Die Flucht: oder eine Handvoll Träume
Von Albert Morava
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Über dieses E-Book
Und tatsächlich klingelte es eines Tages an der Tür, und dort stand sie, allein, mit einer großen Plastiktüte in der Hand. Sie sah übernächtigt aus und in ihrem sonst so feinen Gesicht zeichneten sich Spuren einer schlaflosen Nacht ab, mit müden Augenlidern und geröteten Augenrändern. Er sah sie kurz an und ließ sie wortlos in die Wohnung herein, sang - und klanglos trat sie ein, schaute verunsichert um sich.
Ein Augenblick von knisternder Stille folgte, je länger desto peinlicher. Hilflos stand sie da, ein Häufchen Elend im roten Minirock und weißen, seidenen Strümpfen. Seltsamerweise empfand er keinen Haß, sondern eher Mitleid und ein Gefühl der Überlegenheit, wohl weil er bereits die Erfahrung mit einer anderen Frau gemacht hatte, und sollte Ella ihm untreu gewesen sein, war die Situation jetzt ausgeglichen. Ihre Sünde, wenn es welche gab, war somit gesühnt gewesen.
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Buchvorschau
Die Flucht - Albert Morava
Albert Morava
Die Flucht
oder
eine Handvoll Träume
fImage8089243Impressum
Texte: © Copyright by Ulrich Janik
Umschlag: © Copyright by Ulrich Janik
Inhaltsverzeichnis
1 Bielovs unsichtbare Welt
2 Beim Bruder Kalashnikoff
3 Madame Butterfly
4 In der Schwarzen Rose
5 Die Uhr und die Bibel
6 Sommergras und Schwarzenfels
7 Der Marsch zum Stern
8 Der Schwan und die Taube
9 Der Abschied
10 Unterwegs
11 Die Einladung
12 Die Ausreißerin
13 Christine
14 Sommerabschied
15 Ohne Verlangen
16 Der Ritt auf dem Tiger
17 Ohne Wiederkehr
18 Die Irrfahrt
19 Die Flucht
1 Bielovs unsichtbare Welt
......in Prag 1967
Der Sommer hatte noch nicht richtig begonnen, doch die Tage waren schon heiß und die Nächte schwül. Nachts konnte Jan deshalb nicht einschlafen und dachte an seine Zukunft, die keine war, von Gedanken verfolgt, die sich später, als er schlief, in Albträumen niederschlugen. In diesen ging er oft auf die Suche nach einem unklaren Ziel, das unauffindbar oder unerreichbar war. Oft war es ein verwunschenes Haus am Meer, das Anderen gehörte. Unbekannte Menschen ohne Gesicht bedrängten und verfolgten ihn, drohten ihm gar mit dem Tod und vor diesen hatte er zu flüchten: auf der Flucht und in Lebensgefahr befand er sich in seinen Träumen immer, auf einer Flucht ohne Ende.
fImage254841225******
Das Geldkuvert im alten Schreibtisch wurde dünner, das Geld aus seiner Erbschaft mit dem er sich eine Zeitlang über Wasser hielt, war so gut wie verbraucht. Notgedrungen und mit wenig Hoffnung beschloss er, bei der Universitätsverwaltung um eine Nebenbeschäftigung nachzusuchen und wider Erwarten hatte er Glück. Wenn alle Stricke reißen, wird man Lehrer.
Seine erste Schülerin war über dreißig Jahre alt und verheiratet mit einem aufstrebenden Gewerkschaftler, der für ein Jahr nach Washington mit gewissen Aufgaben beordert wurde. Er war um die Vierzig, Brillenträger, kahl, übergewichtig und stets glattrasiert.
Sie hieß Nora, wohnte in einem Neubaugebiet am Stadtrand, sie verabredeten sich an der Endhaltstelle einer Straßenbahn, die in dieses Gebiet fuhr: eine aus Panelbauten bestehende Satellitenstadt, so neu, dass dort einige Straßen noch keine Namensschilder hatten. Die Satellitenstädte Prags glichen sich wie ein Ei dem anderen.
