Das Königreich der Dewinters: Roman
Von Gabriele Bärtels
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Über dieses E-Book
Ihre bescheidene, ängstliche Haushälterin Luzie Goldammer kümmert sich hingebungsvoll um ihren greisen, orientierungslosen Chef, aber sie kommt an ihre Grenzen. Der Vermögensverwalter Dr. Wirtz mag nicht länger mitansehen, wie seine Chefin illegale Unterschriften leistet. Nur der Hausmeister Junker freut sich, dass ihm der verwirrte Chef täglich Geldscheine schenkt.
Noch glaubt Frau Dewinter, die Zügel in der Hand zu halten, doch als Luzie Goldammer mit Kündigung droht, weil Herr Dewinter zusehens verkommt und aggressiver wird, muss sie handeln. Sie flößt ihrem Mann Medikamente ein, die diesen ruhig stellen. Ein fataler Fehler, der das Leben aller Beteiligten dramatisch verändert.
Gabriele Bärtels
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Das Königreich der Dewinters - Gabriele Bärtels
1.
Wenn Herr Dewinter sich von seinem Angestellten zur Bank fahren ließ, um tausend Euro in bar abzuheben, dann trat er dort als der Privatbankier auf, vor dem jeder hier zu kuschen hatte. Manchmal fiel ihm eine blonde Kassiererin ins Auge, und er steuerte mit ausgebreiteten Armen und eindeutigen Grunzlauten auf sie zu.
Herr Dewinter wusste nicht mehr, dass er gar nicht in seiner eigenen Privatbank stand, sondern in einer gewöhnlichen Großbankfiliale. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Angestellten die Luft deswegen anhielten, weil er durchdringend nach Urin stank, und dass sie ihm das Geld nur auszahlten, weil Dr. Wirz neben ihm stand, der Verwalter seines Vermögens. Hätte Herr Dewinter sich das ausmalen können, so wäre er vor Peinlichkeit versunken, denn ein gepflegtes Auftreten und täglich ein frisches Manschettenhemd waren ihm stets wichtig gewesen. Doch jetzt stand vor dem Schaltertresen ein Achtzigjähriger in einem fleckigen Anzug, mit wirrem Haar und ziellosem Blick. Er war zwar nur einen Meter fünfundsechzig groß, hatte aber noch eine erstklassige Haltung und eine überraschend volltönende Stimme.
Hinter seinem Rücken bedankte sich Dr. Wirz bei den Angestellten. Sie tauschten Blicke voller Mitgefühl, gemischt mit Ekel.
Dann sprach er mit ruhiger, beinahe meditativer Stimme auf seinen Chef ein: „Herr Dewinter, wir haben Termine."
Das stimmte zwar nicht, aber wenn er sich in seiner alten Welt wähnte, war Herr Dewinter leichter zu lenken und wurde nicht so schnell zornig.
Sanft drängte Dr. Wirz den alten Mann von der blonden Kassiererin ab und führte ihn hinaus. Als er Herrn Dewinter in den Wagen half, schwor er sich, dass dies das letzte Mal gewesen war, dass er ihn zur Bank gefahren hatte, jedenfalls in seinem eigenen Auto. Darin roch es so streng, dass er nur noch durch den Mund atmete. Er fragte sich, wer die Windeln seines Chefs wechselte und wie oft. Den Beifahrersitz würde er reinigen lassen müssen.
Frau Dewinter hatte er vor wenigen Tagen zu bedenken gegeben, dass in Zukunft eine andere Lösung gefunden werden müsse, um die Haare ihres Mannes zu schneiden. Nicht nur, dass Herr Dewinter vor jedem der letzten Friseurtermine gemeint hatte, man wolle ihn entführen und wie ein Wildtier dagegen gekämpft hatte, ins Auto verfrachtet zu werden. Dabei hatte er seinen treuen Angestellten mit unflätigen Worten bedacht. Herr Dr. Wirz nahm es hin, denn er wusste ja, dass der alte Mann nichts mehr dafür konnte. Dennoch fühlte er sich gedemütigt.
Obendrein weigerte sich der Friseur nun, Herrn Dewinter weiter zu bedienen, obwohl ihm dieser abschließend gnädig einen Hunderteuroschein gereicht hatte. Der Wert des Papiers bedeutete dem alten Mann nichts mehr, und Dr. Wirz sah nicht, warum er Einspruch gegen das üppige Trinkgeld erheben sollte. Er verschwieg Frau Dewinter, dass sich ihr Gatte im Salon vor einer blonden Kundin entblößt hatte. Sie würde es ohnehin nicht glauben.
