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Morgenstern
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eBook257 Seiten3 Stunden

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Über dieses E-Book

"Anstelle von Füßen hatte dieses Wesen eine Unmenge von Nasen, auf denen es sich fortbewegte. Das Tier machte eine merkwürdige Bewegung, die tatsächlich den Eindruck erweckte, es würde all seine Nasen in großer Besorgnis ringen wie Menschen die Hände. Und dann sprach es. Es klang ziemlich hektisch und auch etwas kurzatmig."
An einem grauen Tag am Hemmelighet Fjord kriecht Theo und Sophie ein überaus seltsames Wesen über den Weg. Es bewegt sich auf zahlreichen Nasen fort und stellt sich als das Nasobem vor. Und es warnt die beiden. Wovor, verrät es leider nicht. Doch kaum ist das Nasobem davongenäselt, ziehen acht rote Raben über den Geschwistern ihren unheilvollen Kreise. Sie kommen näher und näher. Und schon sind Theo und Sophie mittendrin in einem magischen Abenteuer – und in großer Gefahr.
SpracheDeutsch
HerausgeberLoewe Verlag
Erscheinungsdatum18. Dez. 2017
ISBN9783732010974
Morgenstern

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    Buchvorschau

    Morgenstern - Antonia Michaelis

    Für meine Mutter,

    die mir statt Grimms Märchen

    Morgensterns Gedichte beibrachte, als ich klein war.

    Inhalt

    Nachtbild

    Die Möwen

    Das Nasobēm

    Palmström

    Der Zwölf-Elf

    Galgenberg

    Die Korfsche Uhr

    Das Löwenreh

    Das aesthetische Wiesel

    Der Rabe Ralf

    Mondendinge

    Sagen und Nichtsagen

    Die Unterhose

    Nachtbild

    Sophie konnte sich nicht vom Anblick des Gartens trennen. Er war voller Geheimnisse.

    Es war alles, dachte Sophie später, weil sie dieses Haus erbten.

    Sie erbten es an einem Tag am Ende der Sommerferien. Die Sonne stand schon nicht mehr so hoch am Himmel wie zu Beginn der Ferien, und in zwei Wochen würde die Schule wieder losgehen.

    Könnt ihr euch das vorstellen? Da wohnt man an einem Tag im achten Stock in der Rosenborg-Gata mitten in Oslo wie tausende von anderen Menschen, und am nächsten Tag besitzt man plötzlich ein ganzes Haus am Hemmelighet Fjord.

    Sophie und Theo saßen auf dem breiten Fensterbrett in der Küche und zählten unten auf dem Parkplatz vor dem Haus die grünen Autos, welche selten sind in Oslo. Sie fragten sich gerade, was sie mit dem Tag anfangen sollten – einem dieser endlosen, zeitlosen Ferientage –, als die Wohnungstür aufflog.

    Sie flog so heftig auf wie sonst nie, und Mama kam hereingefegt. Theo und Sophie hörten, wie sie im winzigsten aller Flure ihre Schuhe abstreifte und ihre Jacke irgendwo in die Ecke feuerte. Gleich darauf stürmte sie weiter in die Küche.

    Die beiden warfen sich einen bedeutsamen Blick zu. Was war los?

    Mama sollte in der Arbeit sein, nicht hier. Sophie hatte erwartet, sie würde sofort anfangen, wie ein Wasserfall zu reden, so aufgeregt sah sie aus. Aber sie stand einfach da, mitten in der Küche, schnaufte vom Treppen-Rennen, weil der Fahrstuhl mal wieder kaputt war, und sagte gar nichts. Nur in der Hand – in der Hand hielt sie einen Brief.

    Ab und zu fuhr sie sich mit der anderen Hand durch die kurzen Haare, die sie abgeschnitten hatte, als Papa damals weggegangen war und die winzige Wohnung im achten Stock plötzlich ein Zimmer zu viel gehabt hatte. Trotzdem war sie immer noch zu klein: die Küche zum Beispiel – Mama sagte immer, die Küche wäre höchstens so groß wie ein Badehandtuch. Und in dieser Badehandtuch-großen Küche stand sie nun und fuhr sich durch die Haare und wedelte mit dem Brief. Theo und Sophie sahen ihr eine Weile dabei zu. Schließlich fragte Sophie: „Was ist los?"

