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Flucht aus dem Augenblick: Portrait einer haltlosen Frau
Flucht aus dem Augenblick: Portrait einer haltlosen Frau
Flucht aus dem Augenblick: Portrait einer haltlosen Frau
eBook129 Seiten1 Stunde

Flucht aus dem Augenblick: Portrait einer haltlosen Frau

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Über dieses E-Book

Marlene treibt als Single durch Berlin. Ihr einziger Begleiter ist eine Katze und die Bekannten aus der Kneipe. Je älter Marlene wird, desto breiter klafft die Lücke zwischen ihren Träumen und der Wirklichkeit. Sie betreut eine alte Dame, von der sie gelangweilt ist. Ihre eigene Passivität fällt ihr nicht auf. Sie beschließt, per Kontaktanzeige einen reichen Mann zu suchen und findet tatsächlich einen, der sie heiraten will. Der Millionär Reinhold besitzt eine Gebäudereinigungsfirma, er ist freundlich und distanziert. Obwohl seine Nüchternheit nicht zu Marlenes klischierten Vorstellungen passt, ist sie entschlossen, aus ihrem neuen Leben das Beste zu machen.

Doch es könnte sein, dass schließlich jemand anderes sein kleines Glück findet ...
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum19. Mai 2021
ISBN9783754122921
Flucht aus dem Augenblick: Portrait einer haltlosen Frau
Autor

Gabriele Bärtels

www.gabriele-baertels.de

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    Buchvorschau

    Flucht aus dem Augenblick - Gabriele Bärtels

    1

    Marlene saß schon den ganzen Tag auf dem Sofa, rauchte, aß, schwieg. Die Uhr tickte, niemand rief an. Die Katze kam wieder und wieder, stellte sich mit den Vorderpfoten auf Marlenes Oberschenkel, maunzte. Marlene schüttelte den Kopf. Das einzige, was sie sagte, war: Es tut mir leid. Die Katze hatte es hinnehmen müssen und war durch das Fenster verschwunden. Auf das Dach, zu den Vögel, deren Hin- und Hergeflatter sie mit Interesse verfolgte.

    Marlene sah es dunkel werden. Sie machte sich nicht die Mühe, das Licht anzuschalten, tastete nach dem Aschenbecher, er rutschte ihr aus der Hand. Egal. Es war egal, dass der Dreck auf dem Teppich lag, dass sie weder geduscht hatte noch die Zähne geputzt, dass sie in ihrer fleckigen Nachtwäsche da kauerte. Ich kann nicht mehr, dachte Marlene. Ich will nicht mehr. Ich lasse alles fallen. Wozu die Mühe, sich die Haarsträhne aus dem Gesicht zu wischen, es kümmert niemanden und mich auch nicht.

    Am Vormittag hatte sie beschlossen, das Telefon nicht abzuheben, ein sinnloser Vorsatz. In der letzten Woche hatte es nur einmal geklingelt, das war die Sachbearbeiterin der Bank, die fragte, ob kein Eingang auf dem Konto zu erwarten war. Marlene hatte fröhlich in den Hörer gelacht, selbstverständlich, Sie wissen doch, wie das ist, es dauert immer länger, als man denkt. Dabei hatte sie gar nichts zu erwarten.

    Sie quälte sich vom Sofa, trat mit dem rechten Fuß in die Asche, beachtete es nicht, trottete von einem Zimmer zum anderen, da stand das Bett, ordentlich gemacht, weil sie die Kraft dazu heute Morgen noch gehabt hatte. Sie schlug die Decke zurück und rutschte darunter, zog sie über die Ohren, legte einen Zipfel über die Augen, gegen die Tageslichtreste. Sie rutschte in sich zusammen, schob die Hände zwischen die Oberschenkel, ein kleiner Ball aus Wärme. Ich will nicht. Ich habe alles versucht. Ich bin einundvierzig. Ich bin allein. Ich habe nur noch einen Hundert-Euro-Schein.

    Das Dunkel verdichtete sich, und bald war der Hügel aus Bettdecken, unter dem Marlene lag, nicht mehr zu sehen. Sie schlief nicht, wie sollte sie auch, man kann nicht müde werden, wenn man nur Gedanken hin und her wuchtet. Die Katze sprang mit einem Satz auf das Bett. Marlene erschrak.

