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Atlantikpassage: Roman
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eBook242 Seiten3 Stunden

Atlantikpassage: Roman

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Über dieses E-Book

LETZTE CHANCE FÜR ABENTEUER
Oswald erlebt im hohen Alter die Überraschung seines Lebens: Er gewinnt im Lotto. Kurzerhand beschließt er, mit seiner Frau Marlen eine Luxuskreuzfahrt über den Atlantik anzutreten. Ihren Kindern verheimlichen sie den unverhofften Geldsegen allerdings – die würden den beiden Alten das Glück bestimmt miesmachen …
Mit Witz und Ironie zeichnet Evelyn Andergassen in ihrem Debüt die Geschichte einer verkorksten Familie nach: ein amüsanter Roman mit Tiefgang
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Raetia
Erscheinungsdatum17. Jan. 2023
ISBN9788872838624
Atlantikpassage: Roman

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    Buchvorschau

    Atlantikpassage - Evelyn Andergassen

    Rubbellos

    1

    „Cappuccino, Signo Oswal?" Die freundliche chinesische Kellnerin lächelte ihn an und wies mit der Hand auf ein freies Tischchen.

    Oswald nickte, stellte den Jutesack mit seinen Einkäufen ab und setzte sich samt Jacke, Schal und Schirmmütze hin. Der Cappuccino kam sofort, schön heiß und mit viel Schaum, so wie er ihn mochte, und mit einem sauber abgegrenzten Herzen aus Kakaopulver drauf. Ich brauche gar nichts mehr zu sagen, dachte er befriedigt. Schon recht aufmerksam, diese Chinesen.

    Oswald hatte einen Großteil seines Erwachsenenlebens in der deutsch geprägten Altstadt von Bozen gewohnt, in einer geräumigen Altbauwohnung. Nach seiner Pensionierung war er in eine moderne Zweizimmerwohnung mit Terrasse gezogen, in eines dieser neuen Viertel, in dem es kaum Cafés gab, die von Deutschen betrieben wurden. Und in letzter Zeit auch immer weniger Cafés von Italienern. Im geduldigen chinesischen Familienverbund sind diese langen Arbeitszeiten halt besser aufzuteilen, hatte sich Oswald schon öfters gedacht. Und was den Zusammenhalt bei denen betraf, da hatten die Italiener ihre Meister gefunden, mei Liaber.

    Aber mit Deutsch hatten sie es nicht so, die chinesischen Barbetreiber. Warum auch, sie waren ja in Italien und würden kaum Deutsch lernen wegen der dreihunderttausend Leutchen, die hier rundherum auf den Bergen pickten. Sie beherrschten ja schon die variantenreiche Sprache, die auf dem langen Stiefel gesprochen wurde, mehr schlecht als recht.

    Vor dem Cappuccino wollte Oswald noch schnell sein Los aufrubbeln, das er vorhin in der Trafik gekauft hatte. Er zog es aus der Brieftasche und machte sich ans Werk.

    Na geah, die hielten ihn ja zum Narren, diese vielen kleinen Nullen. Der alte Oswald starrte ungläubig auf das bunte Los. Ihm wurde plötzlich heiß, er riss die Mütze vom Kopf und nestelte ungeschickt an den Knöpfen seiner Jacke, um sie zu öffnen. Den Cappuccino mit dem Kakaoherzen schob er so heftig zur Seite, dass er überschwappte.

    Oswald wischte mit dem Ärmel sorgfältig alle Fitzelchen von den Zahlenfeldern weg und fuhr mit zittrigem Zeigefinger langsam und methodisch die Nullen nach. Mit der anderen Hand hielt er dabei die Lesebrille am Steg fest, sie wäre ihm sonst von der schweißnassen Nase gerutscht. In seinem Herzen war ein heißes Flämmchen aufgeflackert, aber er wollte darauf vorbereitet sein, wenn es zum Erlöschen kam: Eine der erforderlichen drei gleichen Zahlen würde sich jeden Moment höhnisch aus dem Staub machen, garantiert.

    Doch alle drei defilierten an ihm vorbei, ihre prallen Nullen im Schlepptau, und hielten der zittrigen Musterung stand. Ja, bist du gscheit! Oswald schluckte, er hatte plötzlich Unmengen von Speichel im Mund, und die Flamme in der Brust wurde höher. Oswald kontrollierte zur Vorsicht noch einmal. Und dann noch einmal und noch einmal. Und schließlich ließ er es zu: Er hatte hundertfünfzigtausend Euro gewonnen. Hundert. Fünfzig. Tausend. Habe die Ehre!

