Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Wanderer durch die Zeiten
Wanderer durch die Zeiten
Wanderer durch die Zeiten
eBook308 Seiten4 Stunden

Wanderer durch die Zeiten

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Die Bruderschaft aller Zeitenwanderer sieht sich erstmals mit einer weiblichen Zeitreisenden konfrontiert, der Studentin Marie, die im Berlin der Gegenwart lebt.
Viel Zeit bleibt ihr nicht, sich mit ihrer Gabe vertraut zu machen, denn schon findet sie sich in einem Kampf um die Zukunft der Welt wieder. Welche Opfer ist sie bereit, für die Menschheit zu bringen?
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum5. Nov. 2015
ISBN9783739204543
Wanderer durch die Zeiten
Autor

Anja Buchmann

Anja Buchmann *1985. Mit großer Leidenschaft schreibt sie Fantasyromane und Kurzgeschichten. Der Wunsch nach schreiberischer Fortentwicklung lässt sie sich immer wieder an neuen Genres versuchen, auch wenn Fantasy den klaren Schwerpunkt der Arbeit darstellt. Einen Überblick über das gesamte Schaffen bieten anjabuchmann.de sowie facebook/AutorinAnjaBuchmann.

Mehr von Anja Buchmann lesen

Ähnlich wie Wanderer durch die Zeiten

Ähnliche E-Books

Fantasy für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Wanderer durch die Zeiten

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Wanderer durch die Zeiten - Anja Buchmann

    Inhaltsverzeichnis

    Wanderer durch die Zeiten

    1

    2

    3

    4

    5

    6

    7

    8

    9

    10

    11

    12

    13

    14

    15

    16

    17

    18

    19

    20

    21

    22

    23

    24

    25

    26

    27

    28

    29

    30

    31

    32

    33

    34

    35

    36

    37

    38

    39

    40

    41

    42

    43

    44

    45

    46

    47

    48

    Die Autorin

    Impressum

    Wanderer durch die Zeiten

    Fantasyroman

    von

    Anja Buchmann

    1

    Lateinisches Königreich Jerusalem, ein heißer Sommertag im Jahr 1113

    »Gideon, komm essen.«

    Der hagere Junge erhob sich von dem Schemel, auf dem er im Schatten des Hauses gesessen hatte. Er legte das Schnitzwerk beiseite, klopfte sich die Späne vom Gewand und trat in das Haus, in dem seine Mutter mit dem Essen wartete.

    Kaum hatte er Hände und Gesicht gewaschen und sich an den Tisch gesetzt, klopfte es an der Tür. Seine Mutter ging, um zu öffnen. Ein junger Mann stand in der Tür, hochgewachsen, mit heller Haut und dunklem Haar. Definitiv kein Einheimischer, eher ein Franke. Auch in Gideons Adern floss fränkisches Blut, dennoch hasste er alle Franken. Sie waren hierher gekommen und hatten sich das Land einfach genommen. Und dabei war es nicht geblieben, auch vor den einheimischen Frauen hatten sie keinen Halt gemacht. Seine Existenz legte Zeugnis darüber ab. Nur einmal hatte er seine Mutter nach den Umständen seiner Zeugung gefragt. Ihr trauriger Blick hatte ihn, trotz der ausbleibenden Antwort, von weiteren Nachfragen absehen lassen.

    Seine Mutter sprach leise mit dem Fremden, bat ihn schließlich herein. Offenbar kannte sie ihn nicht erst seit eben. Andernfalls hätte sie ihn nicht einfach so eintreten lassen. Gideon spürte, wie sein Körper sich anspannte. Irgendetwas sagte ihm, dass der Besuch des Mannes ihm galt. Und das behagte ihm in keinster Weise. Er wollte nichts mit diesem Franken zu tun haben.

