Totenschein auf Bestellung
Von Jennifer Weise
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Buchvorschau
Totenschein auf Bestellung - Jennifer Weise
Geheimnisvolle Fremde
„Die geht drüben am Bahnhof putzen!" äußerte Frau Kotter abfällig.
Frau Schmidt verzog angewidert das Gesicht, dann ging sie schnell einen Schritt zurück, um ihrer neuen Nachbarin aus dem oberen Stockwerk Platz zu machen.
„Guten Morgen!" grüßte diese freundlich.
Weder Frau Kotter noch Frau Schmidt erwiderten ihren Gruß, stattdessen tuschelten sie weiter, genau wie jeden Morgen seit diese Frau bei ihnen im Haus eingezogen war.
Durch den Hausmeister hatten sie schon vor dem Einzug der Frau erfahren, dass diese Geld vom Staat bezog. Die Frauen waren sich sicher, dass dieses asoziale Pack nun auch bis in ihre Wohngegend vorgedrungen war und beide waren alles andere als begeistert. Selbstverständlich wollten sie mit dieser Frau nichts zu tun haben. Ihre Vorurteile hinderten sie allerdings daran, das Naheliegendste zu tun, nämlich die Fremde einfach anzusprechen und kennen zu lernen.
Wie jeden Morgen hörte Cassy im Treppenhaus zwei ihrer Nachbarinnen tratschen. Wenn sie nicht zu spät zur Arbeit kommen wollte, hatte sie keine andere Wahl, sie musste mal wieder an ihnen vorbei. Also riss Cassy sich zusammen, setzte ein Lächeln auf und grüßte freundlich. Wie immer ignorierten die beiden ihren Gruß, sie nahmen Abstand, ganz so, als ob Cassy eine ansteckende Krankheit hätte.
Schnell lief sie die Stufen weiter hinab, um dann den Bus zum Hauptbahnhof zu nehmen. Dort hatte sie gerade erst eine Anstellung als Reinigungskraft erhalten und wollte auf keinen Fall schon während ihrer Probezeit zu spät kommen oder in irgendeiner anderen Form negativ auffallen. Es war schwer ohne Schulzeugnisse und sonstige Papiere überhaupt an Arbeit zu gelangen. Cassy besaß all das nicht, da sie sich auf der Flucht befand, hier versteckte und auf keinen Fall auffallen wollte.
David sah sich unsicher am Bahnhof um, dann fiel sein Blick auf die Bahnhofsuhr, er hatte noch genau zwei Minuten Zeit, bis sein Zug abfuhr.
„Entschuldigen Sie, Miss…", sprach er eine Frau, die an ihm vorbeihuschte, an.
Sie blieb stehen und sah ihn auffordernd an.
„Ich muss dringend nach München und…"
Zu seiner Verwunderung unterbrach sie ihn:
„Bahnsteig 8, dort hinten die dritte Treppe!"
David rannte los.
Er schaffte es gerade noch, den ICE zu betreten, bevor sich die Türen schlossen. Nach einigem Suchen hatte er auch den reservierten Platz entdeckt und holte seinen Laptop aus der Tasche. Anfangs war er von der Idee den Zug zu nehmen nicht begeistert gewesen, allerdings stand sein BMW in der Werkstatt und der Leihwagen sprang heute früh auch nicht an. Als er schon völlig am Verzweifeln war, hatte ihm sein Kindermädchen diesen Vorschlag gemacht und dann auch noch übers Internet einen Fahrschein für ihn gebucht. Mittlerweile fing David an, sich zu entspannen, er konnte sich voll auf seine Geschäfte konzentrieren, sogar einige wichtige Telefonate erledigen und kam nach einigen Stunden entspannt an.
Cassy sah dem Mann hinterher. Es war schon ein seltener Anblick, wie ein Mann in einem maßgeschneiderten Anzug durch den Bahnhof rannte. Angesprochen wurde sie hier öfter und solange es ausschließlich um irgendwelche Auskünfte was den Bahnhof oder Züge betraf ging, war sie gern bereit zu helfen. Die Leute waren meist so sehr in Eile, dass selten jemand auf die Idee kam ‚danke’ zu sagen, aber das störte Cassy nicht, wichtig war nur, dass sie eine bezahlte Stelle hatte. Sie ging sich umziehen und holte dann ihren Putzwagen, um in den Toiletten zu beginnen. Auch wenn es sie nicht störte zu putzen, so waren die Toiletten hier teilweise widerlich. Egal wie oft man putzte, es war unvorstellbar was man sich Tag für Tag ansehen musste. Also wollte sie die Toiletten schnell hinter mich bringen.
