Christof und Johanna
Von Eva Rechlin
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Buchvorschau
Christof und Johanna - Eva Rechlin
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Zuerst feierte Christof das Wiedersehen mit der Stadt. Vor dem Bahnhof setzte er die Koffer nieder, atmete tief, als er sich wieder aufrichtete und lächelte der vor ihm liegenden Straße zu, lächelte über ihre tausend Meter Länge hinweg dem fernen, in der Sonne wie Kiefernrinde glühenden Backsteintor zu, in das die Straße wie in einen roten Schlund einmündete. Keine zwanzig Schritt vor ihm stieß von links und rechts der Stadtwall an das Straßenpflaster, mit säulengleichen Eichen, die das Trottoir beschatteten; Teppiche von Scharbockskraut fielen sanft nieder bis an den Saum der Straße, grün und gelb ausgebreitet vor den blaßvioletten, mürben Feldsteinmauern, die den Wall begleiteten; zu beiden Seiten hinter dem Wall erstreckte sich die graue Flucht der Häuserfronten, bisweilen unterbrochen durch die sonnigen Buchten der abzweigenden Gassen, bis hin zum Tor. Rechts vor dem Wall stand ein dunkelbronzener, hoher Friedensengel, der in der erhobenen Hand einen Palmzweig hielt. Ihm gegenüber, auch in Bronze, saß überlebensgroß Fritz Reuter in einem Lehnstuhl und lächelte behaglich auf farbensprühende Blumenbeete nieder, ganz und gar „Fritzing", wie die Stadtbewohner das Denkmal zärtlich hießen.
Vier Jahre lang hatte sich Christof nach der Stadt gesehnt, in der er geboren und aufgewachsen war – zusammen mit Johanna. Er hatte ihr den Zeitpunkt seiner Ankunft nicht geschrieben, er hatte allein ankommen wollen. Nun ging er langsam durch die lange Straße, die Last seiner Koffer nicht beachtend, immer auf das Tor an ihrem Ende zu. Mehr und mehr nahmen die weißen, pyramidengleich mit den Stufen des Treppengiebels aufsteigenden Striche Gestalt an: Elf schmale gotische Engel hielten ihre Hände zum Himmel erhoben.
Christof ging nicht bis unmittelbar an das Tor heran, hundert Meter davor etwa blieb er an der Abzweigung zur Pfaffenstraße stehen. Hier lag das städtische Krankenhaus, in dem Johannas Vater Arzt war. Die Familie wohnte gleich daneben in einem hellblau gekalkten hohen Haus mit rostrotem Fachwerkgebälk. An den Fenstern im Erdgeschoß waren zum Teil noch bleigefaßte, bunte Butzenscheiben, und man konnte das Haus unmittelbar vom Kopfsteinpflaster der Straße aus, nur über eine ausgebeulte Holzschwelle hinweg betreten. Cristof öffnete leise den rechten Flügel der breiten alten Tür und betrat den Flur. Er empfand den Eintritt in das Haus, als ginge er in eine andere Stunde des Tages, als ginge er vom überhellen Vormittag zurück in die frühe Dämmerung des Tages, in eine sanft besonnte Dämmerung, die apfelsinenrot, blaßgrün und violett durch die Butzenscheiben glomm.
Christof stellte die Koffer nieder und sah sich um. Die moosgrüne Rupfenbespannung an den Wänden gab dem rechteckigen Flur eine anheimelnde Wärme. In das obere Stockwerk führte eine weiße, mit Kokosläufern belegte Holztreppe. Hier hatte Christof mit Johanna gespielt, dreizehn Jahre lang, Tag für Tag. Sie hatten miteinander laufen und sprechen gelernt, er mit allem Können dem Mädchen meistens um das eine Jahr voraus, das er älter war. Von hier hatte er sie zu ihrem ersten Schulweg abgeholt, von hier waren sie ausgezogen, um gemeinsam schwimmen zu lernen und Indianer zu spielen, sie war Winnetou gewesen und er Old Shatterhand: deutlicher konnten sie ihre Verbundenheit nicht ausdrücken. Erst als Christof vierzehn war, hatte er seinen Eltern in eine andere Stadt folgen müssen. Aber nichts war ausgelöscht von allem, was er hier empfunden hatte – etwa die Ungeduld, mit der er so oft auf der Treppe gesessen und auf Johanna gewartet hatte, bis sie unhörbar von oben herabgeschlichen kam und ihm einen Schubs gab, daß er vornüber und aus allen Gedanken purzelte, in die er mittlerweile versunken war. Hier war fast immer der Ausgangspunkt zu ihren gemeinsamen Unternehmungen gewesen. Er erinnerte sich deutlich an die großartige Erregung vor ihren abenteuerlichen Spielen, dieses Gefühl, mit dem sich junge Vögel wieder und wieder aus ihren Nestern in den Himmel stürzen mögen. Mit der Freude auf solches Wiederfinden war er nun für ein paar Ferienwochen zurückgekehrt.
Oben wurde eine Tür geöffnet, er hörte die Stimmen von Johannas Brüdern, hörte Johannas Stimme; sie sagte: „Nein, ich weiß es wirklich nicht!", sie sagte es mit einer Spur von Eigensinn und ging dann über den oberen Flur zur Treppe. Sie trug ein braunes Kleid mit hellen Tupfen, es erinnerte an Pfefferkuchen. Sie sah hoch und schmal aus, wie sie die Treppe herabstieg; die beiden langen Zöpfe waren weg, abgeschnitten. Oberhaupt war alles anders geworden an Johanna.