    Der Mann kam auf ihn zu und sprach ihn an: »Darf ich mich dir vorstellen, Gideon? Mein Name ist Alexander und ich bin Händler. Ursprünglich komme ich aus Griechenland.«

    Dieser Mann war also kein Franke. Seine Anspannung ließ etwas nach. Der Mann sprach weiter, erklärte ihm, er habe auf dem Markt seine Schnitzereien bewundert und Gideons Mutter nach dem Künstler gefragt, der diese erschuf. Er selbst sei ebenfalls Künstler und sehr interessiert daran, Gideon in verschiedenen Gebieten der Kunst auszubilden.

    Gideons Interesse war geweckt. Die Schnitzerei war für ihn mehr als ein Mittel, den Marktstand seiner Mutter um weitere Produkte zu ergänzen – seine Mutter war Schneiderin –, er liebte es, dem Holz immer wieder neue Formen zu geben. Oft war er dabei an seine Grenzen gestoßen, hatte nicht gewusst, wie er seine Idee am besten umsetzen konnte. Ein Lehrmeister käme ihm gelegen. Er tauschte Blicke mit seiner Mutter, wollte erfahren, was sie davon hielt. Sie deutete ein Nicken an, sagte aber nichts. Mit seinen dreizehn Jahren war er alt genug, für sich selbst zu sprechen. Und so begann er, Alexander bezüglich seiner Kunst auszufragen. Er wollte genau wissen, was der nur wenige Jahre ältere Mann ihn zu lehren gedachte. Anfangs war sein Gegenüber mitteilsam, aber irgendwann verlor Alexander wohl die Geduld. Er sprach: »Ich kann dich Dinge lehren, von denen du nicht einmal zu träumen wagst. Hast du nun Interesse oder nicht?«

    Gideon fühlte sich überrumpelt. Einerseits wollte er diese Chance nicht ungenutzt verstreichen lassen, andererseits hatte der Mann etwas Seltsames an sich. Schlussendlich überwand er seine Vorbehalte und sagte zu.

    Und so wurde er Alexanders Lehrling. Damit brachen drei Jahre harter Arbeit an, denn die Ausbildung umfasste weit mehr als eine Unterweisung in den unterschiedlichsten künstlerischen Gewerken.

    2

    Zwischenspiel

    Das Laub riesiger Bäume raschelte im Wind. Ein großer Schatten fiel auf den Boden und sie blickte auf. Ein Vogel, nein, ein Flugsaurier kreiste über ihr. Hatte dieser sie als Beute auserkoren? Sie begann zu laufen. Farnähnliche Gewächse streiften ihre nackten Beine. Das übergroße T-Shirt blähte sich wie ein Segel. Der Boden war uneben, aufgewühlt von den Füßen unzähliger Tiere. Hätte sie Augen dafür gehabt, sie hätte nicht weniger als zehn verschiedene Dinosaurierabdrücke entdecken können. Sie stolperte, fiel. Der Schatten war noch immer über ihr, wurde größer. Ein heiserer Schrei erscholl. Sie musste fort von hier, doch es gab scheinbar kein Entrinnen. Sie schloss die Augen, kauerte sich zusammen und wartete darauf, dass der Saurier herabstieß.

    Berlin, Gegenwart

    Schweißgebadet wachte Marie auf. Sie setzte sich auf, schwang die Beine aus dem Bett.

    Das Bett war eines ihrer wenigen Zugeständnisse an Komfort. Der Rest ihrer kleinen Einraumwohnung war praktisch und platzsparend eingerichtet, das schmiedeeiserne Bett mit seinen fast zwei Metern Breite hingegen war für eine Person mehr als überdimensioniert. Doch das war ihr egal, es war ein Erbstück, dem sie mit viel Mühe und einer neuen, superbequemen Matratze neuen Glanz verschafft hatte. Sie liebte ihr Bett, es war fast so etwas wie ihr Lebensmittelpunkt. Hier schlief sie nicht nur, hier las sie, sah fern, nutzte ihren Laptop oder hing einfach ihren Tagträumen nach. Kurzum, das Bett war ihr sicherer Hafen, ihr Rückzugsort.

