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Abschied von Askalon
Abschied von Askalon
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eBook327 Seiten4 Stunden

Abschied von Askalon

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Über dieses E-Book

Es ist das Jahr 285 nach Christus. In Askalon werden die Geschwister Tobija und Debora von einer Pflegefamilie großgezogen. Eines Tages erfahren die beiden jedoch von einer riesigen Erbschaft, die ihr bisheriges Leben schlagartig auf den Kopf stellt. Während Debora in Askalon bleibt, bricht Tobija sofort nach Alexandria auf. Doch Debora erhält immer unglaublichere Nachrichten über ihren Bruder, weswegen sie sich schließlich doch zu dem äußerst gefährlichen Weg durch die Wüste aufbricht. Als sie schließlich in Alexandria angekommen ist, wird sie vor eine wichtige Entscheidung gestellt.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum26. Sept. 2017
ISBN9788711754245
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    Buchvorschau

    Abschied von Askalon - Eva Rechlin

    www.egmont.com

    Ein Bote aus Ägypten

    Römisches Imperium 285 n. Chr.

    unter der Regierung von Kaiser Diokletian

    Die Wellen des Mittelmeers leckten auf den sandigen Strand vor Askalon, auf dem ein junger Mann vorwärts taumelte, erschöpft und doch wie von Eile getrieben. Weit vor sich sah er die helle Stadt über der Steilküste, übergossen vom roten Licht der rasch ins Meer sinkenden Sonne. Bei Gaza hatte ein Fischerboot den müden Boten an Land gesetzt. Thomas kam von Alexandria im westlichen Nildelta, und er ahnte, daß die Botschaft, die er von dort nach Askalon bringen sollte, auf unheimliche Art dringend sein mußte. Allzu verstohlen war ihm die versiegelte Papyrusrolle zusammen mit einer Handvoll Münzen zugesteckt worden, und er hatte die leise Bitte der verschleierten Absenderin noch im Ohr:

    »Bring es nach Askalon zu Bruder Samuel, bitte gleich! Nimm notfalls eine Schiffspassage. Und Vorsicht!«

    Ja, mit Hilfe von so viel Geld war er ungewohnt schnell bis Gaza gekommen. Und nun eilte er den Weg am Strand entlang, wo er vor zeitraubenden Militärkontrollen sicherer war als auf der parallel verlaufenden Römerstraße. Thomas war fest entschlossen, sein Ziel noch vor einbrechender Dunkelheit zu erreichen. Sich dort nach dem Wanderprediger Samuel durchzufragen, konnte nicht schwer sein. Zwischen Nildelta, Gaza, Askalon, Caesarea und bis Tyrus hinauf kannte jeder Bruder Samuel.

    Thomas kletterte zur Steilküste hinauf, wo die Stadt begann. Der kurze Aufstieg nahm ihm den Atem, und er wischte sich den Schweiß von Stirn und Nacken, zog die knielange Tunika unter seinem Gürtel zurecht, ordnete die sich vor der Brust kreuzenden Riemen von Versorgungsund Botentasche und ging auf einige kleinere Häuser am grün umwachsenen Stadtrand zu. Nach Bruder Samuel mußte er nicht lange fragen. Die Leute wiesen ihm den Weg zu einem Gehöft am nördlichen Stadtrand, zwischen Römerstraße und Meer:

    »Dort wohnt Samuel, wenn er in Askalon weilt, in der großen Familie von Sebastian und Miriam, den mit Kindern Gesegneten! Und auch mit Hunden Geschlagenen«, wie einer seiner Wegweiser lachend warnte.

    Als die lindernde Nachtkühle über Askalon fiel, erreichte Thomas sein Ziel zwischen Meer und Wüste, im fruchtbaren Küstenland der römischen Provinz Judäa.