Christof blieb regungslos und stumm stehen, bis sie ihn endlich bemerkte. Sie war schon bei den unteren Stufen angelangt.
„Christof!" rief sie erschrocken. Gleich darauf lächelte sie, freudig und verlegen, zögerte noch zwei, drei Sekunden und ging rasch auf ihn zu. Während er ihre Hand hielt, blickte er noch verwirrt auf ihr kurzgeschnittenes Haar, dann in ihre Augen und hinab bis zu ihren Füßen und wieder in ihre Augen.
„Kennst du mich nicht wieder?" fragte sie.
„Doch. Ich hatte dich nur ganz anders in Erinnerung."
„Ich habe dir doch zu Weihnachten ein Foto geschickt!"
„Trotzdem. Aber ich bin nicht enttäuscht, sagte er, „ganz bestimmt nicht.
Sie senkte den Blick und fragte: „Hast du die beiden Koffer allein hergeschleppt?"
„Ja. Was ist denn schon dabei!"
„Warum hast du auch nicht geschrieben, wann du kommst! Wir hätten dich mit dem Leiterwägelchen abholen können."
„Nein, sagte er, „nein. Es war sehr schön so. Und es ist auch schön, daß ich dich als erste begrüßen durfte.
„Ja?" Sie lachte. Er fand, daß sogar ihr Lachen anders war als früher. Auf der Herreise hatte er versucht, sich nach ihrem Foto und ihren ausführlichen Briefen ein Bild von der siebzehnjährigen Johanna zu machen. Es war ihm nicht gelungen; immer war vor seinen Augen die eigenwillige, pummelige Dreizehnjährige erstanden, wie er sie das letzte Mal gesehen hatte. Er versuchte sich insgeheim damit zu trösten, daß ihm offenbar die Zeit von vier Jahren zwischen die beiden Bilder geraten war, und er glaubte, in den vier vor ihm liegenden Wochen leicht eine Brücke von seiner Erinnerung an Johanna zu der Wiederbegegnung mit Johanna schlagen zu können, obwohl ihn im Augenblick noch das Gefühl quälte, sie durch eine gläserne Wand begrüßt zu haben. –
Am Abend desselben Tages noch ging Christof mit Johanna auf den Wallwegen um die Innenstadt. Zwar hatten die Brüder die beiden begleiten wollen, aber Johanna hatte sie abgewiesen: „Früher habt ihr unsere Gesellschaft ja auch oft genug verschmäht. Schließlich ist Christof mein ganz persönlicher Gast, und wir haben uns viel zu erzählen. Ihr habt ihm ja auch nie geschrieben, aber ich fast jede Woche."
In der Pfaffenstraße brannten schon die drei kümmerlichen Laternen – am Eingang, in der Mitte und am Ende –, als sie das Haus verließen. Bis zum Wallweg gingen sie stumm nebeneinander her. Christof blickte an den einzelnen Häusern empor, damit Johanna sähe, daß er damit beschäftigt war, auch hier sein Wiedersehen zu feiern. Da und dort lagen in offenen Fenstern, mit den Unterarmen auf die Fensterbank gestützt, Frauen. Sie waren meistens rundlich und schienen einander zu ähneln wie ihre Fenster und ihre Häuser. Die Häuser sahen jetzt alle grau aus, die Türen wie große Mäuler, die Giebel wie spitze Stirnen. Christof wußte, daß die Frauen ihm und Johanna neugierig nachblickten; er war ganz sicher, daß sie ihn nicht für einen der Brüder hielten. Johanna balancierte mit gesenktem Kopf auf dem Kantstein des Trottoirs. Das, ja das hatte sie schon immer getan – allerdings mit erhobenem Kopf und manchmal sogar mit geschlossenen Augen, um zu beweisen, wie gut sie sich auf das Tastvermögen ihrer Füße und auf ihre Körperbeherrschung verlassen konnte. Er sah dann und wann zu ihr hin, aber sie blickte nicht auf.
Als sie den Wallweg erreichten, fragte sie: „Kennst du dich noch aus?"
„Natürlich."
Der Weg lag wie ein aus Zweigen geflochtener Tunnel vor ihnen. Erst als der Mond höher und höher stieg, sahen sie durch die Kronen der Eichen den matt erhellten Himmel, und der Weg sah aus wie ein langer, aus Schattenornamenten und Lichtflecken gewebter Teppich. Sie gingen langsam nebeneinander her. Früher hatten sie um diese Stunde schon geschlafen.
„Wie fühlst du dich nun als soeben von der Schule Entlassener?" fragte Johanna.
„Wie ich mich fühle? Hm – eigentlich habe ich das Bewußtsein noch nicht sehr gekostet, es ist ja noch so frisch. Vielleicht ist mir ein bißchen so, als sei ich aus dem Zuschauerraum auf die Bühne gelangt, aber bei geschlossenem Vorhang."
„Ist das nun ein besseres Lebensgefühl?"
„Ich weiß noch nicht, sann er laut, „ich habe mich auch noch nicht sehr dafür interessiert. Ich habe eigentlich die ganze letzte Zeit nur an diese Reise gedacht.
„Hast du dich darauf gefreut?"
„Ja, sehr. Das habe ich dir ja auch geschrieben. „Ja, stimmt.
Er dachte die ganze Zeit daran, daß sie zu den Brüdern gesagt hatte: „Wir haben uns viel zu erzählen."
Mit derselben Vorstellung hatte er zwölf Stunden lang in der Bahn gesessen. Er erinnerte sich an alles, was er Johanna hatte erzählen wollen, wie an ein dickes Bilderbuch. Johanna hatte das vorhin nicht nur so dahingesagt; er spürte, daß sie