Dein Vater hat gesessen: Vom Aufwachsen in Krieg und Nachkriegszeit
Von Lore I. Lehmann
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Über dieses E-Book
Die ersten fünf Geschichten erzählen von ihrem Kinderalltag während des Krieges. Von einem Bombensplitter dicht unter dem Auge, von dem Verlust der ersten Schokolade ihres Lebens, von einer überraschenden Geburtstagstorte bei Kriegsende.
Sechs Episoden aus der Nachkriegszeit in Hannover zeigen eine Nora zwischen Übermut, Eigensinn und Unsicherheit. Verbotene Streifzüge in zerbombte Häuser, ein halbes Jahr im Nachkriegsengland, als Teenager mit intellektueller Attitüde im Café und schließlich gegen Ende der Schulzeit erstmals Ferien am Mittelmeer.
Lore I. Lehmann
Lore I. Lehmann wurde 1939 in Hannover geboren. Nach Schule, Dolmetscherseminar (Englisch, Französisch) und einem Volontariat von achtzehn Monaten in einem Kairoer Kinderheim lebte sie in Hamburg und Göttingen. In Hannover studierte sie Sonderpädagogik, und bis 2004 arbeitete sie als Förderschullehrerin im südlichen Niedersachsen. Seit ihrer Pensionierung besucht Lore I. Lehmann die UDL (Universität des Dritten Lebensalters) Göttingen und nimmt unter anderem an der offenen Schreibwerkstatt teil.
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Buchvorschau
Dein Vater hat gesessen - Lore I. Lehmann
Inhalt
Dein Vater hat gesessen
Sie trinkt keine Milch
Das Lied aus dem Mantel
Milch und Schokolade
Eine Blumenbinderin und ein Buchdrucker – das geht nicht
Getürmt
Ein schwieriges Kind
Operetten in Otter
Kämpfe
Guter Vorsatz – für die Pfeife?
Pins Parasols
Nachwort
Kurzbiographie
DEIN VATER HAT GESESSEN!
„Dein Vater hat gesessen!, sagte Ursel triumphierend zu Nora. „Mein Vater hat das rausgefunden.
„Wie – gesessen?" fragte Nora verständnislos.
„Na, Mensch – im Gefängnis natürlich!" Sie waren beide sechs Jahre alt und wussten, ins Gefängnis kamen Diebe und Mörder.
Die kleine Nora antwortete zwar „Quatsch, du spinnst ja!", aber sie war erschrocken und sich ihrer Sache keineswegs sicher.
Ihre Eltern unterhielten sich manchmal so rätselhaft, dass sie einfach nichts verstehen konnte. Sie fühlte immer wieder, dass es Geheimnisse gab, aber etwas Schlimmes konnte es doch bestimmt nicht sein. Und solange sie zurückdenken konnte, war ihr Vater meistens bei ihnen gewesen, also nicht in einem Gefängnis. Sogar aus ihrer Babyzeit gab es Fotos mit ihm.
Ursel wohnte mit ihrer Familie in der Wohnung über ihnen. Die beiden Mädchen waren keine guten Freundinnen, aber sie spielten sehr häufig miteinander. Zwischen den beiden Familien gab es nur wenige Kontakte. Sie hatten die einzigen Autos in der Straße, doch irgendwie war das Auto der Rinks nicht anständig und das von Noras eigener Familie war anständig. Herr Rink war ein Schieber auf dem Schwarzmarkt, so hieß es, das war nicht anständig, und Noras Vater hatte eine Zeitung, das war ein anständiger Beruf. Aber wenn er doch vielleicht wirklich mal im Gefängnis gewesen war?
Ursel erzählte bald auch den Spielgefährten in der Straße, dass Noras Vater früher gesessen hatte. Nora konnte immer nur hilflos antworten: „Nein, das stimmt überhaupt gar nicht!" Sie brauchte jetzt Hilfe von ihren Eltern. Ihren Vater konnte Nora auf keinen Fall dazu befragen. Der sprach nie über persönliche Dinge und wäre bestimmt sehr ungehalten geworden. Aber ihre Mutter hatte selbst schon eine süffisante Stichelei von Frau Rink gehört und erahnte Noras Nöte. Sie erklärte ihr, dass bis vor einem Jahr, also bis Ende des Krieges, ganz böse Menschen, die Nazis, über alles bestimmen konnten und ungeheuer viele Menschen getötet hätten. Ihr Vati hätte das schon im Voraus erkannt und so lange gegen diese Bösen geschrieben und geredet, bis sie ihn schließlich viele Jahre lang eingesperrt und gequält hätten. Er war also kein Verbrecher gewesen, sondern ein mutiger Held! Sie solle auf ihn stolz sein.
Nora hatte ihren Vater sehr gern und versuchte nun, stolz auf ihn zu sein. Aber die anderen Kinder verstanden die Erklärung der Mutter nicht. Sie meinten weiterhin: wenn die Nazis jemanden eingesperrt hatten, dann war auch etwas dran gewesen. Irgendetwas Schlechtes musste er vorher getan haben.
Dagegen konnte man nichts machen. Sie musste einfach damit leben. Aber bald wurde über die Nazi-Zeit sowieso überhaupt nicht mehr gesprochen.
Doch als sie etwa 16 Jahre alt war, wurden Ereignisse aus jener fernen Zeit plötzlich zu einem großen Thema zwischen ihr und ihrer Mutter.
Noras ganze Kindheit hindurch hatte die Mutter immer wieder mit Nachdruck darauf hingewiesen, wie sehr ihre Tochter doch in fast allem dem Vaterähnlich war, auch äußerlich. Nun war es aber so, dass die Mutter sehr gut aussah, der Vater jedoch nicht. Nora konnte diese Vergleiche immer schlechter vertragen. „Hör endlich damit auf! fuhr sie eines Tages ihre Mutter an. „Ich weiß, dass ich nicht so toll bin wie du. Du brauchst es nicht dauernd zu betonen!
Ihre Mutter fühlte sich gekränkt und missverstanden. Nachdem sie sich ein wenig erholt hatte, erzählte sie ihrer Tochter zum ersten Mal ausführlich die Geschichte der Beziehung zwischen ihr und ihrem Mann, die lange vor Noras Geburt begonnen hatte.
Ingeborg und Fritz hatten sich Ende der zwanziger Jahre kennengelernt. Er war ein in manchen Kreisen sehr bekannter pazifistischer Publizist in mittleren Jahren. Ingeborg war zwanzig Jahre jünger. Sie hatte ihn von ferne verehrt und schaffte