Später verließ Cassy den Bahnhof wieder, um sich zu Hause sofort unter die Dusche zu stellen. Danach studierte sie die Zeitungen, die sie sich am Bahnhof mitgenommen hatte. Es waren aktuelle Zeitungen, die die Reisenden auf den Wartebänken liegen ließen und die sie den Vorschriften nach hätte entsorgen sollen.
„Na endlich, Kylie!" öffnete David genervt seine Haustür.
Er wartete nicht einmal einen Kommentar ab sondern setzte sich sofort in die bereits wartende Taxe.
„Zum Bahnhof, schnell!" forderte er.
Während sie losfuhren fiel sein Blick auf Kylie, die sein Haus betrat. Täuschte er sich, oder hatte sie ihm nachgesehen? Ihr ganzes Verhalten war so verändert, das fiel ihm schon seit einiger Zeit auf. Oder bildete er sich das bloß ein, weil er so sehr im Stress war? Allerdings war alles einfacher, seit er öfter mit der Bahn fuhr.
„Das macht zwölf achtzig", unterbrach der Taxifahrer seine Gedanken.
David drückte ihm fünfzehn Euro in die Hand und murmelte:
„Stimmt so!"
Schon rannte er erneut durch den Bahnhof und stand wieder einmal hilflos vor der Anzeigentafel.
„Wo soll’s denn heute hingeh’n?"
David erkannte die Frau wieder, die er schon mehrfach um Hilfe gebeten hatte. Diesmal lächelte sie ihn an.
„Hamburg."
„Der ist gerade weg", erklärte sie bedauernd.
„Mist!" entfuhr es David.
„So wichtig?"
„Allerdings!"
Dieser Termin war mehr als nur wichtig für David, er hatte einen Gerichtstermin.
„Der nächste Zug fährt um halb neun."
David war es gewohnt schnell umzudisponieren, wichtige Termine zu verschieben, immer cool und selbstsicher zu sein, doch heute konnte er das nicht. Er setzte sich auf die nächste Bank und konnte nichts gegen die einzelne Träne, die über seine Wange lief, tun. Er bemerkte es nicht einmal, so verzweifelt war er.
„Wann müssen Sie denn in Hamburg sein?"
Erschrocken sah David auf, die Frau war ihm tatsächlich gefolgt und sah ihn mitfühlend an.
David schüttelte seinen Kopf. Sicher meinte die Frau es gut, aber im Moment konnte ihm niemand helfen. Er hatte verloren.
„Wer nicht kämpft, der hat automatisch verloren!" redete sie in seine Gedanken.
Woher konnte diese Frau wissen, was er gerade dachte?
„Das versteh’n Sie nicht!"
David erkannte wie die Frau einen Schritt zurück wich. Ihm tat es im Nachhinein leid, dass er so unfreundlich und laut geworden war. Sie konnte nichts für seine Lage.
„Hören Sie, Herr… wie auch immer Sie heißen! Ich helfe Ihnen nun schon eine ganze Weile immer wieder den richtigen Zug zu finden und nie habe ich dafür ein ‚Dankeschön’ gehört…"
Plötzlich hielt die Frau inne, David hatte zu ihr aufgesehen und ihr tatsächlich zugehört. Warum redete sie nicht weiter?
„Wann müssen Sie in Hamburg sein?" fragte sie erneut, diesmal sehr vehement.
„Um zehn, aber…"
„Warten Sie!" forderte sie und verschwand.