    Da machte Mama ihre Stimme ganz tief und offiziell wie die eines alten Mannes mit Schlips und Kragen und las vor:

    Sehr geehrte Frau Kunkel,

    heute sehe ich mich zur Abwechslung in der Lage, Ihnen eine gute Nachricht zu überbringen. Wie mir soeben vom zuständigen Anwalt mitgeteilt wurde, geht nach Ableben eines gewissen Herrn F. Kunkel sein Haus am Hemmelighet Fjord samt Mobiliar in Ihren Besitz über. An Sie auszuzahlen ist außerdem ein beträchtlicher Betrag an Bargeld, dessen Übereignung sich allerdings an die Bedingung knüpft, dass das Haus so schnell wie möglich von Ihnen bezogen wird. Weitere Formalitäten würde ich gern in meiner Kanzlei in der Kirkegata mit Ihnen persönlich besprechen.

    Mit freundlichen Grüßen

    T. Hano

    Sie verstummte und sah Theo an. Dann sah sie Sophie an. Und dann lächelte sie.

    Herr T. Hano war Anwalt, und normalerweise hatte er keine guten Nachrichten zu überbringen. Im Gegenteil: Er überbrachte eine Menge schlechter Nachrichten, die meistens etwas mit Papa zu tun hatten, der nicht mehr da war, oder mit dem Geld, von dem Mama nie genug verdiente.

    „Wer ist F. Kunkel?", fragte Sophie.

    Mama zuckte mit den Schultern, hob den Brief über ihren Kopf und fing an, sich im Kreis zu drehen wie in einem seltsamen Tanz. Vielleicht, dachte Sophie besorgt, war Mama ganz plötzlich übergeschnappt?

    „Mama!, sagte Theo, der wohl Ähnliches dachte. „Mama, hör doch mal auf damit! Was soll das alles heißen? Und wer ist dieser F.?

    Sie blieb stehen und legte die Arme um ihn.

    „Ich weiß es nicht, Theo, antwortete sie ernst. „Ich weiß es wirklich nicht. Ich habe noch nie von einem F. Kunkel gehört. Offenbar war er irgendwie mit uns verwandt, und jetzt ist er tot. Sieht ganz so aus, als würden wir umziehen. An den Hemmelighet Fjord. Hemmelighet Fjord … Hemmelighet Fjord … Sie schloss die Augen, als sie es sagte. „Wie hört sich das an?"

    „Hmm, meinte Theo unbehaglich. „Weit weg, würde ich sagen.

    Der Hemmelighet Fjord war weit weg. Sie guckten ihn sich noch an diesem Nachmittag auf der Karte an. Er war lang und flach und leer, lag an der Westküste und ähnelte dem großen roten Fleck, der Oslo war, nicht im Geringsten.

    „Vielleicht, sagte Sophie beim Abendbrot, „wohnen überhaupt keine Leute da.

    „Ach, Unsinn", antwortete Mama fröhlich. „Natürlich wohnen Leute da. Die kleinen Punkte auf der Karte sind Orte. Eben kleine Orte."

    „Mit kleinen Leuten", sagte Theo.

    Sophie kicherte und sprühte dabei eine Käsebrot-Krümel-Fontäne über den Tisch.

    „Wo gehen wir denn dann in die Schule?", wollte Theo wissen. Darüber hatte sich Sophie noch gar keine Gedanken gemacht, aber die Ferien hörten schließlich irgendwann auf.

    „Ach, meinte Mama leichthin, „einer von den kleinen Orten wird schon eine Schule haben.

    Mama war wirklich keine Hilfe. Sie fand den Brief und das Haus und den Umzug und alles ganz wunderbar. Man selbst konnte sehen, wie man damit klarkam.

    Als sie an diesem Abend in ihren Betten lagen, sagte Theo: „Ich habe überhaupt keine Lust darauf umzuziehen. Wenn die Ferien vorbei sind, will ich mich verflixt nochmal mit Jan und Sören an der Ecke treffen und mit ihnen zur Schule gehen wie immer. Ich will Papierkügelchen auf die Tauben im Park schießen und auf dem Parkplatz vor dem Einkaufscenter inlineskaten gehen und mich mit den anderen aus meiner Klasse beim Kino verabreden, wo die größeren Jungs immer stehen und rauchen … Aber bestimmt will ich in keine einsame Gegend ohne Kino und ohne Parkplätze ziehen, wo es nichts gibt als ein paar Kühe!"

    Er schlug mit der flachen Hand auf die Bettkante, dass es nur so knallte.

    „Na ja …", flüsterte Sophie in die Dunkelheit, „aber denkst du denn gar nicht darüber nach, wie es dort sein wird?"

    „Darüber muss ich nicht nachdenken, erwiderte Theo. „Scheußlich wird es sein, was sonst.

    „Ich weiß nicht …", wisperte Sophie.