    Umso ärgerlicher waren diese Albträume. Sie traten zwar nicht regelmäßig auf, aber immerhin häufig genug, als dass sie sich schon fast daran gewöhnt hatte. Die ersten paar Mal hatte sie sich noch Gedanken darüber gemacht, doch da es immer andere Träume waren, glaubte sie nicht mehr daran, dass sie eine Bedeutung hatten. Lästig waren sie dennoch. Marie konnte nicht verstehen, woher diese nächtlichen Auswüchse ihrer Fantasie stammten. Schließlich war sie alles andere als ein Geschichtsfreak, ihre Träume aber führten sie in die unterschiedlichsten Epochen der Erdgeschichte. Dabei hieß es, Träume hätten stets einen Bezug zur eigenen Erlebenswelt. Was hatte sie mit Dinosauriern zu tun?

    Jetzt grübelte sie wieder! Sie verbot sich dies und ging ins Bad, wo sie eine lange, heiße Dusche nahm. Während sie mit geschlossenen Augen dastand, rann das Wasser an ihr herab und als kleines erdbraunes Rinnsal, auf dem einige grüne Pflanzenreste trieben, in den Abfluss.

    Sie griff nach einem Handtuch und schlang es sich wie einen Turban um ihren Kopf. Mit einem zweiten Handtuch trocknete sie sich ab. Nur mit dem Handtuchturban bekleidet ging sie ins Zimmer zurück, öffnete ihren Kleiderschrank und stand eine Weile unschlüssig davor. Irgendwie war ihr heute nicht nach Kleid, doch da Samstag war und sie den ganzen Tag im Café kellnern würde, wäre es wohl die bessere Wahl. Sie hatte es ausprobiert, im Kleid erhielt sie mehr Trinkgeld als in Jeans. Und da sie jeden Euro gebrauchen konnte, entschied sie sich schließlich für ein schlichtes schwarzes Jerseykleid. Es war zwar kein besonders aufregendes Kleidungsstück, aber der Schnitt schmeichelte ihrer femininen Figur, kaschierte das ein oder andere Fettpolster und setzte ihr Dekolleté in Szene. Außerdem konnte man mit Schwarz nichts falsch machen, es war also ideal für Tage wie heute, an denen ihr nicht der Sinn nach modischen Höchstleistungen stand. Bald hatte sie aus der Kommode alles zusammengesucht, was sie sonst noch für ihr Outfit brauchen würde. Draußen war es noch immer dunkel. Sie konnte sich also Zeit lassen, musste sie erst um neun im Café sein.

    Nachdem sie gefrühstückt hatte, putzte sie sich die Zähne und legte ein dezentes Make-up auf. Ihr kurzer brauner Haarschopf war inzwischen getrocknet, sodass sie nicht würde zum Föhn greifen müssen. Sie warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel, zupfte einige Strähnen ihres Bobs zurecht. Diese Frisur erforderte zwar regelmäßige Friseurbesuche, dennoch war sie froh, sich dafür entschieden zu haben, verhinderte sie das tägliche Einerlei eines langweiligen Pferdeschwanzes; der Bob sah schon durch die naturgegebene Störrischkeit ihres Haars jeden Tag ein bisschen anders aus.

    Um halb neun schwang sie sich auf ihr Fahrrad, um die wenigen Kilometer bis zu ihrem Arbeitsplatz zurückzulegen. Am Samstag war der Verkehr weniger schlimm als in der Woche, doch Berlin war für Radfahrer ein gefährliches Pflaster, sie musste sich aufs Fahren konzentrieren, wollte sie heil ankommen. Das war immer noch besser, als den Weg aufs Umständlichste mit dem öffentlichen Nahverkehr zurückzulegen. Die Busse und Bahnen fuhren so ungünstig, da wäre es fast schneller gewesen zu laufen. Nicht, dass Marie das beinahe lückenlose Netz aus S- und U-Bahnen, Straßenbahnen und Bussen nicht zu schätzen wusste, prinzipiell war sie sehr glücklich über dessen Möglichkeiten. Nur das kleine Café in Köpenick, in dem sie neben ihrem BWL-Studium arbeitete, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, war damit schlecht zu erreichen.

