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Das blonde Zigeunermädchen: Erika auf Reise mit Abbaddon
Das blonde Zigeunermädchen: Erika auf Reise mit Abbaddon
Das blonde Zigeunermädchen: Erika auf Reise mit Abbaddon
eBook220 Seiten3 Stunden

Das blonde Zigeunermädchen: Erika auf Reise mit Abbaddon

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Über dieses E-Book

In seinem zweiten Roman erzählt Hans Schaub die Geschichte zweier Liebender, die auch ihrer verschiedener Herkunft wegen ins Verderben führt. Schaub berichtet aber auch über die besondere Lebensweise der Roma – im positiven wie auch im negativen Sinn. Der Roman ist frei erfunden, trotzdem weiss der Autor, worüber er schreibt, denn er hat sich – auch vor Ort – eingehend mit dieser Ethnie befasst.

Im blutjungen Alter von achtzehn Jahren lernt Erika an einem Hafenfest in Husum, einer Kleinstadt in Schleswig-Holstein, den jungen Roma Elös kennen, der sie mit seinem virtuosen Geigenspiel verzaubert. Ihre Eltern sind für einige Tage verreist, und so nimmt sie ihn mit zu sich nach Hause, wo die beiden eine Liebesnacht verbringen. Anderntags ist der Standplatz der Fahrenden geräumt, Elös verschwunden.
Zurück in Husum überrascht ihn Erika mit der Nachricht, dass er der Vater ihres werdenden Kindes sei. Ihre Liebe ist so stark, dass sie gegen den Widerstand der Familien zusammenbleiben. Eine Odyssee durch Europa, ins Heimatdorf der Familie im Osten Ungarns, strapaziert die Liebe des ungleichen Paares, zumal Elös' Mutter mit ihnen reist. Elös, von seiner Grossfamilie mit einem Bann bestraft, darf vorerst nicht ins Dorf. Erika ist allein auf sich gestellt, leidet unter den für ihr Verständnis archaischen Bräuchen und Regeln der Roma. Sie gebärt ihr Kind in Abwesenheit des Vaters. Dies gibt dem Clan-Führer die Gelegenheit, Erika eine Totgeburt vorzugaukeln. Die Geschichte nimmt einen dramatischen Verlauf, sowohl, was Erika und Elös anbelangt, als auch das Schicksal des Kindes.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum14. Okt. 2014
ISBN9783737511360
Das blonde Zigeunermädchen: Erika auf Reise mit Abbaddon

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    Buchvorschau

    Das blonde Zigeunermädchen - Hans Schaub

    Vorwort

    In der Schweiz leben schätzungsweise siebzigtausend Roma und Sinti. Viele sind seit Generationen in allen Berufen tätig. Dabei ist der Anteil an Künstlern, Akademikern und Berufsleuten unter diesen Volksgruppen vergleichbar mit dem Rest der Bevölkerung.

    In Westeuropa litten diese Ethnien unter den grausamen Verfolgungen und Vernichtungsprogrammen während der Nazizeit. Im Osten Europas blieb auch nach der Öffnung ein tiefer Hass und diskriminierende Behandlung sowohl von Staates wegen wie auch von der Gesellschaft. Ungarn, Rumänien, beides EU-Staaten, verhindern eine Verbesserung der Lebensumstände dieser sesshaften Volksgruppen.

    Schwere Armut und Lebensumstände, oft unter Drittweltstandard, sind Brutplätze für Unterdrückung und Kriminalität. Frauen werden von ihren Vätern, Brüdern und Ehemännern zur Prostitution gezwungen. Mit eigenen Augen habe ich im Sommer 2013 in Ungarn, nahe der rumänischen Grenze, junge Romafrauen gesehen, die schon um zehn Uhr morgens an der Hauptstrasse ihren Körper anboten.

    Wen wundert’s, wenn in diesem Umfeld Frauen von Kriminellen mit leeren Versprechungen nach Westeuropa gelockt und dort ausgebeutet werden.