David überlegte was er tun sollte. Einem ersten Impuls folgend hatte er sofort gehen wollen, aber was hatte er noch zu verlieren? Er würde nicht zu dem Gerichtstermin erscheinen können und damit das Sorgerecht für seine Kinder verlieren, das war ihm klar. Dabei hatte er solange darum gekämpft. Die Familie seiner verstorbenen Frau war unerbittlich, sie wollten die Kinder und eine beträchtliche Menge an Unterhalt. Es ging David nicht um das Geld, aber er wollte nicht auch noch seine Kinder verlieren. Sie waren alles was er noch hatte, der Tod seiner Frau hatte ihn schwer getroffen. Traurig dachte er an ihre gemeinsame Zeit zurück, drei Jahre war es her, dass sie nach langer Krankheit in seinen Armen eingeschlafen war. David blickte auf, die Frau kam zurück.
„Ankunft in Hamburg Fuhlsbüttel um zehn Uhr fünfzehn. Würde Ihnen das auch reichen?"
„Das ist völlig unmöglich!"
„Mit Geld ist heutzutage alles möglich!"
Diese Antwort klang verächtlich, fand David, aber er wollte jetzt nicht darauf eingehen.
„Wie viel verlangen Sie?"
„Kommen Sie mit!" forderte sie und lief vor, David folgte ihr.
In ihm keimte die Hoffnung, doch noch wenigstens einigermaßen pünktlich zur Verhandlung zu erscheinen. Egal was diese Frau dafür verlangte, er würde es ihr geben.
Als sie das Servicebüro betraten, ging die Frau einfach an der Schlange vorbei auf eine ältere Dame am Schalter zu.
„Was kostet das Ganze?"
„Zweihundertsechs…"
Erstaunt sah David die beiden Frauen an. Dennoch reichte er der Frau hinter dem Schreibtisch seine Kreditkarte.
Kurz darauf hielt er mehrere Tickets sowie eine Routenbeschreibung in der Hand.
„Ihr Zug fährt in zehn Minuten auf Bahnsteig drei, nach vier Stationen steigen Sie aus. Von dort nehmen Sie ein Taxi zum Sportflughafen…"
Erstaunt sah David die Frau an. Flughafen?
„Beeilen Sie sich!"
Damit hatte sie David aus seinen Gedanken gerissen. Schnell ging er zum besagten Bahnsteig. Er war doch etwas verwundert, als er schließlich in einen Bummelzug einstieg. Aber er wollte nichts unversucht lassen.
Genau wie ihm gesagt wurde, nahm er schließlich ein Taxi, dass ihn zu einem kleinen Flughafen brachte. Ziemlich verlassen stand er dort und sah zu den Segelflugzeugen, als ihn jemand ansprach.
„Hamburg?"
David nickte.
Der Mann machte ihm Zeichen, ihm zu folgen, was David natürlich tat. Ziemlich verwundert stieg er schließlich in einen Hubschrauber ein. Der Pilot half ihm beim Anschnallen und reichte ihm einen Kopfhörer mit Mikrofon.
„Mein Name ist Dexter. Sind Sie schon mal geflogen?"
„Mit einem Hubschrauber noch nicht."
Die Rotoren waren bereits dabei sich warm zu laufen, während die beiden Männer sich unterhielten.
„Wenn Ihnen schlecht wird oder sonst irgendwas ist, machen Sie sich bemerkbar!" forderte Dexter.
„Wenn Sie während des Fluges nicken, seh’ ich das nicht!"
David sah seinen Fehler sofort ein.
„Und Sie schaffen das wirklich noch rechtzeitig?"
„Normalerweise schon."
„Was heißt ‚normalerweise’?"
„Kommt auf die Wetterverhältnisse an. Wieso haben Sie´s so eilig?"
„Haben Sie Kinder?" fragte David den Mann.
„Ja, einen Sohn, gerade sechs Monate alt."
David hörte den Stolz in seiner Stimme, also begann er zu erzählen:
„Ich habe einen Gerichtstermin, heute soll über das Sorgerecht meiner Kinder entschieden werden."
„Dann sind Sie geschieden?"
„Nein, verwitwet."
„Und Ihre Kinder leben bei Ihnen?"
„Ja, bis jetzt noch, aber die Familie meiner Frau…", David stockte.
„Wann ist Ihre Frau gestorben?"
„Vor drei Jahren."
„Und wie kommen Ihre Kinder damit klar?"
„Ich denke, nicht