzlich auf dem Boden schlafen wie räudige Hunde, doch all das erschien uns »normal« (die Dinge, die wehtun, vergisst man lieber, vergisst die Brutalität, mit der man zur Welt kommt, mit der man stirbt, mit der man sich trennt, man sagt lieber nichts, und solange einem noch ein Hauch von Atem bleibt, steckt man den Kopf in den Sand, um dann doch irgendwie zu leben). Wenn Paps diese Leute allerdings im Fernsehen sah, diese armen Schlucker, die alles verloren hatten, nannte er sie faule Säcke und Nichtsnutze, und er machte sich über sie lustig, sodass wir, um ihn nicht zu reizen, ebenfalls sagten, dass sie stanken, diese Penner, und dass wir, wenn wir ihnen nur eine reinhauen könnten, um ihnen zu zeigen, was es heißt, Schmerzen zu haben, ohne Zögern genau das tun würden.

    Bam!

    So waren wir damals: Wir dachten an nichts und kannten nichts. Bei uns, auf dem Land im äußersten Süden der Insel, zählte nur die Arbeit mit den Händen: Ernten, Kalbsgeburten, Milchproduktion, Tomatenpflanzungen. Keine Bücher bei uns, keine Platten, keine Gefühle. Bloß die alten Pornozeitschriften, die wir auf dem Heuboden des Vaters unseres Freundes Zbabou gefunden und aus reiner Neugier mit nach Hause genommen hatten. Nur dass uns diese Schweinereien kaltließen und es Paps war, der sie seither las.

    Wie alle Leute der Habdourga (der entlegensten Region des Landes) hatten wir einen kleinen Hof mit Tieren, ein kleines schmutziges Bauernhaus, ein Elendsquartier. Aber wir beklagten uns nicht. Tag für Tag erwachten wir im Licht und stierten zu den weit fortströmenden Flüssen, zum Bordughu, zum Irrighudu, große Flüsse, in denen wir seit jeher badeten. Dann begann die Arbeit: mein Bruder die Felder, ich die Wäsche; er das Vieh, ich den Hausputz und so weiter, tagein, tagaus. Wenn wir fertig geschuftet hatten, kehrten wir Paps und Mams den Rücken und sogen die frische Luft in uns ein, banden uns an Baumstämme fest – mit geschmeidigen Lianen, die wir außerdem rauchten, sowas von gesund und sowas von krank. Quicklebendig rannten wir rastlos unentwegt durch die Gegend, doch da es weit und breit keine Stadt gab, fühlten wir uns wie festgeschraubt. Aber wir lebten, und wie: Unser Leben nannte sich Freude.

    Ein-, zweimal im Jahr brachte Paps, um mit ihr allein zu sein, Mams in die nächstgelegene Ortschaft, in das gut siebzig Kilometer entfernte Santa Lucia. Was sie dort taten, habe ich nie erfahren, und eigentlich hat es mich nie beunruhigt, denn solange mein Bruder da war, war ich glücklich, ich war das glücklichste Mädchen von allen, alles andere war bedeutungslos.

    Und da wir die Dinge nicht trennten – das Leben ohne die Arbeit nicht denkbar war –, konnten wir uns schlapplachen und zugleich ranklotzen. Ich litt bloß, wenn ich mir mitten beim Melken oder weiß der Henker welcher Aufgabe vorstellte, wie sie Hand in Hand gingen, weit weg von uns, Eis essend in den Gassen von Santa Lucia, weil ich mich dann dem Verhungern nah fühlte, nicht geliebt, nicht gewollt und wie an den Bettelstab gebracht. Bettelnd um Liebe!

    Wenn sie tags darauf heimkamen, war alle Arbeit wie verlangt erledigt.

    – Ist gut, sagte Mams.

    – Ja sicher, sagte Paps.

    Dann spannte Mams mich wieder in die Arbeit ein und spulte ihre Leier ab (Jungen mögen Pferde, Gespanne, Peitschen, alles, was in Bewegung ist und Lärm macht; Mädchen dagegen ruhige Spiele, die ihrer Vorliebe für Hausarbeiten entsprechen, für schickes Aussehen und Plausch), und Paps – wir nannten ihn so wegen der patschenden Ohrfeigen, die er uns verabreichte, wegen der wütenden Hiebe mit dem Livraxiu, dem Ochsenziemer, den er an großen, denkwürdigen Abenden zum Einsatz brachte –, Paps kehrte auf die Felder zurück, mit meinem Bruder und dieser Art Sense, die ich bis heute nicht vergessen habe: Mit ihr hielt er die Tiere in Schach, schlug sie.

    So ging das Leben.

    Und dann, kurz nach unserem elften Geburtstag, wollten wir die Rollen tauschen. Nur ein paar Stunden, aus Neugier, aus Lust am Spiel. Mein Bruder als Mädchen und ich als Kerl. Wir waren neugierig und wollten einfach mal schauen. Wahrscheinlich wegen dieser warmen Bestie, die uns schon damals den Bauch zerfraß.