    „Du bist ja auch erst elf, sagte Theo. „Wenn man erst elf ist, weiß man so etwas eben noch nicht. Mit dreizehn ist das anders.

    Sophie schwieg eine Weile, weil sie sich über Theo ärgerte.

    „Vielleicht ist es ja auch schön, sagte sie schließlich. „Vielleicht gibt es eine Menge Kinder da und Pferde und Katzen und Hunde, und man kann im Meer schwimmen und … Sie verstummte.

    „Das glaubst du doch selbst nicht", murmelte Theo. Dann verkroch er sich unter seiner Bettdecke, und Sophie wusste, dass er in die Ecke seines Kissens biss, um nicht zu weinen. Denn wenn man schon dreizehn Jahre alt ist, weint man wohl nicht mehr.

    Mama, dachte sie, Mama wollte nicht einmal ihre Betten mitnehmen. Sie hatte beschlossen, alles dazulassen, was nicht unbedingt gebraucht wurde. Aber in Wirklichkeit – das wusste Sophie auch mit elf – in Wirklichkeit wollte sie gar nicht die Möbel loswerden oder die Wohnung. Sie wollte endlich Papa loswerden, der bis vor einem Jahr hier mit ihnen gewohnt hatte und dessen Anwesenheit noch immer in den Wänden und dem Sofabezug hing.

    Sie fuhren drei Tage später.

    Mama war noch ein paarmal in der Kirkegata bei T. Hano gewesen, um eine Menge Dinge zu unterschreiben und eine noch größere Menge Fragen zu stellen. F. Kunkel, hatte Herr Hano gesagt, war Mamas Großcousin dritten Grades und hatte außer ihnen kaum Verwandte. Doch weshalb er unbedingt wollte, dass sie sein Haus bewohnten, anstatt es zu verkaufen, das hatte Mama nicht herausgefunden.

    Theo und Sophie halfen, vier braune Pappkartons und eine Reisetasche in den alten weißen Lieferwagen einzuladen. Mehr nicht. In drei Pappkartons waren Dinge, die ihnen beiden gehörten: Bücher, Kleider, Brettspiele. Weder Sophie noch Theo wussten, was sich im vierten Karton befand. Nichts, was klapperte. Sophie fragte sich, ob Mama auch das Geschirr dagelassen hatte. Zuzutrauen war es ihr.

    Der zerkratzte weiße Lieferwagen wandte seine Schnauze in den Wind und hoppelte mit ihnen davon. Fort von Oslo, fort von den hohen Häusern, fort von der alten Schule und von ihren Freunden.

    Sophie blickte zu Theo hinüber, der so beharrlich schwieg, dass man es fast schon hören konnte.

    Seine Nase klebte an der Fensterscheibe, und er sah den bunten Reklameschildern nach und den Menschen, die keine Häuser am Hemmelighet Fjord geerbt hatten und durch die Stadt krabbelten wie geschäftige Insekten. Hinter ihnen verhallte der Lärm der Stadt.

    „Ist das nicht aufregend?, fragte Mama und legte eine alte Kassette ein. „Wir fahren in ein komplett neues Leben. Alles wird anders. Ist das nicht unheimlich abenteuerlich?

    Theo sagte nichts dazu, aber Sophie nickte zögerlich. Denn immerhin konnte man versuchen, den Hemmelighet Fjord aufregend zu finden, wenn man doch wusste, dass man dorthin ziehen musste. Sie ballte ihre Fäuste in den Taschen und bemühte sich, ein sehr entschlossenes Gesicht zu machen.

    Hemmelighet Fjord, sagte es in ihrem Kopf vor sich hin, als sie durch die Landschaft fuhren. Hemmelighet, Hemmelighet, Hemmelighet.

    Allein schon der Klang des Wortes jagte ihr jedes Mal einen Schauer über den Rücken. Es klang wie der Name eines Fjordes, an dem alles geschehen konnte, alles – die verrücktesten Dinge.

    Eine Stadt, die Oslo hieß, in der konnte nicht viel Seltsames passieren, aber ein Fjord, dessen Name Hemmelighet lautete …

    Als Sophie zum letzten Mal auf die hohen, rauchenden Häuser zurückblickte, die nun immer mehr schrumpften, kam es ihr vor, als hätte sie die ganze Zeit über dort nur gewartet. Elf Jahre lang. Auf einen Brief, der ihnen befahl, in ein großes Haus in einer kahlen Gegend zu ziehen.

    Quatsch, sagte sie zu sich. Wer wartet schon auf so einen Brief? Sie lehnte sich im Autositz zurück und lauschte Mamas alter Musik. Mama klopfte den Takt auf dem Lenkrad mit. Sie sah aus, fand Sophie, als ginge es ihr zum ersten Mal seit einem Jahr wieder richtig gut.