    Zehn vor neun erreichte sie das Café. Ihre Chefin Simone und die Küchenkraft Tanja waren schon da und bereiteten alles für den Ansturm der Frühstücksgäste vor. Simone begrüßte sie: »Guten Morgen Marie. Siehst müde aus, wieder die ganze Nacht gefeiert?«

    In ebenso scherzhaftem Ton gab sie zurück: »Aber sicher, du kennst mich doch.«

    Tatsächlich kannte ihre Chefin sie nach den vier Jahren, die sie hier arbeitete, gut genug, um zu wissen, dass derlei Eskapaden nicht zu Maries Verhalten gehörten. Zwar ging sie gelegentlich abends aus, doch nie, wenn sie am nächsten Morgen arbeiten musste. Simone wusste diese Zuverlässigkeit zu schätzen. Über die Zeit hatten die beiden ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt. Als Marie sich vor drei Monaten von ihrem langjährigen Freund getrennt hatte, hatte Simone ihr von sich aus einen kurzfristigen Urlaub angeboten. Letztendlich hatte Marie keinen Gebrauch von dieser großzügigen Geste gemacht. Die Arbeit war ihr eine willkommene Ablenkung gewesen, Wohnungssuche und Umzug waren durch die tatkräftige Mithilfe von Freunden schnell erledigt gewesen.

    Das Wortgeplänkel ließ sie ihre Pflichten nicht vergessen: Sie band sich ihre Schürze um und verteilte Vasen mit frischen Blumen auf den Tischen. Noch ein paar Momente der Ruhe, dann begann der übliche samstägliche Serviermarathon.

    Die nächsten drei Stunden arbeitete sie ohne Pause, bediente junge und ältere Pärchen ebenso wie komplette Familien oder Grüppchen von Freundinnen, die sich hier zum Frühstück trafen. Es war ein buntes Treiben.

    Gegen Mittag kehrte etwas Ruhe ein, bevor ab zwei Uhr nachmittags kamen die ersten Gäste, die sich am reichhaltigen Kuchenangebot laben wollten. Bis zur Schließung um sechs ebbte der Zustrom nicht ab. Obschon es anstrengend war, so genoss sie ihre Arbeit dennoch. Sie liebte es, wenn die Gäste ihr ihren Service mit einem Lächeln vergalten, sie mochte das rege Treiben, und das Zischen der Kaffeemaschine vermittelte ihr ein Gefühl von Heimat. Dabei war sie anfangs skeptisch gewesen, ob sie dem Job als Kellnerin gewachsen wäre. Nur der Wunsch nach finanzieller Unabhängigkeit von ihren Eltern hatte sie ihn annehmen lassen. Damals hielt sie sich für zu schüchtern, um ihn wirklich gut zu machen. Für sie war es einem Wunder gleichgekommen, dass Simone sie eingestellt hatte.

    Als die Tageseinnahmen gezählt waren und sie ihren Anteil des Trinkgelds erhalten hatte, machte sie sich auf den Heimweg. Unterwegs kaufte sie noch ein: eine Tiefkühlpizza für den Abend, dazu eine Packung Eis. Für den Sonntag hatte sie sich vorgenommen zu kochen, also fanden Zucchini, Tomaten und Paprika den Weg in ihren Einkaufskorb, dazu Käse, Eier und Milch. Alles andere hatte sie noch zu Hause. Eigentlich liebte sie Kochen und Backen, doch sie hatte sich noch nicht daran gewöhnt, es für sich alleine zu tun. Als sie noch mit Mike zusammengewohnt hatte, hatte sie jeden Tag für ihn und sich gekocht. Nicht, dass ihr Freund dies zu schätzen gewusst hätte. Letztendlich war das einer der vielen Gründe gewesen, sich von ihm zu trennen. Sie hatte sich immer mehr wie seine Haushälterin und immer weniger wie seine Partnerin gefühlt. Dabei hatte sie so viel für die Beziehung getan. Seinetwegen war sie zum Studium nach Berlin gezogen, dabei hätte ihr eine kleinere Stadt wie Leipzig, die zudem noch näher an ihrer erzgebirgischen Heimat lag, mehr zugesagt. Mike wollte keine Fernbeziehung. Im Nachhinein hatte sie oft überlegt, ob sie nicht zu viele Zugeständnisse gemacht hatte. Nun war es ohnehin egal, sie hatte sich gut in ihr Singledasein eingefunden, hatte sich im letzten Jahr ihrer Beziehung immer stärker emotional von ihrem Freund gelöst. Die Freundschaften, die sie in dieser Phase geschlossen oder vertieft hatte, waren ihr nach der Trennung zugutegekommen. Entgegen ihren Erwartungen hatte sie sich niemals einsam gefühlt.

