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Liebes Leben: Ein Mädchen im Spessart zwischen Märchen, Magie und Legenden und dem (un)heimlichen Erbe der Nachkriegszeit
Liebes Leben: Ein Mädchen im Spessart zwischen Märchen, Magie und Legenden und dem (un)heimlichen Erbe der Nachkriegszeit
Liebes Leben: Ein Mädchen im Spessart zwischen Märchen, Magie und Legenden und dem (un)heimlichen Erbe der Nachkriegszeit
eBook515 Seiten7 Stunden

Liebes Leben: Ein Mädchen im Spessart zwischen Märchen, Magie und Legenden und dem (un)heimlichen Erbe der Nachkriegszeit

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Über dieses E-Book

Aufgewachsen in einem kleinen Dorf im Spessart zwischen Märchen, Magie und Legenden und dem (un)heimlichen Erbe der Nachkriegszeit, den Grabenkämpfen der beiden Konfessionen ausgeliefert und doch trotz aller Widerstände und der drohenden Flucht aus dem Leben den "Eigen(en)Sinn" hinübergerettet in tiefer Verbundenheit mit dem Glauben, der meine Kindheit prägte. Ein Blick zurück in das Leben der Eltern und Großeltern, nicht um anzuklagen, sondern zu verstehen und unter all den Verstrickungen die Liebe zum Leben zu entdecken.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum1. Mai 2022
ISBN9783742798206
Liebes Leben: Ein Mädchen im Spessart zwischen Märchen, Magie und Legenden und dem (un)heimlichen Erbe der Nachkriegszeit
Autor

Gabrielle Jesberger

Geboren 1947, aufgewachsen in Unterfranken, mit Zwölf in die Obhut von Klosterschwestern geschickt, mit neunzehn die Kindergartenliebe geheiratet, eine Familie mit drei Kindern gegründet, lange Jahre als Lehrerin im Schuldienst, seit 20 Jahren Yogalehrerin und glückliche Oma von neun Enkeln. Heute genieße ich die Zeit zum Schreiben und die Möglichkeit, einen Beitrag zu leisten, die Entwicklung der Demokratie in Europa lebendig zu erhalten und das Bewahren unseres Kulturgutes zu unterstützen.

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    Buchvorschau

    Liebes Leben - Gabrielle Jesberger

    Prolog

    Gegen das Vergessen

    Die Wertschätzung und Dankbarkeit, die mich heute mit Mama, Papa, dem Bruder, den Großeltern und allen mir nahestehen­den Menschen meiner Kindheit verbindet, umhüllt und beschützt mich wie ein wärmender Mantel im kalten Winter. Erst jetzt er­kenne ich, wie sehr mich alle in ihrer unnachahmlichen Persönlich­keit geprägt haben und wie das vom Schicksal unsichtbar gewebte Band der Liebe über den Tod hinaus weiterwirkt.

    Verschwommene Bilder, die auftauchen wie Lichtblitze, zerflie­ßen, sobald ich sie greifen will, wenn sehnsuchtsvolle Erinnerungen mich mit Wehmut erfüllen und verborgene Wunden erahnen lassen. Diffuse Gerüche, Geräusche, flüchtige Fragmente, überwältigende Gefühle verflüchtigen sich in einem Nebel wie aus einer anderen Welt. Den Schleier durchdringen, den ersten Schritt wagen, dem Sog folgen, nicht mehr ausweichen; stehenbleiben kann ich nicht mehr, zurück auch nicht. Nein, ich will mir nichts mehr vormachen, mich nicht mehr verstecken, mich nie mehr selbst belügen. Wie ein Höhlenforscher suche ich die Erinnerungen, folge mit klopfendem Herzen spontanen Impulsen, dem Drängen meines inneren Schein­werfers. Ein ahnungsvolles Bangen ergreift das auftauchende Bild als könne es sofort wieder im Dunkel verschwinden. Ich werde den Schleier des Vergessens lüften, anschreiben gegen das Vergessen, um zu verstehen und letztendlich zu heilen. Ich muss mich um eine Vorstellungskraft bemühen, die mich von sehnsuchtsvollen Erinne­rungen und romantischer Nostalgieschwärmerei frei macht, sie ent­stauben, um die Nüchternheit zu erlangen, die ich brauche, um meine Kindheit wie auf einer Leinwand anzuschauen und die Lü­cken zu füllen, die mir für ein tiefes Verstehen fehlen. Selbst meine Großeltern sind nur noch flüchtige Schatten, die ich nachzeichnen muss, um sie in den Labyrinthen meines Gedächtnisses nicht zu verlieren.

    Schon schreibe ich nicht mehr auf Wunsch unserer Kinder, er­ahne meine Chance. Wie Gäste, die meiner Einladung folgen, tau­chen nach und nach meine Wegbegleiter wieder auf. Urplötzlich ist er wieder da, dieser längst verlorene Geruch der Kindheit. Ich schließe die Augen und atme ihn tief ein. Unschuldige blaue Kin­deraugen schauen mich unverhofft an. Sie versprechen mir, Ge­schich­ten zu erzählen aus einem längst verlorenen Paradies. Ich will die­sem offenen, unerschrockenen Blick des kleinen Mädchens, das ich so lange vergessen glaubte, nicht mehr ausweichen, das in Sprachlo­sigkeit Erstarrte erlösen und vor allem lauschen. Altver­traute Angst findet zum ersten Mal eine Stimme. Ungeahntes Ver­trauen schafft Mut und eine Leichtigkeit, als ob mir Flügel wachsen, die mich tragen wohin ich nur will. Ich frage, was ich nie zu fragen wagte, bekomme Antworten, die mich tief berühren, lausche den Botschaf­ten aus einer längst vergangenen Zeit. Die schwarzen Löcher meiner Erinnerungen schrumpfen, ihre Bedeutungen begin­nen sich mir zu offenbaren. Alte Wunden können heilen, wenn mein Begreifen zulässt, dass aus verriegelten Kammern mehr und mehr Bilder, Gerüche, Wortfetzen auftauchen. Sobald ich schreibe, bre­chen im­mer wieder neue Bruchstücke, Relikte wie Blitzlichter auf. Gestal­ten lösen sich aus dem Dunkel, in dem sie jahrzehntelang verborgen waren, jede mit ihrem eigenen Gesicht, ihrer eigenen Stimme, ihren Leidenschaften und Hirngespinsten. Familienschick­sale aus der Zeit vor meiner Geburt ordnen sich Schritt für Schritt, ebenso wie die Aufzeichnungen aus meinen alten Tagebüchern. Immer wieder brauche ich Mut, um nicht mehr wegzuhören sondern weiterzulauschen, schenke dem Unerhörten Gehör, gewinne die Anekdoten meiner Mutter zurück, mit denen sie mich so gern in ihrer bildreichen Sprache und der mir so vertrauten unterfränkischen Ausdrucksweise am Küchenherd oder an der Nähmaschine in eine ver­gangene Zeit entführte. Bisweilen öffnen sich Schleusen, über­schütten Geschichten mich wie Sturzbäche, die mich in ihrem Stru­del mitreißen. Der Alltag verliert an Bedeutung, die Zeit wird zur Illusion, bis ich endlich bewusst tief Atem holen und mich so in die Gegenwart retten kann. Ich beginne zu ahnen, dass etwas in mir all die Jahre nur darauf gewartet hat, die so fest verschlossene Tür endlich zu öffnen. Nach dem ersten mühsamen Schritt ist jeder nächste leichter, bis ich irgendwann ganz leichtfüßig mich hineinbe­wegen kann. Das Kaleidoskop meiner Kindheit und Jugend, durch das ich zurückschaue, dreht sich immer schneller, wird zum Rausch, dem ich mich nicht mehr entziehen kann und auch nicht will. Eine unge­heure Erregung erfasst mich wie ein Fieber – wieder und wieder aufs Neue. Ungeduldig und begierig, als ob alles unmittelbar wieder an den Ort des Vergessens entfliehen könnte, versuche ich, die Fundstücke zusammenzusetzen. Will ich fliehen vor schmerz­haften Gefühlen, locken mich innere Stimmen wie Sirenen auf ge­heimnisvoll verschlungene Pfade. Die Erinnerungen kommen zu­nächst schubweise. Dann ist es plötzlich wie ein Dammbruch. Bei­nahe schlagartig ist alles wieder da, was tief in mir versteckt war: der Zauber, die Magie, das Unbekümmertsein wie auch das Schmerzliche, das Erschütternde, die übermächtige Angst. Es ist ein Aufbrechen, das meinen ganzen Körper elektrisiert wie ein Strom­schlag.