Nora war gut aussehend; eher zierlich, mit kastanienbraunen, leicht gewellten Haaren und sensiblen Augen. Sie wartete auf ihn an der Haltestelle mit einer großen Einkaufstasche, die voll von Lebensmitteln war und anscheinend recht schwer. Von der Haltestelle bis zu ihrer Wohnung mussten sie gemeinsam einen Fußmarsch von einer guten Viertelstunde zurücklegen; Jan bot ihr an, ihre Tasche zu tragen. Sie lehnte sofort ab und schritt schweigend in der richtigen Richtung los. Jan folgte ihr.
Ihr Gesicht und die Art, sich zu bewegen, erinnerte ihn an jemanden, den er kannte; gleichwohl wusste er nicht, wer das hätte sein können. Möglicherweise ein Mädchen aus seiner Kindheit, doch war er außerstande, sich ihren Namen ins Gedächtnis zu rufen. Vielleicht war das nicht nur die Optik, die Proportionen ihres Gesichts und ihres Körpers, sondern ihre ganze Ausstrahlung, eine Art Vibration, die wir unterschwellig wahrnehmen und die ohne Mitwirkung der Sinne unsere Seele trifft.
Was ist die Seele? Etwas was nicht greifbar ist, nicht materiell, doch wir wissen sehr wohl um ihren Zustand, da dieser Zustand sich in uns, unserem Körper und unserem Verhalten bemerkbar macht.
Nora erwies sich als angenehm gastfreundlich, ohne zu drängen. Als sie in der Wohnung ankamen und sie ihn ihrem achtjährigen Sohn vorstellte, der in seinem Zimmer spielte - er hatte ein ganzes Zimmer für sich allein, wo er mit seinem Baukasten beschäftigt war - bot sie ihm zur Eröffnung der ersten Englischstunde ein Getränk an.
Kaffee oder ein Glas Sherry?
Wenn schon, dann einen Kaffee, bitte!
sagte er in aller Bescheidenheit.
Ich habe auch Nescafé!
Sie sagte ich
, nicht wir
.
Nescafé war ein Statussymbol. Nicht wie der Allerweltskaffee, der nach dem Essen getrunken wurde: schwarzer Mokka, mit viel Zucker, in einem Metallkännchen nach türkischer Art gebrüht.
Jura kommt in einer Stunde.
Jura war ihr Mann, der aufstrebende Gewerkschaftler.
In der ersten Stunde gab es keinen Sprachunterricht. Sie plauderten miteinander beim Kaffee und Jan begriff, dass ihm jetzt als Lehrer Respekt gezollt wird, mit dem er nicht gerechnet hatte.
Nora sprach - ausser ihrer Muttersprache - keine andere Sprache, sie wurde als Näherin ausgebildet. Als Näherin hatte sie jedoch nie gearbeitet.
Nach einer Stunde kam Jura tatsächlich und beäugte Jan kritisch, ohne eine Gemütsregung zu zeigen; er würde nach Washington schon in einer Woche fliegen, sagte er, und hätte bereits rudimentäre Englischkenntnisse. Nora mit Sohn sollte in sechs Monaten nachkommen - und während dieser Zeit Englisch erlernen: Jan versicherte ihm, dass dies machbar sei.
Jura drückte ihm ein paar Geldscheine, den vereinbarten Stundenlohn von fünfzig Kronen, in die Hand. In der nächsten Stunde sollte mit dem Unterricht begonnen werden. Jan versprach ihm, seine Frau würde schnell lernen. Sie hatte natürliche Intelligenz und Sensibilität, sowie die richtigen Instinkte, die den Erfolg im Leben garantieren. Auf die Schnelle tranken sie zusammen noch ein Glas Sherry im Stehen.
Die Rückreise mit der Straßenbahn dauerte eine Stunde und als Jan dort in der Abenddämmerung ankam, fand er das Zimmer voll von Hundekot vor. Ellas Dogge hatte sich mit dem Schwanz zwischen den Beinen, angsterfüllt in einer Ecke des Raums verkrochen.
Diesmal schlug er auf den Hund nicht ein, doch es wurde ihm klar, dass etwas dringend geschehen musste.
Am nächsten Morgen schnappte er sich die Hündin und schleppte sie zu Ellas Großmutter, mit der Bitte, sie vorübergehend bei sich aufzunehmen, bis zu Ellas Rückkehr.