    Jetzt brannte die Flamme lichterloh, sein Herz begann beängstigend zu wummern. Er musste nach Hause, musste es Marlen sagen. Sofort. Doch der alte Mann fühlte sich plötzlich so zittrig. Vielleicht wartete er noch ein Weilchen, möglicherweise würden ihm die Beine beim Aufstehen sonst nachgeben wie Pudding.

    Und so saß er da, vor seinem erkalteten Cappuccino mit Fußbad, dessen kunstvolles Kakaoherz sich schon längst aufgelöst hatte. Seufzend übernahm der Soldat, der er vor fast siebzig Jahren gewesen war, das Kommando und gab dem tattrigen Körper des alten Mannes, in dem er jetzt zu wohnen gezwungen war, einen donnernden Marschbefehl: Reiß di zamm und schau zu, dass du deinen Schatz heil heimbringst!

    Die freundliche chinesische Kellnerin kam an den Tisch. „Cappuccino no buono, Signo Oswal?", erkundigte sie sich leicht besorgt, mit Blick auf das verschmähte Getränk.

    „Muss nach Hause, ein Notfall", schnarrte der Soldat und stand zackig auf. Möglich, dass es für Außenstehende ein wenig wackelig wirkte.

    Oswalds Einkauf blieb unter dem Tisch, er musste die Hände frei haben für das, was kam. Dabei hatte er diesmal nichts von dem vergessen, was Marlen ihm aufgetragen hatte, nämlich die Birnen nicht zu gelb, aber auch nicht zu grün, und der Gorgonzola cremig. Sei’s drum, sollte eine andere Marlen was davon haben. Sein Rubbellos hielt er eisern in seiner Faust, es fühlte sich lebendig an und war sein kostbarster Besitz auf Erden.

    Der Soldat stakste so energisch los, dass die steifen Knie knirschten. Hundertfünfzigtausend Euro. Mit so viel Geld ging sich eine Reise nach Amerika locker aus. Auf einem dieser großen Überseedampfer wieder die Atlantikluft schnuppern und dann noch einmal die Freiheitsstatue begrüßen. Ah, und endlich hinauf auf das Empire State Building, das hatten sie bei seiner ersten Atlantiküberquerung nämlich nur vom Hafen aus zu sehen bekommen. Der beste Kamerad von Oswald, der lange Rudi aus Berlin-Tempelhof, hatte mit verträumten Augen auf das damals höchste Gebäude der Welt gezeigt und Oswald mit seiner heiseren Stimme zugeflüstert: „Dort möcht ich mal ruff, ganz nach oben auf die Spitze. Das muss ein Gefühl sein. Als wär ich der König von New York."

    Der Rudi, dieses lange Elend. So ein netter, lustiger. Hatte sich bei der Einnahme von Tobruk eine Rauchgasvergiftung zugezogen. Schlecht auskuriert. Während der Überfahrt riss er tagsüber die lustigsten Witze und in der Nacht hustete er sich die Seele aus dem Leib, so leise er konnte. Der Rudi war nämlich ein rücksichtsvoller Mensch und benutzte seine Uniformjacke als Schalldämpfer, um die schlafenden Kameraden nicht zu stören.

    Oswald träumte sich ein großes Stück nach Süden weiter, vom Atlantik in den Golf von Mexiko bis zu den sumpfigen Everglades, wo er interniert gewesen war. Als POW, Prisoner of War. Überall stand das auf der Kleidung. POW auf der Arbeitsjacke, POW auf der Mütze, POW auf dem Unterleibchen. Teixl, wie hieß doch gleich das Camp? Das gibt’s ja nicht, dass mir das nicht mehr einfällt. Wie ein amerikanisches Ausbildungslager war es gewesen, nur mit Stacheldraht und Scheinwerfern drumherum. Oswalds Synapsen gaben gnädig den Namen frei: Camp Blanding, genau! Funktionierte ja doch noch, das Oberstübchen. Von den armen Schwarzen in der Gegend mit dem Spitznamen Fritz Ritz bedacht, Ritz wie das noble Hotel und Fritz – das waren sie gewesen. Ja gut, das Klima dort unten war fürchterlich, das pure Gift für den armen Rudi. Selbst Oswald mit seinen gesunden Lungen hatte nachts schlecht geschlafen, weil sich die schwüle Luft wie ein nasser, warmer Sack auf seine Brust legte.