    Vorübergehend rette ich mich einige Zeit in den Alltag. Ungläu­big staunend lese ich Wochen später das dem Vergessen Entrissene und erkenne mich kaum wieder. Es ist, als ob ich in meinen Auf­zeichnungen eine andere entdecke, fühle ein starkes Unbehagen und eine große Unruhe breitet sich in mir aus. Gelingt es mir, nicht da­vonzulaufen, mich dieser Unbekannten zu stellen, erlebe ich ur­plötzlich, wie aus einer Metaperspektive, dass die beiden beginnen, vorsichtig Kontakt aufzunehmen und sich gegenseitig Fragen stel­len, um Antworten zu finden, bis eine subtile Vertrautheit mich aufatmen lässt. Wenn das Chaos mir am größten erscheint, eine alte, vergessen geglaubte Angst nichtsahnend wieder ihre Hand nach mir ausstrecken will, hält mich eine geheimnisvoll vertraute Kraft, die die einzelnen Puzzleteile nach und nach zu einem überraschenden Ganzen ordnet und mir erlaubt, den alten Schmerz zuzulassen und zu erkennen, dass er sein darf, weil er zu mir gehört und meine Ent­wicklung entscheidend geprägt hat. Endlich kann ich die heilsame Trauer zulassen. Schmerzvolle Einsicht und eine tiefe Traurigkeit treiben mir Tränen in die Augen, bis sich langsam eine wohlige Mattigkeit in mir ausbreitet und alles zur Ruhe kommt. – In bunten Bildern liegen schicksalshafte Zusammenhänge vor mir, entdecke ich meinen Platz neu in der Familiengeschichte, erkenne staunend, dass der Rückzug in meiner Kindheit und Jugend, die Ablehnung aller Erziehungsdoktrine nichts anderes waren, als das unbeirrbare Folgen meines inneren Kompasses, um mich hinüberzuretten, um irgendwann einmal mich selbst zu finden. Das Schreiben hilft mir, meine eigene Geschichte zu würdigen, mich selbst zu umarmen, um frei zu sein. Ich kann dem vergessen geglaubten Kind wieder begeg­nen, diesem neugierigen, wilden, verspielten und verträumten Mäd­chen mit dem herzhaften Lachen, unverstellt, voll unbändiger Le­benslust und Neugier und das Leuchten in ihren strahlend blauen Augen sehen.

    Manchmal habe ich mich gefragt, warum ich so lange dazu brauchte, aber das zählt nicht mehr, denn mit jeder Zeile die ich schreibe, bin ich auf meinem ureigenen Weg und eine neue Dank­barkeit wächst, die sich ausweitet zu einem tragenden Fundament meines Lebens.

    Teil 1

    An diesem kühlen Herbstmorgen, einem Samstag Ende Ok­tober 1960 – im Institut sind Herbstferien – schleiche ich mich sehr früh auf Zehenspitzen fast geräuschlos aus meinem Elternhaus. Mama, Papa und mein Bruder schlafen hoffentlich tief und fest. Noch ist es dunkel; durch die Nebelschwaden schimmern vereinzelt Straßenla­ternen im fahlen Licht. Behutsam schließe ich mit einem leisen Quietschen hinter mir die Haustür, halte kurz inne, horche hinein, drin bleibt alles ruhig. Begierig atme ich die kühle feuchte Luft und laufe los. Morgendunst hüllt mich ein, es riecht nach Herbst. Fröstelnd ziehe ich meine Schultern hoch, stecke entschlos­sen meine Fäuste in die Jackentaschen. In meinem Bauch regt sich ein unbekanntes, aber angenehmes Kribbeln. Mein Atem wird schneller je weiter ich mich vom Elternhaus entferne. Schon bin ich an der ersten Straßenbiegung vorbei.

    Jetzt würden die Eltern mich nicht mehr sehen können. Ich ver­langsame meinen Schritt, mit jedem weiteren wächst meine Ent­schlossenheit. Das Dorf ruht, niemand begegnet mir, keiner kann mir unangenehme Fragen stellen: „Wohin bist du denn schon so früh unterwegs? …" Heute bin ich scheinbar die erste, die ihre Schuhabdrücke im feuchtglänzenden dunklen Asphalt hinterlässt. Mein Weg führt mich vorbei an der Kirche, unserem Spessartdom – aus dem warmen roten Buntsandstein, mit dem hohen schlanken Turm und den gotischen Ornamenten –, dem alten Fachwerkhaus, meiner Schule, die ich fünf Jahre besucht habe, hoch zum Erzgra­ben, wo meine Großeltern früher Felder und Äcker bewirtschafteten. Gedanken, dass ich zum allerersten Mal etwas wage, das meine Eltern niemals verstehen oder erlauben würden, bewegen mich. Nur einen winzigen Augenblick halte ich inne, dann gelingt es mir, die aufsteigenden Zweifel beiseite zu schieben und mit jedem Schritt wächst meine Entschlossenheit. Mit jedem Meter Abstand vom Elternhaus gewinne ich Sicherheit und Selbstvertrauen. Noch ist mir nicht klar, wie weit ich gehen werde.