    Die Hunde hätten einen erfahrenen Boten wie ihn ohnehin nicht abgeschreckt, er verstand sich auf den richtigen Umgang mit ihnen, außerdem sah er in dem »kläffenden« Rudel eher Spielgefährten der mindestens fünf Kinder von Sebastian und Miriam. Die lebhafte Familie schien ein Fest zu feiern. Thomas traf sie in dem ummauerten Hof am prasselnden Feuer, über dem sich ein Spieß mit Hühnchen drehte. Überwältigt vom köstlichen Bratenduft blieb der junge Fremde am Toreingang stehen. Sein schon länger nicht mehr gestillter Durst schnürte ihm die Kehle zu, als er zum Gruß ansetzte:

    »Friede mit euch…« Seine Stimme versagte.

    Ein junges Mädchen trat mit einem Krug Wasser auf ihn zu: »Trink erst einmal!«

    Mit beiden Händen griff Thomas danach und trank gierig das erfrischende Naß. Als er den Krug wieder absetzte, hatten sich sämtliche Familienmitglieder neugierig um ihn versammelt. Der Älteste stellte sich und die Seinen vor.

    »Du scheinst einen gewaltigen Weg hinter dir zu haben, komm erst einmal herein, iß und trink mit uns und ruh dich aus, das Weitere wird sich finden.«

    »Ist Brüder Samuel nicht hier? Ihn suche ich, seinetwegen komme ich von Alexandria! Eine wichtige Nachricht, eilig…«

    Schlagartig wurde es still. Vater Sebastian kratzte sich den bereits ergrauenden Schopf und blickte fragend auf seine Frau Miriam:

    »Wann wollte Samuel von Joppe zurück sein?«

    »So bald wie möglich, jeden Tag also! Du bist hier genau richtig, um ihn abzuwarten.«

    »Ich bin Thomas. Samuel kennt mich. In Joppe ist er? Also noch weiter nordwärts?«

    »Ganz sicher längst auf dem Rückweg.«

    »Dann muß ich ihm entgegen.«

    »Jetzt? In der Nacht? So eilig kann nichts sein, daß ein Bote sich dafür zum Löwenfraß anbietet. Diese Nacht ruhst du dich bei uns aus, jetzt wird erst einmal gegessen und getrunken. Ihr, Kinder, jagt die Hunde aus dem Hof, Tobija, sorge du dafür!«

    Der größte und wohl auch älteste riß einen Fetzen fettglänzender Haut von einem Brathühnchen und lockte damit die ganze Hundemeute in ihren Zwinger. Das älteste der Mädchen brachte dem fremden Gast eine Schüssel Wasser und Tücher, damit er sich den Staub abwaschen konnte. »Ich bin Debora«, sagte sie, während sie mit den Tüchern bei Thomas stehenblieb, »Tobija ist mein Bruder.«

    »Und die anderen? Seid ihr nicht alle Geschwister?«

    Vater Sebastian mischte sich ein:

    »Tobija und Debora sind Waisen und unsere Pflegekinder, nur der Rest ist eigene Brut. Helft der Mutter, Kinder! Bringt mehr Wasser mit Wein und Brot!«

    »Kommt deine Nachricht aus Alexandria von den reichen Schwestern Angela und Agatha?« fragte Debora leise.

    »Ihr kennt sie hier?« Überrascht hob Thomas den Kopf. »Wir wissen von ihnen. Tobija und ich sind mit ihnen verwandt. Haben sie dich geschickt?«

    »Nur eine von ihnen.«

    »Nur eine? Welche? Sie machen sonst immer alles gemeinsam! Warum guckst du weg?«

    Thomas wich aus:

    »Sie war verschleiert. Außerdem kenne ich sie nicht näher. Wieso verwandt?«

    »Unsere Mutter Kora kam vor sechzehn Jahren aus Alexandria hierher. Sie war die einzige Verwandte der reichen Eugenios-Schwestern, ihre Kusine.«

    »Ihre einzige Verwandte?« Thomas starrte Debora fassungslos an.