Obwohl die Immobilien und Geldanlagen, die Dr. Wirz verwaltete, auf dem Papier ihrem Mann gehörten, war jetzt sie faktisch seine Chefin. Einmal pro Woche musste er mit Rechnungen und Papieren bei ihr erscheinen und für alles Rede und Antwort stehen. Frau Dewinter tippte dann mit ihrem Zeigefinger auf Zahlenreihen und forderte Erklärungen. Dr. Wirz ließ sie nicht spüren, dass er wusste, wie wenig sie von seinen trockenen Ausführungen verstand. Die Geschäftsbriefe, die ihr Mann hätte unterzeichnen müssen, unterschrieb sie trotzdem.
„Ist doch egal", sagte sie beim ersten Mal, nachdem sie mehrfach vergeblich versucht hatte, ihren vor sich hin summenden Gatten zu einer Unterschrift zu bewegen.
Dr. Wirz protestierte nicht. Das Ducken war ihm über sein Berufsleben zur zweiten Natur geworden, denn Herr Dewinter duldete seit jeher keinen Widerspruch. Früher waren seine engsten Mitarbeiter erstarrt, wenn der Chef das Vorzimmer seines Büros betrat. Mit seinen scharfen Augen entdeckte er den winzigsten Fehler in einem Finanzierungsplan und jede schiefsitzende Krawatte. Der Schuldige wurde donnernd zurechtgewiesen, und hatte ihm sofort aus den Augen zu verschwinden. Herrn Dewinters Sekretärinnen schluchzten in der Teeküche jeden Tag.
Seit es mit ihm bergab ging, war sein zorniger Wesenszug außer Rand und Band geraten. Wenn Dr. Wirz sich an der Wohnungstür höflich verabschieden wollte, konnte es geschehen, dass sein Chef ihm mit einem Faustschlag die Akten wegschlug, die er unter dem Arm trug, sodass die Papiere die Flurtreppe heruntersegelten.
Er schrie dabei: „Sie sind ge-ge-gef-f-feuert! R-räumen Sie … Schschreibtisch!" Dann ging er fauchend auf seinen Finanzfachmann los.
Aus der offenen Wohnungstür gellte die herbeigeeilte Hausangestellte Luzie Goldammer: „Ich kann nicht mehr!"
Sie rang die Hände mit den apfelgrünen Gummihandschuhen, denn sie war gerade dabei gewesen, Herrn Dewinters Bad zu putzen. Und während dieser keuchend mit Dr. Wirz kämpfte, welcher ihn mühsam auf Abstand hielt, klagte sie weiter: „Er duscht ja gar nicht mehr. Er findet die Toilette nicht. Er klammert sich von hinten an mir fest, und ich werde ihn nicht los."
Frau Dewinter hatte sich in ihre Räume zurückgezogen und ließ sich nicht blicken.
Unvermittelt stoppte Herr Dewinter seinen Angriff, und Dr. Wirz trat einen Schritt zurück. Plötzlich lächelte der alte Mann und guckte vom Treppenabsatz auf die Papiere herunter, die auf den Stufen lagen.
„Schweinerei", sagte er tonlos, fasste das Geländer an und tappte die Treppe hinunter, ohne sich noch einmal nach Dr. Wirz oder Frau Goldammer umzusehen.
Seit sich derartige Vorfälle häuften, dachte Dr. Wirz öfter an Kündigung, doch er fühlte sich seinem langjährigen Arbeitgeber, der zusehends hilfsbedürftiger wurde, verpflichtet. Als junger Mann war Dr. Wirz direkt nach dem Studium in die Privatbank eingestiegen. Nach dieser langen Zeit in Herrn Dewinters Schatten konnte er sich kaum vorstellen, in anderen Strukturen zu arbeiten. Zudem fürchtete er, in seinem Alter keine angemessene Stellung mehr zu finden.
Auf seinem jetzigen Posten kannte er sich aus, arbeitete weitgehend selbstständig, und was Frau Dewinter nicht wissen musste, konnte er leicht an ihrer Aufmerksamkeit vorbeimogeln. Er blieb aus jahrzehntelanger Gewohnheit und weil es schließlich überall Probleme gab.
Wie jeder Mensch, der mit großem Reichtum in Berührung kommt, hatte er stets beteuert, dass er sehr wohl zwischen diesem und seinem Dasein trennen konnte, doch manchmal durchzuckte den treuen Diener doch der Wunsch, eines Tages einen Bruchteil dieses Vermögens zu erben.
„Wir zahlen Ihnen ein stattliches Gehalt, sprach Frau Dewinter bei seinem nächsten Besuch hoheitsvoll und steckte ihren goldenen Füller weg. „Da können Sie doch gewiss mit meinem Mann schnell Katzenfutter kaufen fahren. Sie wissen ja…
Sie drückte ihr Hündchen an sich. Im Innern von Dr. Wirz muckte etwas auf, aber die Regung war zu klein, um ihn zur Gegenwehr zu bringen.