    Energisch richte ich mich auf, unterdrücke den erneuten Impuls zurückzuschauen, gehe mit festem Schritt weiter, suche mein unbe­kanntes Ziel. Vereinzelt hängen noch kleine Mostäpfel an den Bäu­men, die Wiese ist übersät mit faulendem Obst, ich atme den süßlich modrigen Duft. Der nebelblasse Vollmond begleitet mich mit sei­nem sanften Schimmer, bis mich die Dunkelheit des Waldes vor mir aufhält. Es ist wie ein Morgengebet, als ich am Waldrand in die Stille der Morgendämmerung lausche, die mich wie eine zärtliche Geste umhüllt. Gedankenverloren erkunden meine Hände die samt­zarten nebelfeuchten Moospolster auf dem mächtigen knorrigen Stamm vor mir auf dem Boden, der im Morgentau silbern schim­mert. Er erzählt vom einst hohen Wuchs, den weit ausladenden Zweigen, der Vielfalt seiner Blätter, den üppigen kleinen Eicheln, dem hohen Alter, so manchem Sturm Widerstand bietend. Eine verkrüppelte Eiche, sicher schon vor Jahren gefällt, seit langem der Witterung ausgeliefert und nun Heimat für Flechten, Moos und kleine Käfer. Tief atme ich den modrig herben Geruch des Laubes. Beinahe geräuschlos nimmt der weiche Waldboden mit seinen brau­nen und rostroten Flecken meine Schritte auf. Noch scheint auch die Natur zu schlafen, kein Windhauch berührt mich. Nur hin und wie­der rascheln ein paar trockene Blätter, löst sich leise taumelnd ein einzelnes kupferglänzendes müdes Blatt aus den Zweigen über mir, um sich in einem schwerelosen letzten Tanz zur Erde in den ewigen Kreislauf des Lebens zu ergeben.

    Ergriffen drehe ich mich um und schaue hinunter auf mein Dorf. Plötzlich scheint es weit weg zu sein. Einzig die schlanke Kirch­turmspitze lugt durch den opalschimmernden samtigen Nebel­schleier, der wie ein weit ausgespannter Schirm behütend über den Dächern schwebt. Niemals zuvor gab es einen solchen Moment, es ist wie ein Zauber. Oder ist es nur ein Traum?

    Ich bin ganz allein, habe die Einsamkeit, die ich doch so sehr fürchte, zum allerersten Mal gesucht. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Ruhe umhüllt mich wie ein schützender Raum. Die pani­sche Angst vor dem Alleinsein, die mich seit meiner Geburt wie ein lähmender Schatten überall hin begleitet, verliert sich urplötzlich in einem Rausch der Euphorie. Doch dann steigt eine nie gekannte Schwermut in mir auf, ein Gefühl der Trauer, als ob ich nun alles und alle in meinem Leben hinter mir lassen würde: das Heimelige, so innig Vertraute und doch auch Beengende und Beängstigende. Ein Ahnen des Abschiednehmenmüssens überfällt mich, lähmt meine Gedanken, als ob mich eine unbekannte Kraft in die Tiefe ziehen will. Alles geschieht ganz langsam, wie in Zeitlupe. Reglos versuche ich mit letzter Konzentration zu beobachten, was in mir geschieht, will die Kontrolle nicht verlieren, bis ein Sog jeglichen Widerstand auflöst und ich mich völlig ergreifen lasse.

    Unendlich sanft gleite ich aus der Zeit, gebe mich hin, sinke ein in die morbide Stimmung dieses magischen Morgens. – Zeitlose Stille umfängt mich. – Da ist plötzlich eine merkwürdige Fremdheit in mir und ein Gefühl, das mich bewegungsunfähig macht, als ob sich meine Körperkonturen auflösen würden und sogar atmen über­flüssig wird. – Wer bin ich? – Bin ich Baum? – Bin ich Moos? – Bin ich Stein? – Bin ich die Luft, der Atem der Natur? …

    Plopp – plopp – plopp … Ist das der Morgentau, der von den noch verbliebenen Blättern der alten Eiche auf meinen Kopf tropft oder ist es mein Pulsschlag? Die Kühle lässt mich plötzlich frösteln. Noch nie hab‘ ich das Pochen in meiner Brust so kraftvoll gespürt. Sanftes Morgenlicht gleitet über die Felder und Wiesen. Ist es der Ruf einer Lerche ganz in der Nähe, den ich höre, als ob ihr Jubeln nur mir gilt? Von weither dringt das Rattern eines Traktors zu mir herüber. Irgendwo kräht ein Hahn. Das Dorf, mein geliebtes Nest, erwacht, ein neuer Arbeitstag ist angebrochen. Jetzt schlägt die Kirchturmuhr zweimal. Ist es schon halb acht? Mit klopfendem Herzen und dem Gefühl, größer zu sein als zuvor richte ich mich auf, hebe meinen Kopf, blinzle in die aufgehende Sonne und wische mir die zarten Spinnenfäden aus dem Gesicht, die meine Nase kit­zeln. Ich schiebe meine taufeuchten Haare hinter die Ohren, lecke mir den Morgentau von den Lippen, er schmeckt süß wie der Saft der Taubnessel, die ich als kleines Kind so gerne ausgelutscht habe. Wie lange schon sitze ich hier? Ein Ahnen sagt mir, nie wieder werde ich so sein wie bisher. Tief atme ich die frische Morgenluft. Es ist wie ein Aufbrechen zu etwas völlig Neuem, Unbekanntem, als ich endlich höre, wie ich ja sage. Meine zaghafte Stimme klingt fremd an meinem Ohr, zuerst flüsternd, dann immer lauter, kraftvol­ler, bis es erklingt wie eine Melodie. Ich rufe, singe und juble es förmlich heraus aus meinem Herzen, immer wieder, mein Ja zum Leben. Ich will es schmecken, fühlen, ergründen, das Mysterium meines Lebens.

    Mein Geheimnis werde ich wie einen Schatz behüten in meinem Herzen. Seither sehe ich meine Welt mit anderen Augen, erlebe die Vielfalt in der Natur, den Wald, die Bäume, den Gesang der Vögel, die Schönheit der Früchte, die Stille der Nacht, meine Verbindung mit allem, was um mich herum existiert, die Menschen in meinem Leben, als ob ein zusätzliches, ein drittes Auge all das wahrnimmt, was den anderen beiden Augen verborgen ist.