    »Sie folgte Simon, unserem Vater. Das hat den Tanten in Alexandria nicht gepaßt, er war nur Fischer, verstehst du?«

    »Und ihr seid die einzigen Kinder von Kora, du und…?«

    »Und Tobija, ja, aber es gibt keine Verbindung zwischen uns und den alten, reichen Tanten. Womöglich wissen sie gar nichts von uns. Setz dich zu den anderen ans Feuer und iß! Ich räum’ das hier fort.«

    Sebastian zog den Gast an seine Seite, und Miriam bewirtete ihn mit Brot und Wein und einem halben Hühnchen: »Greif zu, Thomas! Siehst aus, als hättest du seit Alexandria nichts mehr zu dir genommen.«

    »O doch. Ich fuhr bis Gaza auf einem Küstenfrachter mit. Es gab fast vierzig Tage lang Fisch.«

    »Wie bei uns«, sagte eines der Kinder, »da hattest du Glück, daß du gerade heute kamst.«

    »Und was feiert ihr?«

    Thomas beobachtete, wie Eltern und Kinder fragend auf Tobija blickten, der in der Glut stocherte und neue Äste nachlegte, die sich knisternd mit bläulichen Flämmchen entzündeten. Auch Debora sah ihren Bruder erwartungsvoll an:

    »Sag du es ihm, Tobija!«

    »Was schon! Daß ich Fischer werde? Habe ich eine andere Wahl?«

    »Er hat es sich wirklich lange überlegt, ob auch er Fischer werden soll wie sein Vater Simon«, erkärte Miriam dem Gast.

    »Den das Meer sich holte«, erwiderte Tobija düster, »vor drei Jahren, so wie vor ihm den Großvater. Verstehst du, Thomas, daß mir die Entscheidung nicht leicht fiel? Ich bin vierzehn, andere in meinem Alter haben es längst gelernt!«

    Der selber noch junge Gast lächelte dem Jüngeren ermutigend zu:

    »Ich verstehe ja – es ist eine Entscheidung fürs Leben. Gott wird dich beschützen, Tobija, er ist Herr über das Meer und den Sturm.«

    Tobija nickte, halb spöttisch lächelnd, halb bitter, als dächte er: Das sagen sie alle. Dann blickte er den späten Besucher prüfend an und fragte:

    »Gibt es Neuigkeiten aus Alexandria? Was ist so wichtig für den guten alten Samuel? Ich kann’s mir denken – meine Tanten Angela und Agatha Eugenios schicken dich. Welche Gemeinde ist diesmal in Not?«

    Mit einem hilfesuchenden Blick zu Debora antwortete Thomas unsicher:

    »Deine Tanten?«

    »Du kannst ruhig offen reden. Alle hier wissen, daß unsere Mutter ihre ungetreue einzige, sehr viel jüngere Kusine war. Was also wollen sie von Samuel? Er ist unser Vormund!«

    Ruhig mischte sich Vater Sebastian ein:

    »Laß unseren Gast in Frieden speisen. Er soll reden oder schweigen, wie er es will. Du mußt wissen, Thomas, daß die beiden reichen Schwestern sehr viel Gutes tun. Sie versorgen viele christliche Gemeinden an Samuels Route mit Spenden, und zwar regelmäßig! Das ist nicht selbstverständlich. Wir alle sind ihnen dankbar.«

    »Ich nicht«, widersprach Tobija, »ich finde das selbstverständlich, wenn sie so reich sind. Hast du ihren Reichtum gesehen, Thomas? Du warst doch dort!«

    »Das sieht man nicht einfach so. Natürlich bewohnen sie ein großes Haus in bester Lage. Ihr Reichtum besteht überhaupt aus großen Häusern in sämtlichen Stadtvierteln, im ägyptischen, im jüdischen und die meisten wohl im vornehmen griechischen Viertel.«

    »Aber wohnen können sie doch nur in einem Haus«, meinte Sebastians Jüngster.

