Kein Traum, sondern Wirklichkeit: Mami 2003 – Familienroman
Von Myra Myrenburg
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Der Workshop fand in einem perfekt restaurierten Schloß statt, das für die Schülerinnen der Mainzer Gunda-Rath-Schauspielschule gar nicht günstiger liegen konnte, nämlich mitten im Rheingau, umkränzt von Rebenhügeln und alten Burgen. Dennoch, der Weg war beschwerlich gewesen, auch für Anneke Helm und Milena Waldt, die keine lange Anreise hatten. Dem Treffen auf Schloß Marquartstein war ein strenges Auswahlverfahren vorausgegangen. Mehr als tausend junge Nachwuchskräfte hatten sich beworben um eine Rolle in ›Cinderella Cindy‹, dem neuen Musical, das auf einem altbekannten Thema beruhte und daher großen Erfolg versprach. Anneke und Milena waren Freundinnen. Sie waren musikalisch, tänzerisch begabt, ehrgeizig und sehr attraktiv, jede auf ihre Weise: Anneke weizenblond und blauäugig, Milena dunkelhaarig, mit Bernstein-Augen und groldbraunem Teint. Sie wohnten zusammen in einem Apartment in Mainz und besuchten seit zwei Jahren mit Erfolg alle Kurse, die im Institut der ehemaligen Bühnenkünstlerin Gunda Rath angeboten wurden. Auf Schloß Marquardstein bezogen die beiden sofort ein gemeinsames Zimmer im Dachgeschoß, räumten unter aufgeregtem Gekicher ihre Sachen in die beiden Wandschränke, rissen die kleinen lukenförmigen Fenster auf und ließen die würzige Waldluft hereinströmen. »Hast du die kleine Rothaarige gesehen, die vorhin angekommen ist?« fragte Anneke halblaut. »Psst! Ich glaube, sie wohnt gleich neben uns!« »Ob die wohl so jung ist, wie sie aussieht?« sinnierte Anneke und sprach damit ein Problem an, das sie beide zunehmend beschäftigte. Schon während der Probeaufnahmen waren ihnen Mädchen aufgefallen, die noch sozusagen in den Kinderschuhen steckten. Mädchen, sie seit ihrem dritten Lebensjahr Ballettstunden nahmen, geschulte Singstimmen hatten und regelmäßig in den Märchenaufführungen des Stadttheaters auftraten. Diese Mädchen waren den meisten anderen voraus an Bühnenerfahrung, Sprechtechnik und praktischem Können, obwohl sie erst siebzehn oder achtzehn waren. Neben ihnen kamen sich Anneke und Milena mit ihren dreiundzwanzig Jahren alt und grau und unqualifiziert vor. Sie hatten beide reguläre Schulen besucht bis zum Abitur und sich in verschiedenen Ausbildungen versucht, bevor sie ihr schauspielerisches Talent entdeckt und beschlossen hatten, daraus einen Beruf zu machen. Wie schwer das war und wie überwältigend die Konkurrenz, darüber konnten sie sich stundenlang ereifern.
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Buchvorschau
Kein Traum, sondern Wirklichkeit - Myra Myrenburg
Mami
– 2003 –
Kein Traum, sondern Wirklichkeit
Mit Baby Olaf verändert sich Annekes Welt
Myra Myrenburg
Der Workshop fand in einem perfekt restaurierten Schloß statt, das für die Schülerinnen der Mainzer Gunda-Rath-Schauspielschule gar nicht günstiger liegen konnte, nämlich mitten im Rheingau, umkränzt von Rebenhügeln und alten Burgen.
Dennoch, der Weg war beschwerlich gewesen, auch für Anneke Helm und Milena Waldt, die keine lange Anreise hatten.
Dem Treffen auf Schloß Marquartstein war ein strenges Auswahlverfahren vorausgegangen. Mehr als tausend junge Nachwuchskräfte hatten sich beworben um eine Rolle in ›Cinderella Cindy‹, dem neuen Musical, das auf einem altbekannten Thema beruhte und daher großen Erfolg versprach. Anneke und Milena waren Freundinnen.