    Mein Leben lang bin ich seither immer wieder auf der Suche nach jenem Augenblick, in dem Natur und Herz wieder neu zusam­menklingen. Auf der Suche nach diesen wunderbaren Empfindun­gen in der Natur, dem Eingebettetsein, dem Glücksgefühl für das es keine Worte gibt, nach Erinnerungen, viel älter als mein Bewusst­sein, Erinnerungen, die unsere Erde bewahrt an eine Zeit, in der wir noch nicht existierten, ein Geheimnis, das uns Menschen nur zu­gänglich ist, wenn wir uns mit allen Sinnen dafür öffnen.

    Meine kleine Welt

    Der lange Winter 1947/48 mit vielen frostigen Nächten war nach einem außergewöhnlich heißen Sommer sehr kalt. Zu heizen war in dem kleinen Lehmhäuschen nur die Küche durch einen kleinen weißemaillierten Herd, der mit Holz und Eierkohle befeuert wurde. War das Feuer schon zu weit heruntergebrannt und die Holzkiste leer, sprang Mama – mit einem fürsorglichen Blick auf den er­schöpft auf dem Sofa liegenden Papa – auf, rief „ich houl schnäll nochen Oaffel Holz!"¹ und eilte hinaus. Das heiße Wasser im Was­serschiff des Herdes musste am Abend zum Waschen für alle aus­reichen. Zuerst wusch Mama mein Gesicht und die Hände mit ei­nem Waschlappen. Zuletzt kam Papa an die Reihe, der sehr schnell das kostbare Nass schwarz färbte. Er brauchte viel Kernseife für sein vom Schweißen rußgeschwärztes Gesicht und mit Hilfe einer groben Wurzelbürste schrubbte er seine ölverschmierten Hände. Oft kam er aus der Werkstatt mit Verletzungen an den Fingern, die er in einer schwarzen Brühe aus Eichenrinde badete, bevor er über Nacht seine schwieligen Hände mit dem glänzenden Melkfett einrieb. In der winzigen Wohnstube stand eines Tages ein kleiner braungla­sierter ausrangierter Ofen, der nur einmal im Jahr benutzt wurde: an Heiligabend und am ersten Weihnachtsfeiertag. Durch die winzigen alten Sprossenfenster, von denen der vergilbte Lack abblätterte und der Kitt bröckelte, zog die kalte Luft in das kleine Haus. Mama musste zusammengerollte Decken auf die Fensterbank legen, um die Kälte ein wenig abzuhalten und die Feuchtigkeit aufzufangen. Zum Schlafen in der Nacht packte Mama mich in einem wollenen Mütz­chen, Jäckchen, Handschuhen und einer Wärmflasche in den Stu­benwagen.

    Als Papa mir das Leben rettete

    Da Mama mich nicht stillen konnte und man nirgends Säuglings­milch kaufen konnte, setzte Papa sich auf sein Motorrad, Wurst und Butter im Gepäck zum Tauschen gegen Haferflocken. Doch als Ma­ma sie sah, entschied sie, die Qualität sei so schlecht, dass man bestenfalls das Schwein damit füttern könne. Jetzt hatte sie nur noch Mehl, um die mit Wasser verdünnte Kuhmilch ein wenig zu binden. Allerdings stellte sich bald heraus, dass ich eine Milchallergie hatte, denn auf meinem Kopf breitete sich ein nässender Schorf aus. Auch meine Augen waren am Morgen verklebt mit eitrigem Sekret. Mama musste meine Augen mit Kamillentee betupfen, um den Schorf ein wenig aufzulösen, damit ich die Augen öffnen konnte. Bald zeigten sich am ganzen Körper mehrere Furunkel, dazu kam hohes Fieber mit Krämpfen. Dr. Drescher wurde gerufen, aber als er sah, wie ich ohne Bewusstsein mit blauen Lippen im Fieberkrampf in Mamas Armen lag, wollte er die Verantwortung nicht übernehmen und entschied, Papa müsse mich sofort nach Aschaffenburg in die Kin­derklinik bringen, denn er äußerte Bedenken, ob ich diese Krankheit überleben würde. Doch Papa beschloss: „Wenn uns der Herrgott unser Kind wieder nehmen will, dann muss er es aus meinen Armen holen." Im Nachbardorf Eichelsbach fand er einen pensionierten Arzt, Dr. Pfeiffer, dessen Sohn mich auf die Welt geholt hatte. Der alte Arzt war so mutig, bei einem drei Monate alten Kind ohne Be­täubung die Furunkel zu öffnen, damit der Eiter abfließen konnte. Dazu musste Papa mich nackt mit einem Kissen auf den Küchen­tisch legen und meine Arme und Beine festhalten. Mama ertrug es nicht zuzusehen, ging hinaus und hielt sich verzweifelt die Ohren zu, um mein Schreien nicht hören zu müssen. Hinterher war jedes Mal das Kissen von Urin durchnässt. Tagelang kam dieser hochbe­tagte Arzt zu Fuß, war eine gute Stunde unterwegs, um einen weite­ren Eiterherd zu öffnen und legte anschließend die gleiche Strecke wieder zurück. Papa und Mama mussten mich in dieser schweren Zeit stundenlang abwechselnd herumtragen. Sobald sie stehenblie­ben, begann ich zu schreien. Und wenn sie dachten, jetzt schläft ihr Kind endlich und wollten sich setzen oder mich ins Bett legen, um sich etwas zu erholen, fing ich schon wieder an. Sie waren bald völlig übermüdet und erschöpft, denn dies wiederholte sich tage- und nächtelang und auch die Arbeit in der Werkstatt, an der Tank­stelle und im Haushalt musste erledigt werden. Mamas Erzählungen ließen nie einen Zweifel daran, dass Papas Entscheidung, mich nicht ins Krankenhaus zu bringen und vor allem ihre liebevolle Fürsorge mir das Leben rettete.

    Nachdem Dr. Drescher erkannte, dass es doch noch Hoffnung für mich gab, ordnete er an, ich müsse dringend Muttermilch be­kommen, um gesund werden zu können. Nun suchten meine Eltern nach einer Amme, die sich glücklicherweise im Dorf fand, weil sie gerade einen Jungen zur Welt gebracht und ihre Brust Milch im Überfluss hatte. Eilig wurde ich im Kinderwagen zu Frau Kaufmann in den Wiesenhof gefahren und an ihre Brust gelegt. Die fürsorgli­che Frau tat ihr Bestes; mehrmals versuchte sie mit Mama, mich durch kleine Tricks zum Saugen zu bewegen. Es war vergebens, immer wieder drehte ich mich mit einer Kopfbewegung von ihrer Brust weg, die Mama als nein interpretierte. Sie erzählte später mit nicht überhörbarem Stolz, dass ich die fremde Brust ablehnte. Mei­ner lieben Amme blieb nichts anderes übrig, als die Milch mühsam abzupumpen, damit Mama sie mir mit der Flasche füttern konnte.