    Doch vom Klima einmal abgesehen, und auch von den dazugehörigen Spinnen, Insekten und Schlangen, war es ihnen da unten unverschämt gut gegangen. Reichlich Nahrung, Zigaretten, Bier. Sogar Englisch mussten sie lernen in diesen vier Jahren. Was heißt müssen? Dürfen! So richtig mit Schulbankdrücken, Lehrern, Vokabelheften und Tests. Ob er es noch konnte, wenigstens ein bisschen? Gut möglich, dass ihm ein paar Brocken wieder einfielen, wenn es drauf ankam. Und Marlen würde für den Rest sorgen. Wozu hatte sie sonst ihre endlosen Englischkurse für Senioren auf der Volkshochschule besucht?

    Er hatte ja das Denken ganz an seine Frau abgegeben, blitzte es plötzlich bei ihm auf. Marlen sorgte für den Rest. Tss, er war wirklich ein bequemer, alter Sack geworden. Der Gedanke war wie ein winziger Glassplitter im Fuß. Lästig. Und Marlen war selber schuld, immer drängte sie sich vor mit ihrem wendigen Kopf. Der Glassplitter pikste.

    Vielleicht nahm er sie überhaupt nicht mit auf seine Reise, überlegte er kühn, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder. Das wäre nicht recht. Marlen war so sehr ein Teil von ihm, dass er schon gar nicht mehr wusste, wo sie aufhörte und wo er anfing. Klar durfte sie mitkommen.

    Die penetrante, kleine Stimme in seinem Hinterkopf, die der Meinung war, dass Marlen nicht nur mitkommen durfte, sondern musste, weil er es ohne sie gar nicht mehr schaffte, bekam nun kurzerhand Sprechverbot. Da dachte er schon lieber an sein Rubbellos.

    Dass der Gewinn ihm gehörte, nur ihm allein, erfüllte ihn mit einer Genugtuung, die weit über das bloße Geld hinausging. In dieser Sache hier war er der Chef. Die dicke Brieftasche, die er jetzt besaß, würde er nicht aus der Hand geben, da würde sie nichts zu bestimmen haben, die Frau. Wer zahlt, schafft an. Wenn ihr das nicht passen sollte, bitte schön, sie könnte jederzeit wieder nach Hause. Retour mit einem Fahrschein erster Klasse, von ihm bezahlt, da war er nicht knausrig. Er gluckste. Bei jedem dieser Gedanken kehrte ein bisschen Manneskraft zurück. Und nach der Kreuzfahrt ein Auto? Mit Chauffeur vielleicht? Freudentränen schossen ihm in die Augen.

    Autos hatten ihn schon immer verzaubert. Damals in Amerika waren ihm die Augen aus dem Kopf gefallen, als er einmal die elegante Kühlerhaube eines Cadillacs aus der Nähe zu sehen bekam, rund und geschwungen wie die Hüften einer Frau. Oswald liebte den technischen Fortschritt, diesen frischen Wind, der die trüben Nebel der Nachkriegszeit vertrieb. Damit die Sonne endlich herauskommen und die geschundenen Menschen mit dem Versprechen von ein bisschen Sicherheit und Wohlstand erwärmen konnte.

    Wohlstand bedeutete für Oswald, seine eigenen vier Wände zu haben und eine Einbauküche, einen Fernseher und einen Kühlschrank hineinzustellen. Und nach und nach alles andere zu kaufen, was auf Raten zu haben war. Aber an allererster Stelle kam die motorisierte Freiheit auf Rädern. Was die betraf, war er ein Pionier gewesen, mei Liaber. Zuerst hatte er sich die Vespa zugelegt, eines von den ungefähr zweitausend Motorrädern, die damals in ganz Südtirol gemeldet waren, dann sein geliebtes erstes Auto, den dunkelgrünen Fiat Topolino, gebraucht, natürlich, mit drei Vorbesitzern. Oder waren es vier? Der Schwiegervater, auch er für den technischen Fortschritt zu haben, hatte ihm das Geld vorgestreckt. Mit ihm auf dem Beifahrersitz und der schwangeren Marlen auf der Rückbank hatte Oswald dann die kleine Dolomitenrundfahrt gemacht. Die große hatte er sich nicht getraut, beim Topolino rauchte bei den steilen Strecken der Motor. Zum Abkühlen musste eine Pause eingelegt werden. Dann stieg der Schwiegervater aus, um das Panorama zu bewundern, und Marlen, weil ihr übel war von den vielen Kurven.