    Noch ganz überschwänglich, weil sie am Vortag erst aus Santa Lucia zurückgekehrt waren, war Mams an jenem Tag dabei, die Brote für Paps’ Picknick zu belegen, während Paps sich im kleinen Waschraum rasierte und wie Mams vor sich hin trällerte, trödelte, tiefenentspannt, ganz anders als an gewöhnlichen Tagen. Diesen Friedensmoment nutzten wir, um unseren Zimmerschlüssel zweimal im Schloss umzudrehen. Wir haben uns eingeschlossen. Langsam ist Marcio auf mich zugekommen, hat seine Kleider gelöst, sie zu Boden gleiten lassen, dann nach seinem Hemd gegriffen und aus der Tasche Mams’ schwarzen Stift hervorgeholt, um unter meiner Nase einen Flaum zu zeichnen, eine zarte Linie, ein kleines Schnurr-bärtchen. Ich habe sein Hemd und seine Hose angezogen, mit unbändiger Freude im Bauch.

    – Küss mich wie ein Mädchen, mein Bruder, sagte ich unbedacht, so gut fühlte ich mich, so innig mit ihm verbunden. Spiel das Mädchen, das küsst!

    Und er tat es. Er schob eine feine, ganz frische Zunge zwischen meine Lippen, ich schloss die Augen, weil sie auf die Suche gehen sollte nach geheimen Zeichen in meinem Mund, nach Malereien verschwundener Tiere und noch vielen anderen Dingen. Dann skalpierte ich unsere blonde Puppe Mary und klebte ihr Haar an das seine. Und nachdem er meinen Schlüpfer und meine Strümpfe, mein Kleid und den Rest angezogen hatte, stellten wir uns vor dem Spiegel auf und lachten los wie Geistesgestörte.

    Wir fühlten Weite in uns. Weite und Leichtigkeit.

    – Küss mich, mein Bruder. Küss mich!

    Als wir die Treppe herunterkamen, machte Paps sich frisch rasiert zu den Feldern auf, während Mams ihren Beschäftigungen nachging wie im Autopiloten, die Wäsche gegen das Licht haltend, um noch die kleinsten Löcher zu entdecken und wenn nötig zu stopfen. Wir grinsten noch kurz vor uns hin, weil es schön war, die beiden hereinzulegen. Dann leerte ich ein Glas Milch mit zugesetztem Salz und lief Paps hinterher. Auf die Felder. In die Unermesslichkeit.

    Natürlich merkte er nichts, als ich ankam, denn er blickte nicht einmal auf. Paps drosch auf die Erde ein, sein Körper war seine Hacke und er drosch und drosch, der Schweiß floss in Strömen und tropfte ins Korn und ins Gras, während alles in den Ebenen der Habdourga silbern zu glänzen begann. Die ganze Welt erglänzte silbern.

    Da er mich nach einer Weile noch immer nicht sah, tat ich es ihm gleich, das heißt, ich verwandelte meinen Körper in ein Arbeitstier, in ein soldatisches Insekt und durchbrach die Erdschollen, grub Furchen, brachte Saat aus und bedeckte die Welt mit meinem Schweiß – bis es Mittag wurde und Paps fragte, wo das Picknick abgeblieben sei. Das scheiß Picknick. Heut noch?, hat er gesagt. Da durchzuckte es mich wie ein Blitz, mir fielen die Brote ein, die Mams belegt und die ich dummerweise vergessen hatte.

    Meine Beine begannen zu zittern.

    In meinem Kopf dröhnte es.

    Stromausfall.

    Doch ehe ich zusammenbrach, streckte ich die Brust raus und ahmte laut die Stimme meines Bruders nach:

    – Ist wegen Mamsu, sie will dich sehen. Wegen gestern und Santa Lucia. Kommst du? Sie bittet dich zu ihr.

    »Sie bittet dich zu ihr.« Bei diesen Worten lächelte er, und es war schön, Paps lächeln zu sehen.

    Als wir heimkamen und er Mams erblickte, stürzte er sich in ihre Arme und fasste ihr an den Po, betatschte sie, drückte sie gegen die Wand, doch da ich ihnen mal wieder im Weg war, bändigte Mams sein Feuer und sagte ihren Lieblingssatz auf: »Heute Abend, Nino, heute Abend.« Und beide brachen sie in Lachen aus.

    Aber mein Bruder war nicht da. Wo steckt er denn, der Blödmann?, dachte ich, während Mams schrie, ich solle her-kommen, und Paps ständig wiederholte: »Was treibt die Kuh denn bloß?«, was in meinen Ohren natürlich seltsam klang.

    Für ein paar Minuten blieben Paps und ich allein vor unseren leeren Tellern sitzen. Dann ertönte ein Schrei im Innenhof, woraufhin Mams mit meinem als ich verkleideten Bruder zurückkam. Sie hielt ihn am Ohr fest. Sie warf uns vernichtende Blicke zu. Oh Mams …

    – Geht’s?, fragte Paps.

    Und weil sie uns

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