    Als sie in ihrer Wohnung angekommen war und die Einkäufe verstaut hatte, überlegte sie kurz, ob sie ihre beste Freundin anrufen sollte, entschied sich dagegen. Sie hatte an diesem Tag genug Menschen um sich gehabt. Lieber wollte sie den Abend allein mit einem guten Buch verbringen. Während die Pizza im Ofen backte, inspizierte sie ihr Bücherregal. Mit Pizza und Liebesroman ausgerüstet zog sie sich ins Bett zurück.

    3

    Raum der Nichtzeit

    Zunächst war es nur ein schwaches Flimmern der Zeit gewesen, doch nachdem es immer häufiger aufgetreten war, sah Alexander sich gezwungen, der Sache nachzugehen. Seine sorgfältigen Beobachtungen ließen seinen Blick auf das Berlin der Gegenwart fallen. Das war beruhigend, denn es bedeutete, sie hatten in der Vergangenheit keinen der ihren übersehen. Jetzt mussten sie den Jungen nur noch ausfindig machen. Aber so sehr er und seine Brüder sich mühten, der, den sie suchten, entzog sich ihren Blicken. So etwas war noch nie geschehen, zumindest nicht in Alexanders Zeit als Oberhaupt der Bruderschaft. Er sah sich daher gezwungen, einen der Brüder auszusenden, um denjenigen zu finden, der für die Fluktuationen im Zeitgefüge verantwortlich war.

    Er zögerte, den Jüngsten in ihren Reihen mit dieser Aufgabe zu betrauen. Andererseits, James war derjenige, der sich am besten mit den Gegebenheiten der Jetztzeit auskannte. Alexander und die anderen zehn Brüder würden ihn im Auge behalten und ihm Hilfe senden, so er ihrer bedurfte. Also war es entschieden, James würde sich auf die Suche nach dem potenziellen neuen Bruder machen.

    Der Gedanke an die bevorstehende Reise versetzte ihn in Aufregung. Es war das erste Mal, dass er sich alleine auf den Weg durch die Zeit machen würde. Bisher war er auf all seinen Reisen von einem seiner Mitbrüder begleitet worden, jeder Ritt auf den Wogen der Zeiten war eine Lektion, die ihn tiefer in die Mysterien der Geschichte und die Beherrschung seiner Gabe einführen sollte. Und auf die Sensation der Reise folgte stets eine ungleich längere Phase des Beobachtens und Analysierens aus dem Schutz des Raums der Nichtzeit heraus. Über seine Ausbildung war die Weltgeschichte annähernd hundert Jahre vorangeschritten, was die Reise in die Jetztzeit umso verlockender machte. Voller Ungeduld lauschte James daher den Ausführungen und Ermahnungen des Obersten Bruders Alexander. Sie erschienen ihm nutzlos, er war sich sicher, seine Aufgabe mit Leichtigkeit erfüllen zu können.

    Endlich war es so weit! Seine Suche konnte beginnen.