    Katze, sagte sie mit kleiner Stimme, dumpf unter der Decke. Es tut mir leid. Du solltest Deinen Fressnapf nehmen und umziehen. Ich bin schlecht für Dich.

    Die Krallen der Katze tickten auf den Holzfußboden. Sie entfernte sich. Es war gerade erst acht Uhr abends.

    Eine Stunde später schlug Marlene die Decke zurück. Sie konnte sich noch so still verhalten, der Unruhe entkam sie nicht. Sie schaltete eine Lampe an, suchte nach der Zigarettenschachtel, die war im Wohnzimmer, also aufstehen. Jeder Schritt schien die Welt zu erschüttern. Ich zerreiße die Stille, dachte Marlene und schlich ins Bett zurück. Sätze brannten in ihrem Gehirn und zischten. Alles falsch. Keine Kinder, keinen Mann, keinen Job, mein Englisch eine Katastrophe, ich bin eine Kettenraucherin und meine Haut ist von Mitessern übersät. Mein Adressbuch steht voller Telefonnummern und Namen, aber wenn ich anrufen würde, würde eine Stimme fragen: Marlene, wer? Marlene hatte jeden dort eingetragen, den sie je kennengelernt hatte.

    Sie knipste das Licht wieder aus. Der Mond schien hell genug auf ihren Schutthaufen voller falscher Verhaltensweisen. Man konnte ihr nicht vorwerfen, dass  sie nicht geübt hatte. Sie hatte sich gezwungen, fremden Leuten in die Augen zu sehen, obwohl sie sich davor gefürchtet hatte. Sie hatte Fragen gestellt, und dabei war ihr klar geworden, dass sie sich für die Antworten nicht interessierte, Marlene kicherte unter der Decke. Das ist die grausige Entdeckung. Ich interessiere mich nicht für sie und trotzdem sammle ich ihre Namen in Adressbüchern. Ich habe ein Handy, eine E-Mail-Adresse, eine Klingel an der Haustür, und doch spricht niemand mit mir, und ich spreche mit keinem. Wozu noch so ein Tag, wozu Kleider, Schuhe, wozu der Versuch, wie Honig auszusehen, wenn ein grundsätzlicher Fehler vorlag, auf den Marlene nicht kam oder nicht kommen wollte?

    Gestern, die Geburtstagsparty bei der alten Dame, die sie betreute. Das brachte schwarzes Geld ein, zwanzig-Euroschein-weise. Beinahe wäre Marlene nicht hingegangen, sie fürchtete sich vor den Blicken der Verwandten, die so viel erwachsener waren als sie. Da war das Nachbar-Rentnerpaar, der Mann ehemals Techniker bei den Stadtwerken, die Frau schon immer Hausfrau, sie besaßen zwei Cockerspaniel und teilten sich ein zufriedenes Lächeln. Dann die Söhne der alten Dame, beides Juristen, ihre Ehefrauen, zusammen fünf Kinder, eine Witwe mit lilaweißen Haaren und die alte Dame. Siebenundsiebzig Jahre war sie geworden und benahm sich wie eine Alzheimer-Patientin. Nickte mit dem Kopf, lächelte, als würde sie nichts verstehen, sagte nichts. Ihre Söhne redeten in einem gönnerhaften Ton über ihren Kopf hinweg und schauten dauernd auf die Uhr. Einer von ihnen meldete sich sonst nie, der andere lebte in derselben Stadt und hatte somit die Pflicht, sich um die Mutter zu kümmern. Er tat es mit zurückgelehntem Selbst.

    Marlene hatte sich so weit weg gefühlt mit ihrem kümmerlichen Leben, das nur die Katze enthielt, und die Frau von der Bank, die sich telefonisch nach dem finanziellen Befinden erkundigte. Sie neidete den Frauen ihre Kostüme mit den scheußlichen Goldknöpfen und ihre steife Art, auf dem Sofa zu sitzen, als hätten sie alles Recht auf der Welt auf einen Sitzplatz, und den Männern die Fähigkeit, über das Trockenlegen eines feuchten Kellers zu reden, als wenn das ein interessantes Thema wäre. Sie neidete ihnen ihre Reiseerinnerungen aus den USA, und dass sie ohne Aufforderung leere Gläser auffüllten. Sogar die Anzüge, die sie trugen, die Kongresse, auf denen sie im letzten Jahr gewesen waren, schienen ihr begehrenswert.