Früher war Frau Dewinter eine kleine, feingliedrige, dunkelhaarige Schönheit auf flinken Beinen gewesen, heute sah sie aus wie ein groteskes, chinesisches Püppchen. Ihr schwarz gefärbtes Haar umgab ihren leicht zitternden Kopf wie ein Lampion. In den Falten ihres Gesichtes setzte sich teures Make-up ab, darauf prangten leuchtende Rougeflecken und ein roter Kirschmund. Nur ihr Mann und die Hausangestellte wussten, dass sie ohne diese teuren Farben eine Greisin war.
Mittlerweile trug sie den dritten einer Reihe kleiner, weißer Hündchen auf dem Arm. Dieser hieß Pucki und war ein edles Zuchttier, dessen langes, feines Haar Frau Dewinter mehrmals am Tag kämmte. Das Tier stand dazu auf dem Küchentisch aus Eiche. Kam ihr Mann während dieser Prozedur herein, so wehrte sie ihn ab. Sie wollte es nicht zugeben, aber in ihr lauerte die Angst, er könne Pucki etwas antun. Darüber schwieg sie, denn das ging ihre Angestellten nichts an.
Stattdessen empörte sich Frau Dewinter unendlich über die Frechheit des Friseurs, ihren Mann nicht länger bedienen zu wollen. Sie erzählte es jedem, der es hören wollte, aber das waren nicht mehr viele.
Die Freunde der ersten Gesellschaft, die sie früher an der Seite ihres Mannes zu rauschenden Festen einzuladen pflegte, waren tot oder vergrault. Lediglich mit einer pensionierten Augenärztin hielt sie weiter telefonisch Kontakt, seit deren Fabrikanten-Ehemann verstorben war.
Als enge Freundin hätte Frau Dewinter die Dame allerdings nicht bezeichnet. Sie war lediglich die Einzige, die ihr aus dem exklusiven Kreis geblieben war. Getroffen hatte sie Witwe seit Jahren nicht mehr.
Frau Dewinter legte keinen Wert auf Besuch. Niemand sollte sehen, wie es um ihren Mann, ihre Ehe und ihr Alter stand. Sie verbrachte ihre Tage damit, den Anschein aufrecht zu erhalten, es sei alles wie früher.
An ihre Kindheit dachte sie dabei nicht. Sie war im Krieg groß geworden, mit zwei Halbschwestern und ihrer Mutter. Diese hatte sich allein durchschlagen müssen, denn ihre Männer waren alle wieder gegangen, und jeder der drei Töchter blieb nur ein Foto ihres jeweiligen Erzeugers.
Im Gegensatz zu ihren Schwestern, die beide Verkäuferin werden wollten, zeigte sich bei Antonia früh ein scharfer Verstand. Dass nach Kriegsende die Väter fehlten, war nicht ungewöhnlich, und deswegen wurde sie in der Schule nicht schief angesehen. Trotzdem zerbrachen ihre Mädchenfreundschaften nach einer kurzen Phase gegenseitiger Verliebtheit regelmäßig, denn Antonia neigte dazu, ihre neue Freundin zu belagern und ihr laufend Ratschläge zu erteilen. Verständnislos sah sie mit an, wie ein Mädchen nach dem anderen strampelte, um sich aus ihrer umstrickenden Umarmung zu winden, und plötzlich nicht mehr mit ihr sprach. Sie waren eben alle doof. Antonias Schulnoten waren die besten der Klasse.
Auf den Rat der Lehrerin hin durfte die Jüngste eine Banklehre antreten. Im ehrwürdigen Bankhaus Dewinter akzeptierte man Antonia angesichts ihres erstklassigen Abschlusszeugnisses gerne, aber auch, weil sie außerordentlich hübsch war, und sich hinter dem Schalter gut machte.
Wenn Antonia abends aus der Bank heimkehrte, musste sie sich mit ihrer Schwester das Bett teilen, nur der Kohleofen im Wohnzimmer wurde beheizt. Auf dem Nachttisch stand in einem Messingrahmen das Bild ihres gut aussehenden Vaters, dessen Namen die Mutter ihr nie verriet. Noch mit siebzehn träumte Antonia davon, dass der Namenlose plötzlich erscheinen würde, um sie aus dieser stumpfen Enge herauszuholen, die einen krassen Gegensatz zum spiegelnden Marmor der Schalterhalle darstellte, in der sie tagsüber höflich wohlhabende Kunden begrüßte.
Familie Dewinter hatte ihr Bankhaus durch