Was sagst du mir?
wunderte sich die Alte. Ellina hat bei mir gestern angerufen. Ich soll dir ausrichten, dass sie die Scheidung möchte.
Das traf Jan wie ein Dolchstoß in den Rücken. Dennoch behielt er die Fassung und sagte, als wäre nichts geschehen:
Ja, wir lassen uns scheiden, aber darüber werden wir noch reden, wenn sie zurück ist!
Gut
, sagte sie, bis dahin kannst du den Hund noch da lassen. Aber es ist das letzte Mal, dass ich für euch was tu'!
Und sie nahm den Hund.
***
Er hieß Bielov, kam an einem Abend mit dem letzten Flugzeug aus London. Jan war sein Dolmetscher und Reisebegleiter.
Dieser Arbeitseinsatz wurde ihm direkt vom Innenministerium angeboten und es war ihm schleierhaft, wie und durch wen die Verantwortlichen im nachrichtendienstlichen Bereich auf ihn aufmerksam geworden waren. War es eine Empfehlung von Noras Mann, der sich mittlerweile in Washington befand?
Nora erwies sich tatsächlich als fleißige und auch stolze Studentin, sie bereitete sich auf ihre Stunden mit Jan gut vor und lernte die vielfältigen Vergangenheitsformen der englischen Verben mit erstaunlicher Leichtigkeit. Jan brauchte ihr nicht viel zu erklären und nach drei Unterrichtsstunden kam es zum ersten harmlosen Kuss bei einer Flasche Rotwein. Sie fanden sich gegenseitig anziehend und sie sprachen über viele intime Dinge, doch mit Ausnahme von gelegentlichem Küsschen - auch auf den Mund - und sanften Berührungen, hatten sie aus guten Gründen nicht Sex miteinander. Sie waren ja beide verheiratet, jeder mit seinem Partner, ob glücklich oder nicht. Bezahlt hatte Nora ihn immer pünktlich nach der Stunde, die sich oft bis in den späten Abend hineingezog.
John Bielov, der sich auf gut Englisch Beloff schrieb, entstammte einer nach England emigrierten, russischen Familie, war ein hochbegabtes Kind und später ein promovierter, international anerkannter Psychologe mit Professur an der Universität von Edinburgh. Einen weltweiten Ruf hatte er sich auf dem Gebiet der Erforschung von paranormalen Erscheinungen gemacht und galt als Parapsychologe von Rang und Namen.
Passen Sie auf ihn gut auf
, empfahl ihm die auf erotisch zurechtgemachte blonde Obersekretärin des Innenministeriums - mit zu viel Rouge auf den Lippen - während sie ihm einen großzügigen Vorschuss für die Tätigkeit gab.
Wir wissen nicht, was er bei uns eigentlich will! Er kommt aus Schottland und hat mit Geistern zu tun. Sollen wir ihn ernst nehmen und als was? Als rückständigen Spiritisten?
Jan musste sich bereit erklären, nach seinem Einsatz einen Bericht an das Innenministerium zu schreiben.
Mit vielen Anderen wartete er auf ihn im schäbigen Wartesaal des Prager Flughafens. Nach der Ankunft des Flugzeugs leerte sich der Wartesaal und am Ende blieb Jan nur noch mit einem anderen jüngeren Mann im blauen Anzug dort sitzen. Als letzter der angekommenen Fluggäste trat ein zierlicher Mann durch die Tür ein : John Beloff.
Jan und der hochgewachsene, blonde Mann im blauen Anzug stürzten sich beide gleichzeitig zu ihm mit der Frage: Professor Beloff?
Ja, er hieß Beloff und wurde hier außer von Jan auch persönlich vom britischen Botschafter in Prag erwartet. Überraschend befand Jan sich in bester Gesellschaft.
Die beiden Engländer schüttelten sich freundlich die Hände, während Jan - ebenfalls im blauen Anzug, seinem besten, sorgfältig abgestaubten Kleidungsstück - abseits stehen blieb. Das Verhalten des britischen Botschafters, der noch sehr jugendlich wirkte, kam Jan ungewohnt locker vor; er war ihm sympathisch.