    Marlene sagte zu jedem Thema einen Satz, mochte er noch so oberflächlich sein, nur aus Übungsgründen, aber selbst warf sie nichts in die Runde, ihr Leben hatte keinen Unterhaltungswert. Sie war bestimmt die Schönste in ihrem engen Rock und dem schulterfreien T-Shirt. Aber das, was die anderen sich aufgebaut hatten, in jahrelanger mühsamer Kleinarbeit, das konnte sie nicht mehr aufholen, auch wenn sie sich noch so offen ihr Versäumnis vor Augen führte.

    Marlene zog das Kissen über den Kopf und die Knie hoch. Hier gejobbt, da gejobbt, Hauptsache Geld, schwarz oder weiß, gleich ausgegeben, weil sie nie wusste, wann wieder etwas kommen würde. Die Jobs wurden immer dubioser, Marlene hatte nicht darüber nachgedacht, es ist noch Zeit, sie war erst zweiundzwanzig, achtundzwanzig, zweiunddreißig Jahre alt. Irgendwann, ohne Marlenes Zutun, trat klar hervor, was sie nicht wissen wollte: ihre Altersgenossen hatten ihre Ausbildungen beendet, vielleicht sogar schon neue angefangen, waren irgendeinen Weg gegangen, immer weiter und weiter, und nun waren sie irgendwo angekommen, hatten Häuser und Kinder und Autos und langjährige Freunde. Marlene war fünfzehn Mal umgezogen, hatte die Jobs siebenunddreißig Mal gewechselt und überall wieder von vorn angefangen. Jetzt war sie bankrott, und ihre Haare wurden grau. Plötzlich waren es so viele. Das konnte alles nicht gestern passiert sein.

    Die Katze hatte ihre wilden zehn Minuten. Sie raste durch die Wohnung und konnte auf dem Parkett nicht bremsen. Rumms, sie flog immer gegen dieselbe Tür.

    Warum also sollte morgen der eintreten, der nie aufgetaucht war? Und wenn er kam, er würde an ihr vorbeigehen und einer anderen die Hand reichen, einer, die studiert hatte, mit Abschluss, einer, die noch Kinder kriegen konnte. Marlenes Bildung war mehr als pickelig. Sie hatte in der Zeit, da andere, in Palästinensertücher gewickelt, gegen Berufsverbote und Kernkraftwerke demonstriert hatten, in ihrem Zimmer gesessen, Kitschromane gelesen und geheult. Während andere politische Magazine lasen, hatte sie nur darauf gewartet, dass endlich eine neue Frauenzeitschrift erschien, mit den immer gleichen Beiträgen. Frühlings-, Sommer-, Winterdiät, Machen Sie das Beste aus Ihrem Typ, Testen Sie: Sind Sie eine geliebte Frau? Sie hatte nur mit sich selbst gesprochen. Oder Musik gehört. Schaumgummimusik. Rosa gefärbt und rhythmisch genug, dass sie dazu schaukeln konnte.

    Bald musste sie wieder zum Arbeitsamt. Sich zwischen all die anderen Versager setzen, ihr Gesicht hinhalten, der Sachbearbeiterin und denen, die nach ihr kamen und sie neidisch betrachteten, nur weil Marlene schneller wieder weg war als sie. Sie würde sich Fragen gefallen lassen müssen, einen Job annehmen, der mehr einbrachte als die Betreuung einer alten Dame. Gesellschafterin hatte sie sich selbst genannt, das klang nach mehr als nichts. Tatsächlich saß sie drei Stunden beim Kaffee mit ihr zusammen, rauchte, ging mit dem Hund spazieren. Sie kniff die Augen zusammen, sie ballte die Fäuste. Sie zog die Decke noch enger um sich.

    Weit weg scharrte die Katze im Katzenklo herum. Wieder tickten ihre Krallen auf dem Parkettboden. Sie hüpfte auf das Bett und stieg auf Marlene. Geh weg, hätte Marlene gern geschrien, ich will nicht, dass Du neben meinem Ohr schnurrst, ich liege in einem Kühlschrank, da gehörst Du nicht hin. Aber sie rührte sich nicht, als das kleine Gewicht sich auf ihrem Rücken niederließ, durch die Decke fühlte sie das Vibrieren. "Du musst ja doch wieder

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