    Die Älteren lachten und klärten ihn auf:

    »Häuser kann man vermieten! Da brauchst du nicht mehr zu arbeiten. Die Häuser bringen das Geld von ganz allein. Wie viele Häuser sind es denn? Drei, fünf oder mehr?«

    »Viel mehr, ganze Straßenzüge, dazu viele Geschäfte. O ja, die Damen Angela und Agatha zählen zur besten Gesellschaft und sind hoch angesehen in Alexandria.«

    »Nicht nur in Alexandria«, versuchte Vater Sebastian das Thema zu beenden, »sondern auch bei uns hier im einstigen Philisterland. Von wo stammst du, Thomas?«

    »Aus der Römergarnison Aelia Capitolina.«

    »Aus Jerusalem, also bist du kein Jude? Ich meine, weil uns die Stadt doch verboten ist.«

    »Christen nicht. Entschuldigt, wenn mir plötzlich die Augen zufallen wollen. Seit dem Morgengrauen war ich unterwegs, den ganzen heißen Tag lang. Und morgen muß ich früh weiter…«

    Miriam und Debora standen auf, dem Gast ein Nachtlager herzurichten, doch er bat, im Hof schlafen zu dürfen, in der angenehmen Nachtkühle, gegen die ein einfaches Laken genüge. Er sei es gewohnt, auf Sand zu schlafen, wollte nicht einmal eine Strohschütte. Und die Gastgeber verstanden ihn: Genauso halte es auch der alte Samuel, jedenfalls in den Sommermonaten. Und da sie selber in dieser heißen Jahreszeit auf den flachen, ummauerten Dächern von Wohnhaus und Ställen schliefen, brachten sie nur die Ledertaschen von Thomas sicher im Hausinnern unter. Debora kümmerte sich darum. Es fiel Thomas auf, wie verständig sie Miriam in allem zur Hand ging, obwohl er sie nicht älter als zwölf oder dreizehn schätzte. Debora scheuchte die vom Essen träge gewordenen jüngeren Kinder auf das Dach, sie redete vor der Hofmauer beschwichtigend auf die Hündchen ein, zog das hölzerne Hoftor zu und verriegelte es, während Tobija mit den Wein- und Wasserkrügen im Hausinnern verschwand. Das noch glühende Feuerchen überließen sie sich selbst, schoben nur den lockeren hellen Sand wallartig herum. Thomas sah Vater Sebastian als letzten im schwachen Licht verschwinden. Er selbst fühlte sich schwer wie Blei, streckte sich auf dem Sand aus, starrte zum indigoblauen Nachthimmel und nahm die tausend flimmernden Sterne mit in seine tiefen Träume.

    Nichts bemerkte er mehr von den zwei Mandelaugen über dem Dachmäuerchen, die hellwach auf ihn niederblickten. Debora als einzige dachte nicht an Schlaf. Als sie überzeugt war, daß alle schliefen, schlich sie leise nach unten, tastete nach einer Öllampe und ging auf nackten Sohlen in den Hof. Der fremde Gast hatte sich dicht an der Hauswand niedergelassen, sie hörte seine tiefen Atemzüge. Debora tastete am schwach glühenden Feuerrest nach einem glimmenden Zweig, mit dem sie ihr Lämpchen anzündete. Erst drinnen zog sie den Docht höher, damit er genügend Licht gab. Sie selber hatte die Taschen des Boten in der Küche verstaut. Die Münzen in der Kuriertasche klimperten aneinander, als Debora sie hastig aus dem Versteck holte und öffnete. Erschreckt blickte sie um sich, als müßte das leise Klirren alle Schläfer wie Schellenklang geweckt haben. Doppelt vorsichtig griff sie in die Tasche und zog eine versiegelte Papyrusrolle ans Licht. Es war ein einfaches Tonsiegel, unordentlich gepreßt wie in höchster Eile, sein Zeichen kaum erkennbar und nach der langen Wegstrecke bis zum Zerbröckeln ausgetrocknet. Mit einem Messer hantierte Debora behutsam, bis sich das ganze Siegel abheben ließ und sie den Papyrus aufrollen konnte. Sie erkannte griechische Schriftzeichen, die sie ebenso lesen konnte wie lateinische oder die in Judäa üblichen aramäischen der jüdisch-palästinensischen Sprache. Im römischen Imperium, einem Vielvölkerstaat, war Mehrsprachigkeit nichts Besonderes, doch was auf dem feinen Papyrus mit griechischen Buchstaben geschrieben stand, war in der koptischen Sprache Ägyptens abgefaßt, die das Mädchen nur bruchstückhaft kannte. Enttäuscht versuchte sie, den Inhalt zu entziffern. Das Schreiben war offensichtlich von Tante Angela, der älteren der reichen Schwestern abgefaßt, mit zittriger Hand, und – so viel begriff Debora bei der mühsamen Lektüre – Angela fürchtete sich vor ihrer einzigen Schwester Agatha! War das zu fassen? Galten die beiden nicht als unzertrennlich in ihrer schwesterlichen Liebe?