    Aus den Beständen der Bruderschaft hatte er die modernste Kleidung ausgesucht, die er hatte finden können, ein weißes Hemd sowie eine Jeans, dazu eine schwarze Lederjacke und ausgelatschte Turnschuhe. Zum Glück hatte er die gleiche Größe wie Bruder Thomas, der vor Kurzem New York im Jahr 2001 besucht hatte. Ein schwarzer Rucksack mit einigen weiteren Sachen komplettierte sein Outfit. Mit dieser Ausstattung würde er nicht weiter auffallen und das war wichtig. In seiner Situation war es klüger, keine Aufmerksamkeit zu erregen. War es in früheren Epochen der Geschichte noch einfach, sich eine Identität zuzulegen, so war es in der Gegenwart ein schwieriges Unterfangen. Weder war es ihm möglich, an einen Ausweis zu kommen noch an andere Dokumente. Zumindest besaß er eine größere Menge Bargeld. Alexander hatte die Euro besorgt, indem er in das Versteck eines Drogendealers eingedrungen war und das Geld entwendet hatte. Aus seinen Studien wusste James, dass Geld so manche Tür öffnete, das war eine der wenigen Konstanten in der menschlichen Geschichte.

    James konzentrierte sich auf sein Ziel. Der Vorhang, der den Raum der Nichtzeit umgab, entstand vor seinen Augen und er schritt hindurch. Umfangen vom bunten Strudel der Zeiten brauchte er einen Moment, um sich zu orientieren. Dann hatte er Bestimmungsort und -zeit entdeckt und griff danach.

    Berlin, Gegenwart

    Er hatte gut gezielt, sein plötzliches Erscheinen schreckte nur einige Vögel auf, der kleine Wald am Rand der Stadt war menschenleer.

    Es war noch früh am Morgen, die Sonne war noch nicht vollends aufgegangen. Noch einmal streckte er seine Sinne nach dem Gefüge der Zeiten aus und versicherte sich so, wirklich in der Gegenwart angekommen zu sein. Zeitreisen waren eine diffizile Sache. Der Strudel der Zeit bewegte sich in einem unfassbaren Tempo, das kaum beherrschbar war. Die Mitglieder der Bruderschaft waren nur deshalb in der Lage dazu, weil sie stets vom Raum der Nichtzeit aus starteten oder diesen als Ziel hatten. Im Gegensatz zu allen anderen Orten und Zeiten lag er vollkommen bewegungslos im Zentrum des Strudels. Er war der Fixpunkt, der Anker, ohne den sich jeder Zeitreisende wohl hoffnungslos im Chaos verloren hätte.

    Er folgte einem ausgetretenen Pfad. Zahlreiche Spuren von Fußgängern und Radfahrern verrieten ihm, dass dieser irgendwohin führen musste. Bevor er nicht ein Straßenschild erreichte, war der Stadtplan, den er mitführte, reichlich nutzlos. Er hoffte, in die richtige Richtung zu gehen. Noch konnte er die Schwingungen im Gewebe der Zeit nicht spüren, die von dem, den er suchte, ausgingen. Nicht allzu fern vernahm er das Rattern von Stahlrädern auf Schienen, vielleicht fände er bald einen Bahnhof.

    Der Weg hatte ihn zunächst in eine Einfamilienhaussiedlung und schließlich zu einem Bahnhof der S-Bahn geführt. Nach einigem Kampf war es ihm gelungen, das Liniennetz zu deuten und einen Fahrschein für den ganzen Tag zu erwerben. Glücklicherweise hatte ihm ein junger Mann bei der Bedienung des Automaten geholfen. In dieser Situation hatte James spontan entschieden, sich als englischer Reisender auszugeben, denn dies erklärte seine mangelnde Ortskenntnis ebenso wie sein schlechtes Deutsch. Außerdem war es nicht wirklich gelogen, da er aus London stammte, wenn auch aus dem London des beginnenden 20. Jahrhunderts.

    Wenn er den Plan richtig gelesen hatte, befand er sich am südöstlichen Stadtrand. Er würde mit der S-Bahn bis ins Zentrum fahren, um dort mit seiner Suche zu beginnen. Es waren weniger praktische Erwägungen als pure Neugier, die seine Entscheidung für dieses Vorgehen bedingte. Obwohl er fest entschlossen war, seine Aufgabe zur Zufriedenheit der gesamten Bruderschaft zu erfüllen, so wollte er dennoch keine Möglichkeit zum Sammeln neuer Erfahrungen ungenutzt lassen. Er wusste, Alexander würde den Kopf über so viel Entdeckerdrang schütteln, doch dieser hatte mehr als ein Jahrtausend gehabt, seine Neugierde zu befriedigen.