    Roma anerkennen die Gesetze der Staaten, in denen sie leben. Daneben haben sie eigene Gerichtsbarkeiten. Für uns archaisch wirkende Gebräuche werden gepflegt, der Zusammenhang innerhalb der Familien ist gross.

    Wie in anderen Zivilgesellschaften auch, nutzen kriminell veranlagte Individuen die Schwächsten skrupellos aus, stehlen und betrügen.

    Damit werden sie Wahrnehmung und Sinnbild für ein Volk. Ein Volk, dem es heute kaum mehr gelingt, Sanktionen und Urteile ihrer eigenen Gerichte durchzusetzen.

    In meinem Roman sind die Lebensumstände von Fahrenden sowie von Sesshaften gezeichnet. Auch wie einzelne Kriminelle die­ Schwächen ihrer eigenen Leute erbarmungslos ausnützen.Dass diese mit ihrem Handeln ihre eigenen Leute in Verruf bringen, ist ihnen egal.

    Husum, Hafenfest 1984

    Wie bestellt waren nach einem nasskalten Vorsommer Anfang August die Aussichten für die kommenden Tage passend zum Hafenfest: Es sollte warm werden, vielleicht ein leichter Wind vom Land her, auch die Nächte sollten angenehm werden und zum Verweilen am Fest ermuntern. Stände von fliegenden Händlern reihten sich aneinander, am Binnenhafen luden Tische und Bänke zum Bleiben ein. Auf einer mobilen Bühne würde die angekündigte Band «Die fünf Jungs» erstmals vor einheimischem Publikum auftreten. Für die älteren Festbesucher würde es eine Tanzkapelle geben, die nostalgische Stimmung mit deutschen Schlagern verbreiten sollte. Am Samstag- und Sonntagabend sollte als Höhepunkt des diesjährigen Festes eine Zigeunerkapelle aufspielen.

    Erikas Eltern waren mit dem alten Volvo eines Lehrerkollegen für einige Tage nach Oldenburg gefahren. Dort war die Mutter aufgewachsen und lebte da, bis sie an einem Lehrgang über die offene, antiautoritäre Schule Erikas Vater kennen und lieben gelernt hatte. Als Schulleiter der örtlichen Grundschule hatte er als einer der Ersten Kenntnis über frei werdende Stellen im Schulbetrieb. Kaum vier Monate war es gegangen, bis Helga eine Stelle in der Kleinstadt antreten und zu ihrem Klaus nach Husum ziehen konnte.

    Und jetzt, fast zwanzig Jahre später, konnte sich Erikas Oma nicht mehr selbst versorgen. Zur Einsamkeit – viele ihrer alten Freunde lagen auf dem Friedhof, Helgas Vater war vom Krieg nicht zurückgekehrt und verschollen – kam der ständige Schmerz, der den Verfall ihres Körpers begleitete. Oma musste ihre kleine Wohnung aufgeben und ins Altenheim umziehen. Nur Weniges aus der Wohnung durfte sie mitnehmen. Anderes wurde zerschlagen und zum Müll gebracht. Kaum ein Andenken würde im Volvo den Weg nach Husum finden.

    «Drei, höchstens vier Tage bleiben wir», rief die Mutter ihrer Tochter beim Wegfahren noch zu.

    Drei Tage sturmfrei.

    «Was soll’s», dachte Erika.