    Ja, von Liebe handelte die Botschaft an Samuel, von der großen, schmerzlichen, einzigen Liebe ihres Lebens, das konnte Debora erraten. Er sollte wissen, daß Angela ihn von Anfang an geliebt und nie damit aufgehört hatte. Aber warum gestand Angela Samuel ihre Liebe gerade jetzt, nachdem sie sie offenbar mehr als dreißig Jahre lang unterdrückt hatte? Warum jetzt solche Eile? Es folgten einige wirre, schwer verständliche Zeilen, dann das Wort »Tod«. Daß es zu Ende gehe mit ihr, daß sie sich nach dem Tod sehne – Tod, ihre einzige Hoffung, Wiedersehen im Tod, Befreiung durch den Tod… Debora starrte auf den Papyrus und begriff, daß eine Sterbende ihn vollgekritzelt hatte, deren Kraft sich von Zeile zu Zeile sichtlich erschöpft hatte. Und die schwachen, zittrigen Zeilen verschwammen vor Deboras Augen, weil ihr unwillkürlich die Tränen kamen und sich in ihr zum ersten Mal überhaupt ein Gefühl für die ferne Verwandte in Alexandria regte. O gnädiger Gott, in was für ein Leben läßt Du mich blicken! In meinen Gedanken lebten die reichen Schwestern in Überfluß und Glück, in endlosen Freuden, märchenhaft glanzvoll, herrlich und zufrieden! Aber der Brief war noch nicht zu Ende, Debora wollte auch vom letzten Absatz das Nötigste begreifen. Es war die Rede von den Kindern, »Koras Kindern«, die Samuel nach Alexandria bringen solle… stand das wirklich dort? Nach meinem Tod – Koras Kinder – nach Alexandria – Agatha nicht allein lassen.

    Debora war plötzlich, als brenne der Papyrus in ihren Händen. Sie horchte ängstlich ins finstere Haus und nach oben zum offenen Dachgeschoß. Alles war still… Sie wollte den Brief auf der Stelle loswerden, er machte ihr Angst. Wie hatte sie sich in kindlicher Neugier hinreißen lassen, ihn überhaupt zu öffnen? Fahrig rollte sie den kostbaren Papyrus zusammen, und das Siegel fiel ihr wieder ein. Noch war es ganz. Sie mußte den Papyrus noch einmal auf- und anders wieder zurollen, bis das Siegel an seine ursprüngliche Stelle paßte. Aber wie es befestigen? Es war nicht aus Harz oder Lack, die Flamme des Öllämpchens also keine Hilfe. Debora versuchte es mit Speichel, doch der Ton war längst zu trocken. In der Not fiel ihr nichts Besseres ein, als es mit einer Fingerspitze Mehl aus Miriams Vorratskrügen zu versuchen. Wenigstens bis morgen oder übermorgen mußte es halten! Sie rieb den Brei aus Speichel und Mehl unter das halbe Tonsiegel und preßte es mit den Handballen ein Weilchen zusammen. Dann ließ sie vorsichtig los. Dem Himmel sei Dank, es hielt! Unsicher schob Debora die Papyrusrolle zurück in die Botentasche, die sie neben der Versorgungstasche von Thomas verstaute. Im flackernden Lichtschein hatte sie auf dem Grund der Tasche funkelnde Geldstücke gesehen. Viel mußte der reichen Tante Angela daran gelegen haben, ihren Boten auf dem schnellsten Wege zu Bruder Samuel zu schicken. Und Samuel, dachte Debora, ist unser Vormund. Er wird eine Entscheidung fällen müssen.