    In der S-Bahn kam er aus dem Staunen kaum heraus. Er musste sich zusammenreißen, um die Leute nicht allzu offensichtlich anzustarren. Deren Kleidung war genauso bunt und vielfältig wie ihr ethnische Herkunft. Nicht, dass ihm dies fremd gewesen wäre. Das London seiner Zeit war ein Anziehungspunkt für Menschen aus der ganzen Welt gewesen. Die Atmosphäre hier war dennoch eine andere, wiewohl er sie noch nicht zu beschreiben wusste. Besonders faszinierend fand er, wie viel Aufmerksamkeit die Menschen um ihn herum ihren technischen Geräten widmeten, kaum einer schaute aus dem Fenster, dafür tippte fast ein jeder auf irgendeinem Gerät herum, hatte Kopfhörer auf den Ohren oder telefonierte. Wie gut, dass James so viel Zeit mit der Beobachtung der Gegenwart verbracht hatte, so wusste er wenigstens im Groben, womit er es hier zu tun hatte. Er stellte sich vor, wie wohl seine Mitbrüder, die ihre Aufmerksamkeit auf die Erforschung vergangener Zeiten richteten, bei diesem Anblick reagiert hätten. Sie wären wohl vollkommen ratlos und überfordert gewesen. Die Vorstellung ließ ihn schmunzeln. Wahrscheinlich war deshalb er mit diesem Auftrag betraut worden.

    Er stieg am Alexanderplatz aus. In einem Buchladen im Bahnhofsgebäude kaufte er sich einen englischen Reiseführer. Dann beschloss er, aus luftiger Höhe einen Blick auf die Stadt zu werfen. Er bezahlte den geforderten Eintritt und fuhr mit dem Fahrstuhl hinauf in die sich drehende Kugel des Fernsehturms. Er ließ die Stadt an sich vorbeiziehen und überlegte, wie er weiter vorgehen sollte. Es würde schwierig werden, ohne Ausweis ein Zimmer für die Nacht zu mieten, also musste er versuchen, den potenziellen Zeitenwanderer noch vor Einbruch der Dunkelheit zu finden und sein Vertrauen zu gewinnen. Ein anspruchsvolles Unterfangen, das keine weitere Verzögerung zuließ. Er streckte seine Sinne aus, versuchte, die Schwingungen des anderen zu erspüren. Da war nichts. Wie nah er ihm wohl sein musste, um ihn wahrzunehmen? Anders als im Raum der Nichtzeit waren die Schwingungen hier durch das ständige Voranschreiten der Zeit beeinträchtigt und geschwächt.

    Er verließ den Aussichtspunkt, um wieder in die S-Bahn zu steigen. Eine Fahrt auf dem Ring würde ihn innerhalb einer Stunde einen großen Bereich durchqueren lassen. Wenn er aufmerksam wäre, würde er vielleicht etwas spüren.

    Es fühlte sich seltsam an, dieses Handeln unter Zeitdruck. Das Denken in Minuten und Stunden war ihm fremd geworden. Im Raum der Nichtzeit spielten derlei Dinge kaum eine Rolle. Dass Zeit verging, konnte man lediglich wahrnehmen, wenn man seinen Blick konstant auf die Gegenwart richtete. Traf der Blick hingegen auf einen Punkt in der Vergangenheit, so konnte man selbst bestimmen, in welcher Geschwindigkeit die Ereignisse dort voranschritten, zumindest, wenn man etwas Übung im Beeinflussen des Zeitenstroms hatte.

    James hatte eine Weile gebraucht, bis er mehr als Standbilder oder Ereignisse in Originalgeschwindigkeit wahrzunehmen vermochte. Innerhalb des Raums der Nichtzeit gab es streng genommen keine Zeit. Der Taktgeber waren nur die Tätigkeiten der Menschen. Selbst die Körper stellten keinerlei Ansprüche,

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1