    Sie wollte diese Tage des Alleinseins geniessen. Lernen fürs Abitur, lesen und Musik hören. Sie liebte die Stunden ohne andere Menschen um sich, nie fühlte sie sich dabei einsam. Erika nahm ihre Geige, stimmte sie und begann zu üben. Es musste sein, waren ihre Noten in Musik doch die schlechtesten aller Fächer. Das Talent fehle ihr, davon war sie überzeugt. Ihr Vater hatte jedoch darauf bestanden, dass Erika das Violinspielen lerne und damit zur Abiturprüfung antrete. Weshalb Vater so streng darauf beharrte, wusste Erika nicht. Nie hatte er sich über seine Gründe geäussert. Es war sonst nicht seine Art, zu befehlen und seine Tochter zu etwas, das sie nicht wollte, zu zwingen. Vater hatte sie schon von klein an überall mitgeschleppt, wo er und Mutter hingegangen waren. Noch im Kinderwagen war Erika an jeder nur möglichen Demo dabei. Schon als Dreijährige machte sie auf dem Rücken ihres Vaters bei der Demo gegen den Schah-Besuch in Berlin zum ersten Mal Bekanntschaft mit Tränengas. Die Freiheiten, die ihr die Eltern zugestanden, genoss sie, nützte sie aber kaum. Sie rauchte nicht, obwohl im Umfeld von Vaters Mitstreitern sogar das Kiffen zum ungezwungenen, freiheitlichen Lebensstil gehörte. Es sagte ihr nicht zu.

    Noch kannte sie nicht die Komposition, die sie an der Abi-Prüfung spielen sollte. Vom Musiklehrer hatte sie die Stücke, die in den vergangenen fünf Jahren geprüft worden waren, erhalten. Diese übte Erika diszipliniert. Technisch die Noten spielen, den Bogen führen, wie es die Notenblätter vorsahen, das konnte sie. Doch hatte sie selbst die Empfindung, dass es klang, als ob ein Roboter spielen würde, unmotiviert und gefühllos. Aber es musste sein und Erika arbeitete daran.

    Am Samstagmorgen gönnte sich Erika den Luxus eines frischen Croissants, eine kleine Sünde, die im ökologischen Haushalt tabu war. Auf dem Weg zum Bäcker kam ihr Jenny, ihre Schulkollegin, entgegen.

    «Hallo Erika, ich dachte, du seist mit deinen Eltern weggefahren. Als dein Vater unseren Volvo holte, sagte er nicht, dass du zu Hause bleibst.»

    «Nee, ich wollte nicht mit. Ich brauche diese Tage zum Lernen», entgegnete Erika.

    «Okay», lachte Jenny, «die Tage sind ja gut zum Lernen, doch heute ist Hafenfest. Komm, wir gehen am Abend zusammen hin. Sicher sind auch andere aus der Klasse dort. Gegen acht bin ich bei dir.»

    Erika wollte protestieren, im Moment war sie nicht in Simmung dazu und bei bierseligen Festivitäten fühlte sie sich nicht wohl. Aber dann dachte sie: «Der Hafen ist nur wenige Minuten von unserem Haus entfernt, ich kann, wenn es mir nicht mehr gefällt, nach Hause gehen. Also sagte sie zu Jenny: «Ja, komm bei mir vorbei, ich werde um acht bereit sein.»

    Mit einem «Tschüss bis zum Abend» gingen sie auseinander.

    Nach dem Frühstück setzte sich Erika wieder in ihr Zimmer. Aus dem Fenster ging ihr Blick auf den kleinen Hinterhof zu den von der Mutter angelegten Gartenbeeten.

    «Man müsste dort wieder einmal Unkraut jäten», dachte sie. «Es ist ja kaum zu erkennen, was eigentlich wachsen soll, vermutlich wird es wieder, wie schon das Jahr zuvor, keine Ernte aus dem Garten geben, Schnecken und Mäuse werden sich an Rüben und Kohl laben.»

    Konzentriert und ohne Hintergrundmusik arbeitete sich Erika erst durch die Matheaufgaben und später durch ihr Lieblingsfach Französisch. Sie legte sich aufs Bett und las ein Buch zur Französischen Revolution. Nur selten benötigte sie das Wörterbuch, wenn ihr eine Redewendung nicht geläufig war.

    Der Tag ging dahin, irgendwann übermannte sie der Schlaf, aus dem sie kurz nach sieben Uhr erwachte.

    Rasch unter die Dusche, ihre halblangen, blonden Haare­ musste sie nicht föhnen, die Natur hatte ihr problemlose Haare geschenkt, waschen und trocknen lassen genügte. Ein dezenter Lippenstrich, mehr brauchte und wollte sie nicht. Um acht wartete sie im kurzen Sommerrock und Bluse auf Jenny.