    Der Kindergarten

    Da durch Mamas Arbeit an der Tankstelle wenig Zeit für mich blieb, schob sie mich bereits mit etwa fünf Monaten im Kinderwa­gen, in dem das Milchfläschchen und die Windeln verstaut waren, in den Kindergarten. Die schon lange ausgediente Kinnerschees² mit den hohen Speichenrädern, denen der Gummibelag fehlte, rüttelte mich so heftig durch, dass ich oft den Inhalt des frischgetrunkenen Fläschchens in hohem Bogen wieder ausspuckte. Schon nach kurzer Zeit brachte ich Läuse mit nach Hause. In den Jahren nach dem Krieg war das nichts Ungewöhnliches. Wenn sich eine Kinder­krankheit ausbreitete, war Mama darauf vorbereitet, denn ich bekam in den fünfeinhalb Jahren alle bekannten Kinderkrankheiten. – Mäd­chen, die einen großen Bruder hatten, betrachtete ich voller Neid und suchte vor allem den Kontakt zu Freundinnen, die mehrere Geschwister hatten. Bereits damals malte ich mir aus, später selbst einmal eine große Familie mit sechs Kindern zu haben. Zu Hause war es mir allein oft langweilig. Schon bald fand ich im Kindergar­ten einen vier Jahre älteren Freund, der mich beschützte wie ein großer Bruder. Sein Lachen hatte etwas Ansteckendes: Es blitzte schelmisch in seinen himmelblauen Augen, wenn die Grübchen in seinen Wangen mitlachten. Als einziger durfte er mich necken und foppen. Wenn er sich um mich kümmerte, war ich selig. Ich bewun­derte ihn, schaute zu ihm auf, vertraute ihm rückhaltlos und wusste, er würde mich gegen jeden verteidigen, der mich angriff oder auch nur vielleicht hätte angreifen können. Täglich kam er mit seinem Freund Gerd, holte mich von zu Hause ab und am Mittag brachte er mich wieder zurück. Auch für die Nachmittagszeit im Kindergarten waren die beiden wieder meine fürsorglichen Begleiter, die ihren Spaß hatten mit der fröhlich plappernden Kleinen. Dieses Glück hielt leider nur zwei Jahre. Nach den Sommerferien vermisste ich meinen Freund. Udo musste im Nachbarort zur Schule gehen und erst vierzehn Jahre später sollte ich ihn wiederfinden. Mag sein, dass diese kindliche Liebe den Grundstein legte für meinen frühen Hei­ratsantrag, als ich Udo endlich mit sechzehn Jahren wiederfand und nun nie mehr verlieren wollte.

    Auf dem Foto sind fünfundzwanzig Kinder im Alter von zwölf Monaten bis sechs Jahren auf der Treppe vorm Kindergarten zu sehen. Die Kleinsten sitzen in der ersten Reihe, ich in der Mitte, dreizehn Monate alt, mit nackten Speckbeinchen. Auf der nächsten Stufe überragt mich der fünfjährige Udo mit Beschützermiene. – Kamen wir nach dem Essen von zu Hause zurück, hielten wir Mit­tagsschlaf. Kleine Feldbetten aus dunkelgrauem Tuch wurden auf­gebaut, die Schwester zog die schweren Vorhänge zu. Wir stellten die Schuhe in Reih und Glied auf und krochen unter eine steife graumelierte Wolldecke, die schrecklich kratzte. In dem dunklen Raum musste absolute Stille herrschen. Auch wenn ich nicht jeden Nachmittag in den Schlaf sank, hüllte ein behagliches Gefühl mich ein. Die Bettchen standen eng nebeneinander. Ich lauschte auf die gleichmäßigen Atemgeräusche der schlafenden Kinder, ein wohli­ges Gefühl breitete sich in mir aus, ich war nicht allein, ich war geborgen. – Waren wir besonders brav, erzählte unsere Schwester Geschichten aus dem Leben von Jesus, der Gottesmutter und den Heiligen, deren Namenstag gerade im Kalender stand oder las aus ihrem großen dicken Märchenbuch vor. Während das kleinste Kind auf ihrem Schoß sitzen durfte, saßen wir anderen auf unseren klei­nen Stühlen im Halbkreis vor ihr. Auch wenn ich das Märchen von Schneewittchen oder Dornröschen schon so oft gehört hatte, dass ich es mühelos nacherzählen konnte, waren diese Stunden die aller­schönsten im Kindergarten. Hingebungsvoll lauschte ich den Wor­ten unserer Schwester und verwandelte mich, während meine Ohren auf den Singsang ihrer Stimme konzentriert waren, in Dornröschen, das in einen langen Schlaf fiel und von ihrem Prinzen träumte, der sie mit einem Kuss aufwecken würde. Regelmäßig betete unsere Schwester mit uns am Morgen vor dem Auspacken des mitge­brachten Vespers und auch nach dem Essen, übte mit uns das Kreuzzeichen und hielt uns an, die Hände korrekt vor der Brust zu falten. Vorher schickte sie uns aber alle zur Toilette und zum Hän­dewaschen. Die kleinen Kloschüsseln waren viel be­quemer als zu Hause, ich konnte die Füße auf dem Boden abstellen und auch am Waschbecken ohne Hilfe den Wasserhahn aufdrehen. Und an Haken mit einem eigenen Symbol, auf Holzschildchen gemalt, für jedes Kind hingen die kleinen Handtücher. Es war so schön im Kinder­garten; am liebsten wäre ich auch am Sonntag dort gewesen.

    Mama besuchte generell die Vorabendmesse am Samstag. Wäh­rend Papa am Sonntag zum Hochamt ging, war sie mit dem Kochen beschäftigt. Wenn sie mir ein frisches Kleidchen angezogen, das Deckhaar zu einer Tolle auf dem Kopf gewickelt und einen großen farblich passenden Schlupp³ dahinter platziert hatte, wartete sie nur noch auf das Angelus-Läuten, um abzuschätzen, wann sie mich losschicken konnte. Papa sah mich schon von weitem, wenn ich ihm so herausgeputzt strahlend entgegenlief, um in seine ausgestreckten Arme zu fliegen. Stolz auf seine bezaubernde kleine Tochter genoss er die Blicke der anderen Kirchenbesucher, wenn er Hand in Hand mit mir auf dem Heimweg war. Meist nahm er mich anschließend mit zum Frühschoppen in den Löwen oder gegenüber in die Gast­wirtschaft und bestellte für mich einen Apfelsaft.