    „Was wirst du dort arbeiten?", fragte Sophie.

    „Ach, ich weiß nicht, antwortete Mama sorglos, „irgendwas wird sich schon finden.

    In Oslo hatte Mama bei einem Mann gearbeitet, der in einer kleinen Werkstatt am Stadtrand Fensterrahmen verkaufte. Mama konnte alle Sorten von Fensterrahmen machen: rechteckige und quadratische, große und kleine, Rahmen mit und ohne Kreuz … sogar runde, bestimmt. Sophie überlegte, ob Mama nun die ganze Küste mit Fensterrahmen versorgen würde. Brauchten Boote Fensterrahmen für ihre Bullaugen?

    „Gar nichts wird sich finden, murmelte Theo. „In einer Gegend, wo es nichts gibt. Was soll man da arbeiten? Die Bäume kannst du zählen und die Raben, sonst nichts.

    Sophie wusste, dass er traurig war, und deshalb legte sie ihm ihre Hand auf den Arm, aber Theo schüttelte die Hand ab und sah weg.

    Oh, ja, die Raben zählen! Wenn er da schon gewusst hätte, wie Recht er hatte … Aber so weit sind wir noch nicht.

    Als sie das kleine Dorf erreichten, das Mama sich auf der Karte eingekringelt hatte, ging der Tag schon zu Ende. Das späte goldene Licht lag träge auf den Blättern der Birken am Rand der kleinen Straße.

    In der Ferne zog eine Schar Raben in einer weiten Schleife über den Himmel. An den Dächern der wenigen, geduckten Häuser im Dorf perlten die letzten Sonnenstrahlen ab wie Regen. Doch nirgends tönten fröhliche Kinderstimmen durch die Gassen des Dorfes, so wie Sophie gehofft hatte. Überhaupt war niemand auf den Straßen zu sehen. Wäre nicht aus manchen Fenstern ein Lichtschein gedrungen, hätte man glauben können, das Dorf sei verlassen. Das Haus jedoch, ihr Haus, stand nicht im Dorf. Es stand außerhalb auf einer Anhöhe, und gleich dahinter begann der Wald. Ein großer, rauschender Wald aus Tannen und Fichten und dunklem Unterholz, in dem das Abendlicht einfach verschwand. Er warf keinen einzigen Schimmer davon zurück.

    Kurze Zeit später wühlten sich die Reifen knirschend in den Kies der Auffahrt. Mama sprang als Erste aus dem Wagen und atmete einmal tief durch.

    „Wir sind da", sagte sie. Und das waren sie wohl.

    Als Sophie an diesem allerersten Abend auf der Auffahrt neben Mama stand und sich umsah, wurde ihr mit einem Mal schwer ums Herz. Theo hatte Recht gehabt. Hier gab es wirklich weit und breit nichts Freundliches, Fröhliches, Buntes. Der Wald erhob sich jetzt ganz nah als düstere, drohende Wand vor dem Himmel. Der Wind sang in den Ästen der Bäume in dem großen Garten. Traurig sang er und verlassen. Ein Lied ohne Worte, dessen Inhalt man nicht verstehen konnte. Aber es erzählte von Weite und Stille und Einsamkeit. Die Zweige reckten sich einem entgegen, als suchten sie Trost an diesem kalten, seltsamen Abend. Oh, und wie kalt es war! Vom Meer wehte ein kühler Luftzug und griff mit langen, klammen Fingern nach ihnen.

    Sophie merkte, dass sie zitterte, und zog ihre Jacke enger um sich. Das einzig Lebendige, was es hier gab, waren die Kühe auf den Feldern ringsum, doch selbst die machten einen verlorenen Eindruck.

    Theo verzog das Gesicht. „Das also, flüsterte er, „ist das Haus.

    „Ja", flüsterte Sophie.

    Sie legten die Köpfe in den Nacken und sahen empor. Sophie hatte sich ein kleines, gemütliches Haus vorgestellt, voller behaglicher Nischen und Winkel. Ein Haus, in dem jemand, der von ihrem Kommen wusste, bereits ein helles Licht angemacht hatte. Ein Haus mit Blumenkästen auf den Fensterbrettern, mit einem rauchenden Schornstein und niedrigem Dach …

    Dieses Haus war groß. Es ragte vor ihnen auf wie die Kulisse in einem Film. So einem, in dem es um alte Lords und Vampire geht und in dem überall Fackeln flackern und Nebel herumwallt.