    «Nimm doch eine leichte Jacke mit. Sobald die Sonne weg ist, wird es kühl», sagte Jenny, als sie kurz darauf eintraf. Arm in Arm und gut gelaunt gingen die beiden jungen Frauen durch die engen Gassen zum Binnenhafen. Selbst ein Fremder hätte diesen Platz gefunden. Von weit her waren «Die fünf Jungs» zu hören.

    Ganz nahe der Bühne besetzten einige Mitschüler einen Tisch. Vor den einen stand bereits ein grosses Bier, andere hatten eine Cola vor sich. Laut johlend begrüssten sie die beiden Mädchen und riefen sie zu sich.

    Dafür, dass es der erste öffentliche Auftritt der «fünf Jungs» war, klang das, was sie spielten, gar nicht schlecht, halt eben laut. Ein Gespräch am Tisch war kaum möglich. Ein Grund, weshalb die Organisatoren des Hafenfestes die Jungs schon früh am Abend auftreten liessen. Ab neun, nach einem kurzen Unterbruch, begann die Tanzkapelle ihre eingängigen Schlager zu spielen. Diese «Grufti-Musik» war das Zeichen zum Aufbruch. Auch diejenigen, die an alten deutschen Schlagern Gefallen fanden, gingen mit. Keiner wollte zu den Alten gehören, keiner stand zu seiner Vorliebe.

    «Wir gehen zum Damm und feiern dort weiter.»

    Mit Bier- und Coladosen ausgerüstet zog die Truppe laut und lachend zum Damm, der die Stadt vor dem Meer schützt.

    Wie üblich blieben die Mädchen in der Minderheit. Zu Erika und Jenny hatten sich im Laufe des Abends drei weitere Schülerinnen der Klasse gesellt. Der Alkohol tat seine Wirkung, Hemmungen begannen zu fallen. Die Mutigsten – nein, diejenigen, die am besoffensten waren – rannten in die auflaufende See, grölten und forderten die Mädchen auf, es ihnen gleichzutun. Keine war dazu bereit. Die nassen Kleider wurden abgelegt, nackt rannten die Jungs den Strand entlang, nur die Bierdosen mittragend. Irgendeiner fand, dass nicht nur die Jungs nackt sein sollten, und begann, die Mädchen zu bedrängen, sich auch auszuziehen.

    «Da mach ich nicht mit», sagte Erika zu Jenny, «ich gehe zurück zum Fest oder nach Hause.»

    «Ich komme mit», erwiderte Jenny beinahe erleichtert.

    Unter lauten Buhrufen entfernten sich die beiden und schlenderten zurück zum Fest.

    «An sich stören mich die Nacktbadenden nicht, nur traue ich den schon angetrunkenen Jungs nicht. Wenn die übermütig werden und ihre Hemmungen verlieren, könnten wir zum Ziel ihrer Gelüste werden. Im Sommercamp, zu dem mich meine Eltern seit jeher mitnehmen, gehören Nacktpartys dazu. Manch ein Paar verschwindet dann in die Büsche, Paare, die sonst nicht zusammengehören. Freie Liebe gehört zur Lebenseinstellung meiner Eltern und ihrer Freunde. Doch die gelobte Freiheit, ohne Eifersucht zu lieben, hat schon manche Paare für immer getrennt. Einige der Leute sah man nie wieder in der Szene. Ich konnte mich bisher der Anmache von Jungs oder auch älteren Männern und, auch das gibt’s, von Frauen, entziehen», erzählte Erika.­

    Jenny hörte aufmerksam zu. In ihrem Elternhaus herrschten traditionelle Werte, Lebensformen wie sie jetzt von ihrer Freundin beschrieben bekam, wurden verabscheut. Derart ungezügelt und unmoralisch zu leben konnte im Verständnis ihrer Eltern kaum zum Lebensglück führen.