    Der Ostersonntag 1952 war ein ganz besonderer Festtag. Pfarrer Ball hatte sich mit der Unterstützung der Pfarrgemeinde für die neuen Glocken eingesetzt, die endlich wieder mit ihrem Geläute dem Spessartdom die angemessene Würdigung erwiesen. Während des zweiten Weltkrieges wurden drei Glocken, bis auf die kleinste, abgehängt und für die Rüstungsindustrie konfisziert. Der Klang der einzig verbliebenen war in den sieben Jahren wie ein leises Wehkla­gen. Nun würden zum ersten Mal fünf Glocken am Weißen Sonntag vom Sommerauer Kirchturm in den Tonstufen d – f – g – a „Deinen Frieden Gib Allen" zum Gottesdienst rufen.

    Mama hatte eine ganze Sammlung verschiedenfarbiger Schlei­fen, jeweils passend zum Kleid und besaß großen Ehrgeiz, mich täglich hübsch zurechtzumachen. Trotz der Unmöglichkeit, in den ersten Nachkriegsjahren ein neues Kleid zu kaufen, gelang es ihr ge­schickt, aus einem Stoffrest ein Kleidchen zu nähen, das sich abhob von der üblichen Bekleidung vieler Mädchen, die auftragen muss­ten, was die große Schwester ablegte. Als der Fotograf in den Kin­dergarten kam und fragte, ob dieses so adrett gekleidete Kind dem Dorfarzt gehöre, empfand es Mama als Lob, was sie noch mehr anspornte. Bald durfte ich sie sonntags zum Gottesdienst begleiten. Mucksmäuschenstill saß ich neben ihr in der Kirchenbank und be­obachtete sie neugierig. Mit großer Andacht bemühte ich mich, es ihr nachzumachen, wenn sie sich abwechselnd kniete, bekreuzigte, aufstand und sich wieder hinsetzte. – Schwester Romana hatte uns erzählt: „Der liebe Gott sieht alles und wenn ihr nicht brav seid, be­straft er euch! Natürlich glaubte ich ihr, wie ich ihr überhaupt alles glaubte, was sie sagte: dass Gott allmächtig ist, also alles machen kann, auch Gewitter und die Ernte vernichten und so die Menschen bestraft, wenn sie sündigen. Wenn das ferne Grollen ein Gewitter ankündigte und es draußen dunkler wurde, versammelte sie uns um sich, zündete eine geweihte Kerze an und betete mit uns: „Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein. Gewitter konnten mich in eine solche Panik versetzen, dass ich mich mit pochendem Herzen in eine dunkle Ecke verkroch – weit weg vom Fenster – und krampfhaft die Augen zukniff um nicht zu sehen, wie der Blitz vom Himmel fuhr. Bei jedem Donnerkrachen zuckte ich zusammen. Bei jedem Blitz hatte ich Angst, er könne mich tref­fen. Die ernste Stimme der Schwester drang von fern an mein Ohr: „Jetzt straft Gott die Menschen, weil sie böse waren." Ich dachte sofort an den Großonkel, der bei der Feldarbeit vom Blitz erschla­gen wurde. Er musste sehr böse gewesen sein. Auch alle meine kleinen kindlichen Untugenden fielen mir ein. Gestern erst hatte ich wiedermal Siegfried verpetzt, weil er heimlich am Pudding genascht hatte. Mama schimpfte, ich wäre eine Tierquälerin, weil ich unserer Katze unbedingt ein Puppenkleid anziehen wollte und sie in den Puppenwagen legte, um mit ihr im Hof spazierenzufahren. Anfangs blieb sie brav sitzen, aber sobald ich zu schieben begann, hüpfte sie schnell wieder heraus und sprang im Puppenkleidchen davon. Ich war überzeugt, es müsse meiner Katze gefallen, in diesem niedli­chen Kleidchen im Wagen zu liegen, rannte hinter ihr her und fing sie wieder ein. Geduldig bemühte ich mich immer wieder, weil ich mich nicht davon abbringen ließ, dass sie das Puppenwagenfahren doch noch lernen würde, musste aber bald enttäuscht aufgeben. „Quäle nie ein Tier zum Scherz, denn es fühlt wie du den Schmerz!", sagte Mama in ihrem besten Hochdeutsch mit erhobe­nem Zeigefinger. Und nun fühlte ich mich sündig und betete voller Inbrunst, der liebe Gott möge mir nicht mehr böse sein. Wenn er allmächtig ist, wie die Schwester sagt, wenn er alles kann, dann soll er doch bitte, bitte, mein Herz wieder rein machen und mich nicht bestrafen mit einem schrecklichen Gewitter, bei dem mich ein Blitz erschlagen könnte. Mit Tränen in den Augen versprach ich dem lieben Gott, dass ich niemals mehr meine Katze quälen oder Sieg­fried verraten würde. Überhaupt wollte ich mich noch viel mehr anstrengen, ein braves Kind zu sein.

    In unmittelbarer Nähe des Kindergartens lebte ein älterer Pfarrer. Dass er ein Verwandter meiner Mama war, hat mir niemand erzählt. Bei Wind und Wetter zog er tagtäglich über die Baumannnshohl hoch zu den ausgedehnten Feldern und Wiesen. Dabei schimpfte er laut vor sich hin und gestikulierte unablässig, als ob er auf der Kan­zel stehen würde, um seiner Pfarrgemeinde eine Standpauke zu halten. Wenn er an mir vorbeiging und ich ihn höflich grüßte, wie ich es gelernt hatte: „gelobt sei Jesus Christus!, bekam ich keine Antwort, er schaute förmlich durch mich hindurch. Ihn umgab etwas fremdartig Düsteres, das mir Angst einjagte, sodass ich künftig möglichst einen großen Bogen um ihn machte. Dass dieser Mann ein Pfarrer sein sollte, ließ mir aber keine Ruhe und ich bohrte so lange, bis Mama mir erzählte, er würde schon länger keine Pfarrei mehr betreuen. „Wasde, der ist oafach üwergeschnabbt. Der woar in de Schuul immä de Alläbäsd und hod noa Oanser geschriewe.⁴ Ge­nialität und Wahnsinn liegen ganz nah beisammen!, wusste Mama. Lange musste ich darüber nachdenken und es beruhigte mich unge­mein, vom Genie weit entfernt zu sein. Ich hörte die Erwachsenen über den Wahn des Pfarrers tuschelten, der Teufel würde ihn in der Nacht heimsuchen und er habe sich nicht nur von Gott abgewandt, sondern würde ihn auch noch unflätig beschimpfen. Alle waren sich einig: Mit ihm würde es einmal ein böses Ende nehmen. Eines Ta­ges hieß es, der Pfarrer sei in der Nacht nach einem grausamen Todeskampf, bei dem seine Schreie häuserweit zu hören waren, gestorben und einige Frauen hörte ich munkeln, während sie sich ängstlich bekreuzigten: „Jedz hoaden de Deifel wäiglisch gehoald!"⁵