    Der Himmel war jetzt rosa. Er spiegelte sich in den Fenstern des Hauses, und man konnte sehen, dass im obersten Stockwerk zwei davon gesplittert waren. Efeu hatte sich im Lauf der Zeit über die gesamte Vorderfront nach oben gearbeitet. An einigen Stellen waren Teile von ihm an Altersschwäche gestorben und baumelten schlaff und grau herunter. Von den Fensterbrettern hing die Farbe in Streifen herab und schaukelte im kalten Wind.

    Neben dem Haus aber und hinter dem Haus und überhaupt um das ganze Haus herum wuchs der Garten.

    Es war ein riesiger Garten, aus düsteren, verschlungenen Wegen und Hecken und hohen Bäumen. Ein Garten, in dem selbst das große Haus beinahe klein wirkte, und Sophie kam sich vor, als würde sie ganz und gar verschwinden, wenn sie ihn nur zu lange ansah. Das ganze Grundstück war einst von einem hohen, abweisenden Zaun gesäumt worden, doch nun lagen die meisten seiner Latten zusammengebrochen im Gras.

    Ein Käuzchen schrie. Sophie zuckte zusammen, aber dann merkte sie, dass es gar kein Käuzchen gewesen war, sondern die linke hintere Autotür, die schon seit Jahren quietschte. Mama fing tatsächlich an, die Kisten aus dem Wagen zu zerren.

    „Du willst nicht wirklich … hier … ich meine … einziehen?", fragte Theo entsetzt.

    „Nun, es sieht etwas … reparaturbedürftig aus, gab Mama zu. „Aber das kriegen wir schon hin.

    „Sie ist verrückt, murmelte Theo, „sie ist absolut verrückt.

    Doch er half trotzdem, die Pappkartons auszuladen. Sie schleppten ihre paar Kisten vor die Haustür, eine schwere, dunkle Eichentür, und Mama kramte eben in ihren Taschen nach dem Schlüssel, als sich im Haus plötzlich etwas regte.

    Sie erstarrten alle drei gleichzeitig in der Bewegung. Da näherten sich ganz eindeutig Schritte von innen. Sophie tastete unwillkürlich nach Theos Hand. Das hatte sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr getan. Doch sie spürte, dass auch er froh über ihre Hand war, denn er drückte sie ganz fest. Sie wusste nicht, was Theo dachte, aber sie selbst dachte, dass jetzt etwas Großes, Schreckliches die Tür aufreißen würde. (Später gab Theo natürlich nicht zu, dass er etwas Ähnliches gedacht hatte.)

    Was jedoch gleich darauf geöffnet wurde, war nicht die Tür, sondern ein kleines Fenster neben der Tür. Und da sahen sie auch, dass hinter diesem Fenster Licht brannte. Kein helles Licht – die Farben des Sonnenuntergangs, die sich in den Scheiben spiegelten, hatten es sozusagen übertönt –, aber immerhin Licht. Freundliches, warmes Lampenlicht. Es hatte also doch jemand auf sie gewartet. Und dieser Jemand streckte jetzt seinen Kopf aus dem Fenster.

    Es war eine alte Frau mit weißem Haar und in einer dicken Strickjacke, doch im Gegensatz zu den Hexen im Märchen trug sie türkisfarbene Lockenwickler auf dem Kopf und drehte an einem Hörgerät in ihrem Ohr herum. Und sie hatte eine große, sehr verblichene Schürze an, die bestimmt genauso alt war wie sie selbst.

    Vorne beulte sich die Schürzentasche etwas aus, als steckte ein platter, rechteckiger Gegenstand darin, ein Buch vielleicht.

    „Frau Kunkel?", fragte sie.

    Mama nickte. Die alte Frau streckte durch das Fenster ihre Hand aus, um die von Mama zu schütteln.

    „Nolte, sagte sie, und das bedeutete wohl, dass sie so hieß. Aber genau wusste man es nicht, denn die alte Frau gab keine weitere Erklärung ab. Sie verschloss das Fenster sorgfältig wieder und öffnete gleich darauf die schwere Eichentür für uns. Danach sagte sie noch: „Ich wohne hier, wobei sie auf eine Tür zeigte, die von dem finsteren Eingangsflur aus nach links führte. „Zwei Zimmer. Der Rest gehört jetzt Ihnen. Wir haben bloß dieselbe Haustür und den gemeinsamen Flur am Eingang."

    Und dann sagte sie für diesen Tag nichts mehr. Sie half zwar, einen Umzugskarton in den Flur zu tragen, und zeigte ihnen den Lichtschalter und nickte noch ein paarmal – doch das alles tat sie stumm. Und schließlich hängte sie

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