    Am Hafen spielte immer noch die Tanzkapelle. Kaum hatten sie sich an einen Tisch nahe der Bühne gesetzt, kündigte der Sänger der Kapelle eine längere Pause an, während der eine Gruppe der Roma, die derzeit auf dem kürzlich von der Gemeinde neu erstellten Standplatz ihr Lager aufgestellt hatten, die Festbesucher mit Zigeunermusik unterhalten werde. An einigen Tischen wurde diese Ankündigung mit Applaus honoriert, an anderen herrschte Schweigen. Auch verliessen einige mit einem «das fehlte uns gerade noch» oder «jetzt haben wir die Zigeuner» das Fest.

    Fünf Roma, der Jüngste kaum zehn, der Älteste mit Schnurrbart und langen grauen Haaren und sicher über siebzig, begannen mit ihrer Darbietung. Zuerst ganz leise, dann immer lauter und schneller, spielten sie auf. Der Knabe spielte Geige wie der junge Frontmann, die anderen Cymbal, Holz- und Blechblasinstrumente. Der Geiger, ein junger Mann mit ungezähmtem, schwarzen Haar und dunklen Augen, stand bald im Vordergrund, alle anderen Musiker hielten sich an seine stummen Weisungen.

    «Wie leicht der den Bogen führt», dachte Erika, wie virtuos er mit seinem Instrument umgeht, mal klagend, dann Begeisterung und Lebensfreude ausdrückend, die Violine lebt mit dem Streicher. Sie tanzt mit ihm, oder ist er es, der die Geige in Ekstase bringt?

    Mal schien der Bogen ein Körperteil des Spielers, mal wie ein sich verselbstständigender, schwebender Zauberstab zu sein. Sie kam aus dem Staunen nicht heraus. Dass jemand einem, wie sie bis dahin dachte, dermassen langweiligen «Seitenkasten» Leben einhauchen konnte, liess ihren Mund offen stehen. Sie starrte zum Geiger und konnte ihren Blick nicht von ihm abwenden. Ein Stups von Jenny brachte sie aus ihrer Verzückung zurück.

    «Was schaust du zu diesem Zigeuner, du hängst mit deinem Blick an ihm und vergisst, wo du bist.»

    Erika wollte und konnte ihrer Freundin, die vom Geigenspielen keine Ahnung hatte, ihre Faszination nicht erklären. Unmöglich!

    Bald begannen einige zu tanzen. Ein Junge forderte auch Erika dazu auf. Schroff wies sie ihn ab. Sie wolle die Musik geniessen, nur die Musik, sich durch nichts davon ablenken lassen, sagte sie ihrer Freundin, als ihr diese ihre Ruppigkeit gegenüber dem Jungen vorhielt. Wieder wandte sich Erika dem Geiger zu, vergass alles um sich herum und genoss das Spiel. So auffallend, dass auch der Geiger auf sie aufmerksam wurde. Er las aus der Mimik der jungen Frau die Begeisterung, mit der sie seine mitreissende Darbietung verfolgte.

    Es war gegen Mitternacht, als Jenny abzog. Mit einem «du beachtest mich nicht mehr, ich langweile mich und geh jetzt nach Hause», liess sie Erika allein am Tisch zurück.

    Die Pause der Tanzkapelle ging zu Ende, die Roma packten ihre Instrumente zusammen und verliessen unter frenetischem Applaus die Bühne. Jetzt war Schmusekurs angesagt, Englischwalzer, Foxtrott, Musik zum eng aneinandergeschmiegt Tanzen, oder so tun, als ob.

    Erika wollte gerade gehen, als sich ihr der Geiger näherte und höflich fragte, ob er sich zu ihr setzen dürfe. Stotternd bejahte sie und rutsche etwas zur Seite.

    «Dir gefällt unsere Musik?», fragte er.

    «Wie du mit deiner Geige eins wirst, das ist unglaublich. Ich kam die ganze Zeit nicht aus dem Staunen heraus. Wo hast du das Spielen gelernt? Übrigens, ich bin die Erika», erwiderte sie.