    Zweimal im Jahr, vor Weihnachten und vor den Sommerferien, übte Schwester Romana Lieder und kleine Theaterstücke mit uns ein, die wir den Eltern anlässlich einer kleinen Feier im Kindergar­ten vorführen durften. In der Adventszeit war es ein Krippenspiel, in dem ich – wahrscheinlich wegen meines Namens – den Erzengel Gabriel spielte. Dabei wäre ich so gerne, nur ein einziges Mal we­nigstens, die Maria gewesen: Aber mit meinen kurzen dunklen Haa­ren und der pummeligen Figur war ich der zartgliedrigen Gottes­mutter auf dem Bild an der Wand völlig unähnlich. Zudem standen für die begehrte Rolle immer mehrere anmutige Mädchen mit lan­gen blonden Zöpfen, deren Haare für diese Rolle offen in Locken über die Schultern rieselten, bereit. In der Sommeraufführung aber war meine Stunde gekommen: Stolz fuhr ich mit meinem Puppen­wagen zu der Strophe: „In einem kleinen Stäädsche fuhr einmal ein Määdsche …" über die Bühne. Ganz ohne Begleitung sang ich laut­stark und sonnte mich in der Aufmerksamkeit der anwesenden El­tern. Danach saßen wir auf unseren kleinen Stühlen im Halbkreis und jedes Kind hatte seinen kurzen Text aufzusagen. Durch das gemeinsame Üben waren mir auch die Verse der anderen vertraut. Meine Cousine, die keine Freude am Vortragen hatte, war an der Reihe, brachte aber vor Aufregung kein Wort über ihre Lippen. Mit bläulichem Mund saß sie ängstlich auf ihrem Stuhl und tat mir so leid, dass ich es nicht länger ertragen konnte wie sie litt und auf­stand, um an ihrer Stelle das Gedicht vorzutragen. Einige Jahre später wurde ein schwerer Herzklappenfehler bei ihr diagnostiziert. Tapfer überstand sie mehrere komplizierte Operationen, zweimal wurde eine neue Herzklappe eingesetzt.

    Spielsachen waren sehr spärlich vorhanden und manche auch schon recht abgenutzt. Es gab zwei alte Puppen aus Zelluloid und ein Bettchen, mit denen meist nur die Mädchen spielten. Begeistern konnte ich mich vor allem für den Zeitvertreib mit den ausgeschnit­tenen Püppchen aus Pappe, denen ich Kleidchen aus dünnem bunt­bedrucktem Papier anziehen konnte, indem ich die dafür vorgesehe­nen Ecken umknickte und um die Puppe klappte. Mit dem Gestalten der vorgezeichneten Stickbildchen aus dickem Papier – in feinen Stichen mit Nadel und buntem Garn – konnte ich mich stundenlang beschäftigen. Die verschiedenfarbigen Blumen, Tiere und Häuser trug ich stolz für Mama und Papa nach Hause. – Im Sommer machte ich es den Großen nach, an der mächtigen Trauerweide zu schau­keln, die hinter dem Sandkasten stand und den nötigen Schatten spendete. Ich stieg auf die Bretter, zog einen kräftigen Zweig zu mir her, stieß mich ab und ließ mich hin und her schaukeln bis die Blät­ter rauschten. Wenn meine Arme müde wurden, ließ ich mich ein­fach in den Sand plumpsen. Im Mai hockte ich mich unter die Bü­sche der Spiräen, die ihre üppige Blütenpracht in Kaskaden zur Erde neigten. In der weißen Höhle fühlte ich mich geborgen, streichelte mit meinen Fingern das zarte duftende Weiß, schloss die Augen, atmete es tief ein und fühlte mich wie Dornröschen in der Rosenhe­cke. Für Spielgeräte in dem großen Garten fehlten die finanziellen Mittel und die Eltern waren in der schweren Nachkriegszeit, der Zeit des Wiederaufbaus, vollauf beschäftigt, für den kargen Lebens­unterhalt zu sorgen. Man war schon zufrieden, wenn die Familie jeden Tag satt werden konnte und etwas zum Anziehen hatte. Es beruhigte die Eltern, dass ihre Kinder gut aufgehoben waren, damit sie ungestört ihrer Arbeit nachgehen konnten.

    Der verrostete Nachttopf auf dem Müllhaufen

    Mama war stolz auf ihre gelungene Reinlichkeitserziehung. In den Zeiten der Stoffwindeln musste die gesamte Wäsche von Hand ge­waschen werden. Am Montagmorgen schürte Mama im Keller unter dem großen Kessel – in dem im Herbst beim Schlachtfest auch die Wurtsuppe gekocht wurde – das Feuer an, bis das Wasser die nötige Hitze hatte. Danach bearbeitete sie die Wäsche kräftig mit einem riesigen Stück Kernseife, während ihr der Schweiß von der Stirn tropfte. Zuerst wurde die helle Wäsche gewaschen; Papas ölver­schmierten Hosen und Jacken von der Werkstatt kamen zuletzt, weil die gesamte Wäsche nacheinander im gleichen Wasser sauber wer­den musste. Danach waren Mamas Hände tagelang rot angeschwol­len und rissig. Als ich größer war, half ich ihr in der warmen Jahres­zeit, die saubere Wäsche in der nahen Elsava zu spülen, um Wasser zu sparen. Wir schleppten den schweren Wäschekorb an den Hen­keln über die Wiese hinunter zum Bach. Anschließend wurde die weiße Wäsche, vor allem die Bettwäsche, zum Bleichen und Trock­nen auf der Wiese ausgebreitet. Aber meist zierte die Wäsche auf der Leine – die von langen dünnen Holzstangen gestützt wurde – zwischen den Apfelbäumen den großen Garten. Im Winter hing die Wäsche im Speicher, wo ich mit großem Vergnügen auf die brett­hart gefrorenen Wäschestücke klopfte, die durch den Frost bizarre Formen angenommen hatten. Sparsamkeit war eine große Tugend. Selbst als Mama 1959 ihre erste Waschmaschine bekam, die in der Küche den Platz des alten Kohleherdes einnahm – der gegen einen kleinen Gasherd ausgetauscht wurde –, stand Mama daneben, um das abfließende Waschwasser mit Eimern und Schüsseln aufzufan­gen, um es weiterzuverwenden für die kleinere Handwäsche und die Spülgänge zum Blumengießen.