Sie waren musikalisch, tänzerisch begabt, ehrgeizig und sehr attraktiv, jede auf ihre Weise: Anneke weizenblond und blauäugig, Milena dunkelhaarig, mit Bernstein-Augen und groldbraunem Teint.
Sie wohnten zusammen in einem Apartment in Mainz und besuchten seit zwei Jahren mit Erfolg alle Kurse, die im Institut der ehemaligen Bühnenkünstlerin Gunda Rath angeboten wurden.
Auf Schloß Marquardstein bezogen die beiden sofort ein gemeinsames Zimmer im Dachgeschoß, räumten unter aufgeregtem Gekicher ihre Sachen in die beiden Wandschränke, rissen die kleinen lukenförmigen Fenster auf und ließen die würzige Waldluft hereinströmen.
»Hast du die kleine Rothaarige gesehen, die vorhin angekommen ist?« fragte Anneke halblaut.
»Psst! Ich glaube, sie wohnt gleich neben uns!«
»Ob die wohl so jung ist, wie sie aussieht?« sinnierte Anneke und sprach damit ein Problem an, das sie beide zunehmend beschäftigte. Schon während der Probeaufnahmen waren ihnen Mädchen aufgefallen, die noch sozusagen in den Kinderschuhen steckten. Mädchen, sie seit ihrem dritten Lebensjahr Ballettstunden nahmen, geschulte Singstimmen hatten und regelmäßig in den Märchenaufführungen des Stadttheaters auftraten.
Diese Mädchen waren den meisten anderen voraus an Bühnenerfahrung, Sprechtechnik und praktischem Können, obwohl sie erst siebzehn oder achtzehn waren.
Neben ihnen kamen sich Anneke und Milena mit ihren dreiundzwanzig Jahren alt und grau und unqualifiziert vor.
Sie hatten beide reguläre Schulen besucht bis zum Abitur und sich in verschiedenen Ausbildungen versucht, bevor sie ihr schauspielerisches Talent entdeckt und beschlossen hatten, daraus einen Beruf zu machen.
Wie schwer das war und wie überwältigend die Konkurrenz, darüber konnten sie sich stundenlang ereifern.
Trotzdem: insgeheim rechneten sie sich beide einige Chancen aus für das Musical ›Cinderella Cindy‹, wenn nicht für die Hauptrolle, so doch für eine der zahlreichen Nebenrollen, die sie im Schlaf aufsagen konnten.
Beim Abendessen im Rittersaal des Schlosses lernten sie nicht nur die insgesamt achtzehn anderen Teilnehmer des Workshops kennen, sondern auch den Komponisten Rolf Fabian und die Choreografin Ilka Tauer.
Obwohl sich die meisten sichtlich herausgeputzt hatten, ging es dann doch recht locker und ungezwungen zu.
Auf der langen Tafel brannten Kerzen in hohen Leuchtern, irgendwo erklang dezente Hintergrundmusik, die Gespräche drehten sich ausnahmslos um das Musical, dessen Erfolg so gut wie sicher war, und niemand zeigte sich verwundert darüber, daß es nur Sprudelwasser zu trinken gab. Schließlich waren für den morgigen Tag Proben angesagt, die schon um acht Uhr beginnen und mit wenigen Unterbrechnungen bis achtzehn Uhr dauern sollten.
Etwas später saßen Anneke und Milena auf ihren schmalen Bettkanten und machten sich gegenseitig Mut.
»Die anderen sehen auch nicht besser aus als wir!«
»Ich glaube nicht, daß sie mehr können!«
»Von mir aus sollen sie mich ruhig gleich um acht drannehmen!«
»Mich auch! Aber im Grunde ist es mir egal. Ich bin den ganzen Tag fit.«
Sie schliefen schlecht in dieser ersten Nacht im Schloß, turnten sich bereits um sechs Uhr morgens munter, aßen kaum etwas zum Frühstück und traten überpünktlich in einem der großen Säle zur Gemeinschaftsprobe an.