    «Und ich bin Elös. Das Geigenspiel hat in meiner Familie grosse Tradition, von klein auf lehren es uns die Älteren und vermitteln uns das Spielgefühl, das es braucht, damit das Instrument ein Teil von uns wird. Seit Jahrhunderten lebt unsere Familie vom Aufspielen vor Publikum, früher sogar vor Fürsten und Adligen.»

    Dabei schaute er Erika direkt in die Augen und liess nicht davon ab. Erika errötete, ihr Gesicht hatte die Farbe einer reifen Tomate. Ein noch nie da gewesenes Gefühl machte sich im ganzen Körper breit. Dieser Mann, diese Augen, seine ungezwungene Annäherung. Nicht die plumpe Anmache wie von Schulfreunden, nein, einfach Freundlichkeit, Interesse an ihrer Person.

    «Elös, ich mühe mich seit Jahren mit meiner Violine ab und finde nicht den Zugang zur Seele meines Instruments. Ehrlich gesagt, ich hasse sie und ich denke nicht, dass ich das Ding nach der Abi-Prüfung nochmals zur Hand nehmen werde.»

    Elös lachte. In seinem sonnengebräunten Gesicht liess er die makellos weissen Zähne blitzen.

    «Nur wenn du deine Geige liebst, gibt sie dir, was du von ihr erwartest. Es ist wie zwischen zwei Menschen, oft dauert es, bis sie einander näherkommen, andere verlieben sich schon bei ihrer ersten Begegnung.»

    «Wie recht er hat», dachte Erika, «ich bin verliebt, bevor ich mein Gegenüber richtig kenne. Mich hat’s erwischt, was soll ich tun?»

    Ein lauter werdendes Gegröle kam vom Damm her. Den am Strand Gebliebenen war das Bier ausgegangen, weshalb sie sich auf den Weg zurück zum Hafenfest machten. Nur kurz war die Aufmerksamkeit der Festbesucher auf die laute Gruppe gerichtet. Die Musiker der Tanzkapelle hatten rasch reagiert und begonnen, ein Potpourri mit eingängigen Liedern zu spielen. Der Lärm der Jungs ging im lauten Gesang der schunkelnden Festteilnehmer unter. Etwas frustriert, weil niemand ihr Kommen beachtete, setzten sie sich an den Tisch, an dem Erika und Elös sassen.

    «Aha, da ist sie, unsere Mitschülerin! Es scheint, dass wir ihr zu gewöhnlich sind. Sie braucht das Exotische», stichelte einer der Betrunkenen.

    Erika blieb ruhig, sie kannte die Wortführer der Bande und wusste, dass sie deren Verbalstärke unterlegen war. Nur ein «ach, lass mich in Ruhe» gab sie zurück.

    Doch das war bereits zu viel, der Gröbste und Betrunkenste hatte auch ohne Alkohol nie ein Blatt vor den Mund genommen, jetzt war er hemmungslos und fiel unter dem Jubel seiner Kumpanen lautstark über Erika her.

    «Das war es also, was dein Vater wollte, als er sich als Sprecher der Bürgerbewegung für den Stellplatz der Zigeuner starkmachte. Als er an allen Versammlungen immer wieder betonte, in unserer kleinbürgerlichen Stadt solle ein neuer multikultureller Geist einkehren und uns Kleinbürger aus der Lethargie aufwecken. Jetzt haben wir sie, die Fahrenden, die Zigeuner. Und seine Tochter hat ihren Roma-Freund. Wir sind ihr zu wenig, zu hinterwäldlerisch, sie gibt sich lieber mit einem dahergelaufenen Tunichtgut ab. So weit ist es gekommen, dass uns dieses Gesindel unsere Mädchen ausspannt und verführt.»

    Erika stand auf, stillschweigend zog sie Elös an der Hand mit sich und verliess unter lautem Gejohle den Festplatz. Sie führte ihn durch die engen Gassen zum alten Schloss.

    «Dort ist es ruhig, dort können wir uns auf

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