    »Gütiger Gott, entscheide Du und laß auch mich in dieser Nacht fest schlafen.« Sie löschte die Ölflamme, und plötzlich fürchtete sie sich.


    Debora verbrachte die Nacht überwiegend schlaflos, nur für Minuten sackte sie in wilde Träume ab, aus denen sie um so ratloser wieder aufwachte. Nun gut, sie hatte sich von einer ihr jetzt unheimlichen Neugier verleiten lassen, einen fremden Brief zu lesen. Sie hatte erfahren müssen, daß es in dem Brief unter anderem auch um sie und ihren Bruder Tobija ging, um Koras Kinder. Durch ihre Mutter war sie mit der Absenderin des Briefes verwandt, doch nie hatte Debora den frühzeitigen Verlust der Mutter so schmerzlich empfunden wie in dieser Nacht! Mit ihr hätte sie jetzt offen sprechen, ihre Neugier, den Verrat an der Vertrauensseligkeit anderer, beichten können, aber ihre Mutter war seit zwei Jahren tot. Und Tobija, der sich gerade durchgerungen hatte, zu den Fischern in die Lehre zu gehen und der so impulsiv reagieren konnte, ihm durfte sie sich nicht anvertrauen.

    Unruhig wälzte sie sich hin und her, und ein Entschluß wuchs in ihr und stand bis zum Morgen fest: Sie würde dabei sein wollen, wenn Samuel diesen Brief aus Alexandria erhielt und ihn öffnete. Sie mußte wissen, ob er bemerkte, daß der Papyrus geöffnet worden war! Allein deshalb wollte sie darauf bestehen, den jungen Boten aus Ägypten zu begleiten, wenn er Samuel entgegenziehen wollte. Debora sah die Sterne bereits verblassen, als sie noch einmal und endlich tiefer einschlief. Sie würde den Schlaf brauchen, um ihre Absicht durchzusetzen.

    Auf der Suche

    Pünktlich wie jeden Morgen vor Sonnenaufgang krähten Miriams Hähne. Schlagartig wurde es auf den zwei Flachdächern munter. Tobija fiel auf, daß seine Schwester, sonst als erste auf den Beinen, fest weiterschlief, ausgerechnet an einem für ihn wichtigen Tag. Er rüttelte sie an der Schulter:

    »He, Debora, aufwachen! Soll das ein Spaß sein, Schwesterchen?« Nur mühsam kam sie zu sich, blinzelte ihn sekundenlang verständnislos an, um im nächsten Augenblick zu fragen:

    »Ist er schon weg? Ich muß mit ihm!«

    Tobija lachte arglos:

    »Ich bin noch nicht fort, natürlich gehst du mit mir zu den Fischern, wenigstens beim ersten Mal!«

    »Wieso mit dir? Der Bote aus Ägypten – mit ihm muß ich gehen, Samuel entgegen. Er ist doch noch da?«

    »Wie kommst du auf sowas? Er ist ein Bote, also erfahren mit Straßen und Wegen. Außerdem kennt er Samuel…« Sie hatte sich schnell aus ihrer Schlafdecke gewickelt, den Gürtel um die Tunika gelegt und lief bereits die schmale Treppe hinab in den Hof. Tobija blickte ihr verblüfft nach. Wie konnte Debora, eben noch in tiefstem Schlaf, zu einem derartigen Entschluß kommen? Thomas begleiten! Etwas mußte vorgefallen sein, und er, ihr engster Vertrauter, hatte es nicht bemerkt. Obwohl sie wußte, was dieser Tag für ihren Bruder bedeutete, schien ihr etwas anderes wichtiger zu sein – plötzlich war er alarmiert und rannte hinter ihr her nach unten. Auf der letzten Treppenstufe hielt Sebastian ihn auf:

    »Was ist los? Erst rast Debora ohne Gruß und Kuß an uns vorbei… Solltet ihr nicht längst im Hafen bei den Fischern sein? Sie werden vom Fang zurückkehren und…«

    »Und Debora hat es verschlafen! Ja, ich auch. Sie will mit dem Boten nach Joppe gehen! Wißt ihr davon? Ausgerechnet heute!«

    Vom Hof her hörte sie Debora mit Thomas reden, den sie wohl eben erst geweckt hatte, denn seine Stimme klang verschlafen, und er gähnte mehrmals laut. Kopfschüttelnd fragte Vater Sebastian:

    »Warum will Debora mit dem Boten gehen? Hat sie dir das gesagt, Tobija?«

    »Kein Wort.«

    »Laß mich den Gast zum Frühstück hereinbitten, vielleicht ist ja alles nur ein Hirngespinst.«

    Nein, es war kein Irrtum. Ihre Begründung, warum sie den Boten begleiten wollte, klang halbwegs einleuchtend:

    »Ich weiß, in welchen Gehöften und Zelten, bei welchen Freunden er einkehrt, das weiß Thomas nicht. Also wird er mich brauchen können.« Natürlich hielten sie ihr dagegen: »Unmöglich, daß ein junges Mädchen allein mit einem fremden Mann fortgeht!« Selbst Thomas sagte ihr das. Schweigend hörte Tobija eine Weile zu. Es wirkte absolut launenhaft und unvernünftig, wie sich Debora an diesem Morgen aufführte, das paßte nicht zu ihr. Allein, daß sie die besondere Bedeutung dieses Tages für den Bruder völlig zu vergessen schien, obwohl sie deswegen allesamt gestern abend gefeiert hatten – nein, das paßte nicht zu ihr. Ihm entging nicht, daß auch Miriam das normalerweise vernünftige Mädchen mit eigenartigem Gesichtsausdruck beobachtete – nachdenklich, ahnungsvoll. Zwei, dreimal glitten ihre Blicke zu der Sitzbank, unter der die beiden Taschen des Boten über Nacht verwahrt worden waren. Schließlich bückte sich Miriam, zog die Taschen hervor und legte sie auf die Steinbank. Augenblicklich verstummte Deboras Redeschwall. Das hätte verräterisch wirken müssen, hätte nicht sofort Miriam das Wort ergriffen. Sachlich stellte sie fest:

    »So oder so müssen wir die Versorgungstasche mit neuem Proviant füllen. Bringt Brot her, Kinder, und von dem frischen guten Käse. Und Äpfel!« Debora fand die Sprache wieder:

    »Meinen Vorrat trage ich selber im Beutel. Ich brauche nicht so viel wie ein Mann.«

    »Damit dürften wir meinen ersten Lehrtag bei den Fischern wohl abschreiben?« meldete sich nun Tobija zu Wort. »Denn natürlich kann ich, als älterer Bruder, meine Schwester nicht allein mit einem Fremden ziehen lassen. Das ist wohl klar, oder? Ich gehe mit.« Fragend blickte er sich um. Miriam und Sebastian sahen sich ratlos an, als liefe etwas schief, das sie im Grunde zu verantworten hatten, und Sebastian fragte Tobija schließlich:

    »Macht es dir so wenig aus, die Fischerei immer wieder auf die lange Bank zu schieben?«

    In Wirklichkeit fühlte sich Tobija ausgesprochen erleichtert über die nochmalige Galgenfrist, doch mochte er seinen Pflegevater nicht enttäuschen. Ausweichend antwortete er:

    »Wir gehen am Hafen vorbei und geben Bescheid.«

    »Welchen Bescheid?«

    »Daß etwas Unerwartetes dazwischengekommen sei. Familienangelegenheiten werden wir sagen. So genau geht es keinen etwas an. Wer weiß, was in dem eiligen Brief aus Alexandria steht? Vielleicht wird Samuel sogar froh sein?«

    »Also dreimal Wegzehrung«, schnitt Miriam weiterem Palaver das Wort ab, »und jetzt laßt uns das Frühstücken nicht vergessen. Möchtest du das Morgengebet sprechen, Thomas?«

    Der überrumpelte Gast schüttelte etwas hilflos den Kopf. Mit halb erhobenen Händen reihte er sich in die Tischrunde ein und lauschte mit gesenktem Gesicht, als Vater Sebastian mit den Psalmworten begann:

    »Wie schön ist es, dem Herrn zu danken, deinen Namen, du Höchster, zu singen, am Morgen deine Huld zu verkünden und in den Nächten deine Treue…«


    Thomas schien auch nach zwei Stunden noch unschlüssig, ob er sich über die beiden Weggefährten freuen oder ärgern sollte. Wenigstens waren sie in Fußmärschen geübt und hielten mit ihm Schritt. Bis Joppe waren es fast zwei Tagesmärsche, da jetzt, im brütenden Hochsommer, eine ausgiebige Mittagsrast dringend notwendig wurde. Askalon samt seinem Hafen lag bald hinter ihnen.

    »Die Fischer«, meinte Thomas, »schienen nicht gerade auf dich gewartet zu haben, Tobija. Oder täusche ich mich?«

    »Es stört mich nicht, wenn diese Analphabeten über mich spotten. Einen Lehrling, der sieben Jahre lang Lesen, Schreiben, Sprachen, die Rechenkunst und manches andere studierte – auf so einen haben sie sowieso nicht gewartet.«

    »Nicht zu vergessen die heiligen Schriften«, warf Debora ein, »und ich durfte alles mit ihm lernen. Unsere Eltern wollten es so, besonders unsere Mutter. Sie war nämlich sehr gebildet, hatte in Alexandria sogar die berühmte christliche Katechetenschule besucht. Ja, die reichen Tanten ließen sie erstklassig erziehen, ihre einzige jüngere Verwandte. Leider ist sie nur zweiunddreißig Jahre alt geworden, ein Jahr älter als unser Vater.«

    »Simon ist also ertrunken?« fragte Thomas.

    »Das ist auch so etwas«, fiel Tobija lebhaft ein, »das die Fischer an mir nicht mögen. Daß mein Vater ebenso wie mein Großvater ertrunken ist. Als klebte Unglück an uns, verstehst du?«

    »Das bildest du dir ein«, protestierte Debora, »die meisten Fischerfamilien in Askalon haben Tote im Meer zu beklagen!«

    Thomas spürte, daß die Geschwister deswegen uneins waren, und er versuchte schleunigst abzulenken:

    »Wieso hat eigentlich die reiche und hochgebildete Erbin Kora aus Alexandria einen Fischer aus Askalon geheiratet? Sie muß wohl noch ziemlich jung gewesen sein!«

    »Neunzehn, kein bißchen zu jung. Und was für eine Frage: Natürlich heirateten sie, weil sie sich liebten!«

    »Natürlich. Sie liebten sich. Seht ihr eurer Mutter ähnlich?«

    »Debora«, sagte Tobija, »das sagen alle, die unsere Mutter kannten.«

    »Also war sie nicht nur reich und gebildet, sondern obendrein sehr… mh, also, sagen wir, sehenswert?«

    »Sie war schön!« belehrte ihn Tobija, dessen Schwester den Kopf plötzlich gesenkt hielt. »Sie war so schön, daß sie unserem Vater auf der Stelle auffiel, als er einmal bis nach Alexandria gelangte! Das Nildelta zählt nicht gerade zu den Fanggründen judäischer Fischer. Die Ägypter würden sich das auch verbitten. Dort muß es ja bunt zugehen. Warst du schon öfter im Delta, Thomas?«

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