    Seine eigene Mutter hingegen hatte gezetert, warum er sein Geld ausgab für dieses ganze neumodische Zeug. Was sie nicht davon abhielt, sich zu ihrem Bruder ins Unterland kutschieren zu lassen, stocksteif vor Angst, die knotigen Hände so fest um den Griff ihrer Tasche geklammert, dass die Knöchel weiß wurden. Aber die Quitten waren reif und mussten geerntet werden, damit sie im Winter ein Kompott servieren konnte nach dem Sonntagsbraten. Und mit dem Auto war es möglich, drei Holzsteigen von den duftenden Früchten mitzunehmen, statt der üblichen zwei prall gefüllten Stofftaschen, weil sich die im Fond eines Autos praktisch von selbst transportierten und die Mutter sie nicht zum Zug und dann vom Bahnhof nach Hause schleppen musste. Auch die Verwandten, ja, die hatten was zum Schauen gehabt, als die Stadtler im Auto daherkamen: Oswalds Topolino war das erste Auto überhaupt, das damals ins Dorf gefahren kam.

    Und später in den Sechzigerjahren die Urlaubsfahrten mit den Kindern, die Valsugana hinunter bis nach Grado. Aah. Im himmelblauen Renault Dauphine, einem Fünftürer, mei Liaber, und vollbepackt bis zum Anschlag mit Campingzelt und Luftmatratzen.

    Oswald ließ genüsslich seine Autos vor seinem inneren Auge vorbeidefilieren. Bis zum letzten, der üppig ausgestatteten Limousine, von der alle in der Familie sagten, dass er sie viel zu schnell fuhr. Zu schnell, pah. Mehr als sechzig Jahre Führerschein und noch nie einen Verkehrsunfall gebaut! Gut, einmal war ihm der Anhänger vom Traktor umgekippt, als er die Golden Delicious der Eltern zur Obstgenossenschaft bringen wollte. Diese vermaledeite Haarnadelkurve. All die goldenen Äpfel waren hinuntergerollt bis zum Dorfbrunnen. Passiert war ihm dabei nichts, außer dass er sich blamiert hatte bis auf die Knochen. Und das alles nur, weil es sich Oswalds Mutter im Alter in den sturen Schädel gesetzt hatte, von der Mietwohnung in Bozen ins frisch geerbte Unterlandler Haus zu ziehen. Das nicht etwa in einem Dorf stand, sondern in der entlegenen Vier-Häuser-Fraktion eines Dorfs, aber mit einem Obstgarten, in dem Äpfel wuchsen und Zwetschgen und die prachtvollsten Kirschen, die man sich vorstellen konnte. Und einen Weinberg vor dem Haus gab es auch. Nach dem peinlichen Unfall hatte Oswald jedenfalls seinen Ruf als patscherter Möchtegernbauer weg.

    Und mit Mitte siebzig war es dann ganz aus gewesen mit der Mobilität, auf brutale Art. Nach der Gehirnoperation wollte man Oswald den Führerschein nicht mehr erneuern. Das hatte ihm den Boden unter den Füßen weggezogen.

    Eine Beschneidung seiner Rechte war das nämlich gewesen, jawohl. Und so kämpfte der verzweifelte Oswald um seinen Führerschein mit mehr Engagement, als er es jemals für eines seiner Kinder aufgebracht hätte. Ein Schwall blanker Energie durchbrach mit einem Mal all die Schichten an Wurstigkeit, die er sich im Laufe der Jahre zugelegt hatte. Oswald legte also Rekurs ein und unterzog sich vor einer Ärztekommission beherzt einem Eignungstest mit einem Fahrsimulator – bei dem er grandios durchrasselte.