    Regelmäßig machte ich brav „mein Geschäft bereits mit einem Jahr ins Töpfchen. Bei unseren Sonntagsausflügen mit Papas Auto waren auch unsere beiden Gesellen Robert und Heinz gerne dabei. Sie kamen aus Mönchberg, saßen zum Mittagessen mit uns am Küchentisch und schliefen auch manchmal, vor allem im Winter, bei uns. Für mich gehörten sie daher ganz selbstverständlich zu unserer Familie. Etliche Jahre später erfuhr ich, dass Robert ein unehelicher Sohn von Hans, „Bahn-Günthers Bruder war. An der Bahnstation Eschau-Mönchberg, wo ich von Herrn Günther liebe­voll Peterle genannt wurde, hielt ich mich gerne auf, während meine Eltern einen Spaziergang machten, bekam Frachtzettel zum Bema­len und vertrieb dem netten Onkel die Zeit. Später, als Udo in meine Familie kam, wurde uns klar, dass er und Robert Cousins sind, da ihre Väter Brüder waren. An Kindern, die unehelich geboren waren und vor allem, wenn ihre Mütter anschließend unverheiratet blieben, haftete ein unsichtbarer Makel, unter dem die Kinder zu leiden hat­ten. Roberts Mutter war katholisch und die evangelische Familie seines Vaters verbot eine Heirat. Zu Roberts Glück scherte Papa sich nicht darum, nahm den Bub gerne in die Lehre und half ihm, ein tüchtiger Schlosser zu werden. Heinz wurde später Lehrer an der Gewerbeschule. Beide sprachen noch nach Jahren über ihre Dank­barkeit meinen Eltern gegenüber.

    Bei einem dieser Ausflüge meinte Mama, dass es Zeit wäre für mich, Pipi zu machen. Also hielt Papa an und wollte mich am Stra­ßenrand über der Wiese „abhalten, aber vergebens. Mama fragte mich fürsorglich: „Gabriellsche, mussde ned emol rabbele?⁶ Ich nickte brav, aber obwohl ich dringend musste, weigerte ich mich. Nach weiteren Fehlversuchen und Papas geduldigem „psch, psch, psch … fuhr er entnervt weiter. Da entdeckte Mama im Vorbeifah­ren auf einem Müllhaufen einen alten durchgerosteten Nachttopf, den ich endlich akzeptierte. Triumphierend saß ich nun mitten auf der Wiese auf der ausgedienten Nachtschüssel und konnte endlich mein lange zurückgehaltenes „Geschäft verrichten, das im Boden versickerte. Mama und Papa schauten sich erleichtert an und riefen wie aus einem Mund: „Hod die en Dickkopp! Oma Blandina nann­te das „brunsen. Bevor ich aus dem Haus ging, fragte sie mich regelmäßig liebevoll mit ihrer so typischen gedehnten, ruhigen Aus­sprache: „Hosde aaa scho gebruunsd?⁷ – zog dabei das „u betont in die Länge – mit einer Selbstverständlichkeit, als würde sie sagen: „Hast du auch eine warme Jacke angezogen?"

    Ein weichgekochtes Ei war mein bevorzugtes Abendessen. Wäh­rend Mama mich auf dem Küchentisch wickelte, stand daneben der Einplattenkocher, in einem Töpfchen schwamm mein Ei im sieden­den Wasser. In einem Moment der Unachtsamkeit zog ich am Kabel und der kochende Inhalt schwappte über meinen Arm und die Brust. Mein entsetzliches Schreien rief Tante Vrone im Nachbarhaus zu Hilfe und als die beiden versuchten, mich auszuziehen, klebte das Hemdchen auf der verbrühten Haut, dass ich nur unter großen Schmerzen davon befreit werden konnte. Papa setzte sein heilkundliches Wissen ein und behandelte mich erfolgreich. Das Abheilen brauchte seine Zeit, aber es blieben – zur Verwunderung aller – keinerlei Narben zurück. – Auf dem Schwarzmarkt gelang es Papa eine Tafel Schokolade zu ergattern, die sehr sparsam vernascht wurde. Auch ich sollte zum ersten Mal in den Genuss kommen und Mama schob mir eine kleine Rippe in den Mund. Skeptisch schaute ich das merkwürdige dunkelbraune Ding an und spuckte es sofort wieder aus: „Bähh, A A!" rief ich aus, weil die Farbe mich an mein großes Geschäft erinnerte, das ich in den Topf machte. Mama lachte und lutschte genussvoll auf ihrer Schokolade bis ich neugierig wur­de und beim zweiten Anlauf das allererste Stück dieser Köstlichkeit genießen konnte.

    Ein großer Krach meiner Eltern, der in meinem dritten Lebens­jahr meine Kinderseele heftig erschütterte, wurde durch die Diskus­sion über das fachmännische Räuchern ausgelöst. Papa wollte dazu Holz benutzen, aber Mama war vom Sägemehl überzeugt, weil sie es vom Bauernhof zu Hause kannte. Sie hatte bereits einige riesen­große ausgediente Ölbehälter von der Tankstelle damit gefüllt und in die Küche geschleppt. Nun sollten sie nur noch über die enge Treppe in den Speicher getragen werden. Papa kam in die Küche, sah die, bis zum Rand, mit Sägemehl gefüllten Kübel, bekam einen hochroten Kopf und trat wutentbrannt, laut brüllend gegen die Ei­mer, dass sich die Küche mit Sägemehl und einer Staubwolke füllte. Mama rannte laut weinend davon und Papa stapfte zornig wieder in die Werkstatt. In ihrem Streit hatten sie ihr Kind völlig vergessen, das schluchzend im Sägemehlnebel auf dem Chaiselongue saß. Während ich verzweifelt wartete, wurde die Zeit zur Ewigkeit und die erbarmungslose Angst, von meinen Eltern verlassen worden zu sein, kroch in mir hoch. – Allein in der Küche kletterte ich eines Tages in meiner Entdeckerfreude auf den Herd, setzte mich an den Rand des alten grauen Steinbeckens und drehte den Wasserhahn auf bis es nicht mehr weiterging. Aus dem dünnen roten zitternden Gummischlauch plätscherte lustig das Wasser in das Becken, dass ich nur so staunte. Erst als ich sah, wie das Wasser begann, über den Rand zu laufen und den Küchenboden unter Wasser setzte, be­schlich mich ein ungutes Gefühl. Rasch wollte ich den Hahn zudre­hen, Mama durfte nichts merken, aber so sehr ich mich auch be­mühte, es war vergeblich. Er ließ sich keinen Millimeter mehr zu­rückbewegen. Panik überfiel mich. Ich sah das Wasser immer höher steigen und brüllte in meiner Not aus Leibeskräften bis mir die Luft ausging. – Einen noch größeren Schaden richtete ich an, als ich die Schere ausprobieren wollte, die mir verboten war und die ich in der Schublade des Küchentisches fand. „Messer, Gabel, Scher‘ und Licht, sind für kleine Kinder nicht!", mahnte Mama. Die dunkelrote Samtdecke auf Papas Chaiselongue, die Mama gegen allerhand Essbares von Omas und Opas Bauernhof eingetauscht hatte, war ihr ganzer Stolz. Ausgerechnet an dieser Decke machte ich meine ers­ten verbotenen Schneideversuche. Geduldig wartete ich bis Mama endlich die Küche verließ. Mitten

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