Danach stand fest, daß sie alle etwa den gleichen Ausbildungsstand hatten. Am nächsten Tag wurden sie einzeln geprüft, so gründlich, daß ihnen Hören und Sehen verging. Hinter vorgehaltener Hand wurde darüber getuschelt, wer sich vom Typ her am besten für die verschiedenen Rollen eignete.
Am dritten Tag endlich fanden die ersehnten und gefürchteten Einzelgespräche statt.
Milena vertrieb sich die Wartezeit mit Yoga-Übungen.
Anneke, um sich zu beschäftigen, begann ziellos ihre Sachen zu packen, duschte zweimal hintereinander, und wusch sich die Haare.
Als sie gerufen wurde, stand sie gerade triefnaß im Bad und stieß einen unterdrückten Schreckensschrei aus.
»Was denn! Ich? Jetzt schon?«
»Los, los, los«, drängte Milena, »du hörst doch, daß dein Name gefallen ist. Menschenskind, mußt du dir denn ausgerechnet jetzt die Haare waschen!«
Anneke frottierte sich hektisch trocken, warf ein formloses blaues Kittelkleid über und hängte sich das Silberkettchen mit dem sternförmigen Talisman um den Hals.
»Wie sehe ich aus, Milena?«
»Wie ein chinesischer Kuli.«
»Oh, mein Gott.«
Sie rannte hinaus, den Flur entlang, die breite geschwungene Treppe hinunter bis ins Erdgeschoß, wo sie mit nassen hängenden Haaren und schmerzhaft klopfendem Herzen das Besprechungszimmer betrat.
Es war ein Salon, mit grüner und goldener Seide tapeziert, deren Muster sie nie vergessen würde: Fächerförmige Blätter und Lilienblüten.
Der Komponist Rolf Fabian stand vor einem wandhohen, von schweren Portieren umrahmten Fenster und bedeutete ihr, sich zu setzen. Sie sank auf ein zierliches, hart gepolstertes Sesselchen mit hoher, steifer Lehne.
Minutenlang blieb es kirchenstill.
Anneke wußte nicht, was sie sagen sollte, während er in einem Schnellhefter blätterte und sich gedankenvoll den graumelierten Kinnbart strich. Er trug seinen üblichen dunkelroten Baumwollpulli zu schwarzen Cordsamt-Hosen.
Seine Augen hinter goldgeränderten Brillengläsern blickten ernst, und seine Stimme klang streng.
»Sie haben gute Zwischenzeugnisse«, sagte er langsam, »aber noch keinen Abschluß.«
»Nein, ich werde erst nächstes Jahr fertig – wenn alles klappt.«
»Falls wir Sie für unser Musical auswählen, müßten Sie Ihre Ausbildung unterbrechen. Wäre das möglich?«
»Ich – ich denke schon. Ja, doch, ganz bestimmt.«
»Sie sind sich klar darüber, daß mit einem Engagement nicht nur eine große Chance verbunden wäre, sondern auch eine große Verpflichtung?«
»Ja, das weiß ich.«
»Könnten Sie sich vorstellen, mit dem Ensemble auf Tournee zu gehen? Eine Saison in Berlin zu verbringen, die nächste vielleicht in München und mit ein bißchen Glück sogar bis nach New York zu ziehen?«
»O super!« hauchte Anneke.
»Am Broadway«, fuhr Rolf Fabian in sachlichem Ton fort, »werden immer wieder gute Musicals gesucht. Ich rechne mir für meine Cinderella Cindy einige Chancen aus. Was meinen Sie?«
»Aber sicher! Die Story hat was! Und die Songs sind ja so fetzig!« stieß Anneke begeistert hervor.
Er schmunzelte vor sich hin, schloß den Schnellhefter, setzte sich auf ein grün bezogenes Sofa, nahm die Brille ab