    Das hatte ihn damals einfach verwirrt, das ganze Computerzeugs, Oschtia Madonna. Den Gedanken, dass seine Reaktionsfähigkeit mit ihm in die Jahre gekommen war, ließ er nicht zu, vielleicht bis heute nicht. Die Freiheit, in sein Auto zu steigen und sich von einem Ort zum anderen zu bewegen, war so sehr mit Oswalds Identität verwoben, dass die erzwungene Abgabe des Führerscheins ihm vorkam wie eine Kastration – von der sich seine Männlichkeit nie wieder erholte.

    Wäre jetzt halt praktisch, wenn die Frau Auto fahren könnte, sagte man in der Verwandtschaft. Tja, antwortete Marlen in solchen Fällen, mit einer Stimme, die vor Genugtuung troff. Ihr Mann habe immer laut und deutlich verkündet, sie sei völlig ungeeignet, hinter einem Steuer zu sitzen, zu unsicher im Straßenverkehr, zu hilflos in technischen Dingen. Und überhaupt habe sie, laut Oswald, einen Orientierungssinn wie eine aufgescheuchte Henn.

    Eine saftige Retourkutsche, die Marlen ihm da verpasst hatte, dachte Oswald jetzt. In Wirklichkeit hatte sie um den Führerschein immer nur pro forma gekämpft, ihr war schon klar gewesen, dass Autofahren mit ihm auf dem Beifahrersitz das sichere Ende für ihre Ehe gewesen wäre – weil sie sich nämlich gegenseitig die Köpfe eingeschlagen hätten.

    Und so kam es, dass eine blitzblaue, auf Hochglanz polierte Autoschönheit in der nahe gelegenen Tiefgarage einige Jahre lang ihren Dornröschenschlaf hielt. Am Anfang ging Oswald sie manchmal besuchen. Er fuhr sie aus der Box, machte die Runde um den dritten Unterstock und fuhr sie dann wieder in ihre Heia. Später traute er sich nicht mehr einmal das, weil er Schrammen beim Einparken befürchtete. Er beließ es dabei, seinem bildschönen Gefährt über die Kühlerhaube zu streicheln und sich dann ächzend auf den Fahrersitz plumpsen zu lassen. Hinein ging’s ja noch. Aber das Auto hatte leider einen so verflucht niedrigen Einstieg, dass Oswald einmal eine schweißtreibende halbe Stunde damit verbrachte, sich aus dem Sitz wieder herauszukämpfen. Und so kam schließlich der Tag, an dem sich Oswald blutenden Herzens von seiner blitzblauen Freiheit auf vier Rädern verabschieden musste. Und endgültig zum Greis wurde.

    An der verkehrsumtobten Kreuzung wartete er jetzt darauf, die Straße zu überqueren. Grün. Oswald marschierte los. Seine Kinder kamen ihm in den Sinn und er schnitt eine Grimasse. Tja. Die würden sicher auch gern was haben wollen vom Gewinn.

    Dann hörte er mitten auf dem Zebrastreifen eine Stimme hinter sich: „Signo Oswal!" Er drehte sich um, es war die Kellnerin, die sein Einkaufssäckchen schwenkte. Sie hatte ein Lächeln im Gesicht, wie es für einen alten, vergesslichen Mann bestimmt war. Oswald wollte nicht, dass sie ihm nachlief, er wollte sich seinen seligen Träumen hingeben. Lass mich in Ruh, dumme Urschl. Er machte einen Satz nach vorne. Und wäre um ein Haar in ein Auto gerannt. Uff, das war knapp. Zum Glück hatte er sich auf der Kühlerhaube abgestützt. Der junge Fahrer öffnete das Fenster und brüllte ihm etwas Rohes ins Gesicht, über Tattergreise, die den Straßenverkehr behinderten und dann sein Auto betatschten. Oswald war früher ein Hitziger gewesen, so hätte man ihm nicht kommen dürfen. Jetzt im Alter aber hatte er zähneknirschend lernen müssen, Kränkungen zu ignorieren.

    Man sollte doch meinen, es geht uns allen gut in dieser fetten, reichen Provinz, dachte er. Aber nein, einmal nicht hingeschaut, und schwupp entwickelte sich schon wieder eine neue aggressive Spezies, diesmal bei den Italienern. Eine gut motorisierte mit schlechten Manieren, die alles angeiferte, was ihrem teuren Leasingauto im Weg stand: Schwarzafrikaner, Alte, Touristen aus Deutschland. Letztere wurden Crucchi genannt, wie im

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