Ungezwungen lud er den Professor an einem der kommenden Tage privat zu sich ein, for dinner, seine Frau würde sich freuen.
Und wer ist der junge Mann?
fragte er schließlich Bielov und richtete seinen Blick prüfend auf Jan.
Dieser musterte ihn ebenfalls zweifelnd und zögerte mit der Antwort, die er nicht hatte.
Man schickt mich vom Innenministerium
, sagte Jan, so korrekt er konnte, ich bin Ihr Dolmetscher und Begleiter auf Ihrer Reise in unserem Land, damit Sie sich bei uns auch ohne Sprachkenntnisse zurechtfinden.
Der Botschafter streifte den Professor mit einem besonderen, leicht ironischen Blick, den der andere auf die gleiche Weise erwiderte.
Ja
, sagte er, lassen Sie sich ruhig von dem jungen Mann begleiten. Aber vergessen Sie nicht unsere Verabredung zum Essen, wir wollen doch ein wenig auf Englisch plaudern.
Dann verabschiedete er sich und ließ Bielov allein in Jans Händen. Plötzlich wirkte er irgendwie hilflos. Als Gepäck hatte er nur ein kleinen Koffer, den er selber trug, obwohl Jan ihm seine Hilfe angeboten hatte.
Sie nahmen ein Taxi und fuhren im dichten Regen in eines der bescheideneren Hotels im Zentrum, wo für Bielov ein Zimmer gebucht war. Für die erste Arbeitsbesprechung am nächsten Tag verabredeten sie sich in der Lobby des gleichen Hotels, das - dem Namen Merkur zum Trotz - kein Hotel für wohlhabende Geschäftsreisende war.
Die Tatsache, dass Jan jetzt vorübergehend eigenes Geld verdiente, stärkte sein durch scheinbare Ausweglosigkeit der Lebensumstände angeknicktes Selbstbewusstsein. Noch am gleichen Abend beschloss er, seine Familie anzurufen.
Jetzt hatte er endlich einen Erfolg zu vermelden, auf den die Mutter schon lange gewartet hatte - und in das Gespräch mit ihr könnte er wohl auch die Probleme einflechten, die ihm jetzt das Leben schwer machten, ohne direkt um Hilfe zu bitten. Jan war ein stolzer junger Mann und Niederlagen, welcher Art auch immer, gab er nie offen zu.
Eine kaum bewohnbare Wohnung in Prag, der Verlust seiner Erbschaft und das Scheitern seiner Ehe wären die Hiobsbotschaften gewesen; so schlecht, dass er sie nicht alle auf einmal seiner Familie zumuten konnte: ein dicker Unglücksbrocken, der - wenn überhaupt - ohne Erstickungsgefahr nur in kleinen Portionen genießbar war.
Die Mutter freute sich zwar über seinen Anruf, meinte aber, er hätte bereits viel früher anrufen sollen, um zu zeigen, dass die Familie ihm nicht völlig egal sei.
Das hätte ich längst getan, wenn ich ein Telefon hätte
, sagte er, aber ich habe noch nicht einmal fließendes Wasser in der Wohnung!
Ist die Wohnung noch nicht renoviert?
Etwas zögernd schilderte Jan die Situation, die letztlich zum Verlust des vererbten Geldes geführt hatte.
Wider Erwarten brach seine Mutter nicht zusammen, sondern steckte die erste Hiobsbotschaft mit ziemlicher Leichtigkeit weg.
Vielleicht schicken wir jemand von hier aus nach Prag, der dir die Wohnung renoviert. Jemanden von der hiesigen Wohnungsverwaltung.
Das ist möglich?
Ja, in Ausnahmefällen.
Und das Geld hast du nicht mehr?
Ich wurde betrogen!
Die Mutter seufzte und eine Schweigesekunde folgte.
Ihr habt doch jetzt eigenes Geld. Ella ist ja beim Film.
Ja
, sagte er sie verdient ihr eigenes Geld. Und ich jetzt auch, aber für später wird es kaum reichen.
Er dachte an seine Mietrückstände bei der Prager Wohnungsverwaltung.
"Wir haben jetzt auch kein Geld mehr übrig, du musst