Die kleinen Geheimnisse
Von Eva Rechlin
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Buchvorschau
Die kleinen Geheimnisse - Eva Rechlin
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Mama an July
Haleberg
Mein liebes Kleines, Du bist hoffentlich wieder gut im Internat angekommen. Nur Deine Mundharmonika hast Du hier bei mir liegengelassen, und ich fürchte, Du wirst sie in dieser Woche sehr vermissen.
Aber ich wollte Dir heute ja aus einem ganz anderen Grund schreiben. July, Dich quält irgend etwas. Ich habe es Dir schon angemerkt, als Du am Sonnabend hier ankamst, und ich mache mir deshalb Sorgen. Du mußt Dich unbedingt davon befreien. Sieh mal: wenn Dir einer helfen will und vielleicht sogar auch kann, dann ist es Deine Mama. Ich bin auch einmal ein kleines dreizehnjähriges Mädchen gewesen, womöglich habe ich auch einmal so festgesessen wie Du jetzt. Schreibe mir bald darüber, wenn Du kannst oder magst.
Den beiliegenden Brief gib bitte an Sibylle weiter. Vielleicht ist es wichtig, wenn ich daran erinnere, daß Sibylle Deine Schwester ist, die — weil sie immerhin vier Jahre älter ist als Du — in manchen Dingen auch mehr Erfahrung hat, weshalb Du ihr notfalls Dein Vertrauen schenken solltest. Manchmal tut es mir weh, daß ich nicht jeden Tag bei Euch sein kann. —
July an Mama
Landschulheim Brigg
Ich habe sehr lange nachgedacht, Mama, und ich finde, daß Du sehr gescheit bist. Wie hast Du mir das bloß angesehen? Darüber habe ich am längsten nachgedacht.
Ich bin froh, daß ich Dir schreiben kann. Dann brauch’ ich mich nicht so zu schämen. Aber Du darfst nicht böse sein, Mama, wenn ich Dir noch nicht alles erzähle. Es ist nämlich ein Geheimnis, welches noch nicht fertig ist. Und solange es noch nicht fertig ist, kann ich es Dir auch noch nicht erzählen. Du sollst Dir keine Sorgen machen, wenn ich schlecht aussehe. Manche Leute sehen auch ohne Geheimnisse schlecht aus. Ich würde Dir sehr gern schon alles erzählen, aber es geht wirklich noch nicht. Trotzdem kannst Du mir helfen. Du brauchst mir ja nur zu erlauben, daß ich das bestickte Kleid von Tante Agnes auch mal wochentags zum Unterricht anziehen darf. Nur dienstags und donnerstags, Mama! Für sonntags ist es auch viel zu schade, denn gerade sonntags, wenn ich manchmal bei Dir bin und im Garten spiele und so, mache ich mich meistens schmutzig. Jedenfalls viel mehr als in der Schule. Sibylle zieht sich sonntags ja auch nicht hübsch, sondern komisch an und trägt die guten Kleider hier immer zum Unterricht. Ich will ja nicht petzen, aber es ist nun mal so. Du kannst auch nicht von mir verlangen, daß ich mit meinem Geheimnis zu Sibylle gehe. Sie ist gar nicht der richtige Umgang für mich, und wenn sie zehnmal meine Schwester ist! Außerdem wohnt sie auch drüben im Neubau bei ihren Klassenkameradinnen, und wenn ich mal rübergehe zu ihr, damit sie mir bei den Schularbeiten hilft, sagen die Mädchen immer: »Sibylle, da kommt deine Kleine!« Und dann behandeln sie mich, als wären sie meine Tanten. Sibylle am meisten. Muß ich mir das gefallen lassen? Nein, Mama, das sind ganz andere Menschen als ich, und sie haben auch ganz andere Geheimnisse. Das Geheimnis von Sibylle zum Beispiel heißt Pit. Mehr kann ich Dir darüber aber nicht sagen, denn Du kannst ja nicht von mir verlangen, daß ich petze.
Viele Grüße! Deine July
PS Es ist sehr wichtig für meine Sorgen, daß ich das bestickte Kleid im Unterricht anziehen darf! Siehst Du das ein, Mama? Du mußt es einsehen, wenn ich glauben soll, daß Du mir helfen willst.
July
Mama an July
Haleberg
Also gut, mein Liebes: Du darfst das Kleid tragen, wann und wo immer Du willst. Dein innerer Friede soll nicht von einem Kleidchen abhängen. Und wenn das so wichtig ist, daß Du es tragen darfst, wirst Du wohl auch darauf achtgeben, daß es sauber und heil bleibt. Natürlich mache ich mir Gedanken um Dein Geheimnis, seitdem ich weiß, daß es so was in Deinem Leben schon gibt. Ich wünschte, es wäre ein schönes Geheimnis. Aber gib ihm trotzdem nicht so viel Raum, daß Du alle anderen Dinge darüber vergißt. Sonst scheitert das, was schön an ihm ist, vielleicht an Deiner Sorglosigkeit. Alle Dinge, die man lange in sich verschließt, werden mit jedem Tag schwerer, wenn man sie mit zu vielen Gedanken belastet. Du mußt Dir rechtzeitig überlegen, wieviel Schwere Du Dir zumuten kannst. —
Warum bist Du eigentlich so kratzbürstig gegen Sibylle? Weil sie älter ist? Weil ihre Geheimnisse größer sind? Natürlich ist es nicht recht, daß die Mädchen Dich wie Tanten behandeln. Daran kannst Du aber am besten erkennen, daß man auch mit siebzehn Jahren das Maß aller Dinge noch nicht beherrscht. Sie sind anders als Du, Julykind, weil sie fühlen, daß sie bald erwachsen sein werden. Das ist ein verwirrender Zustand, dessen Bekanntschaft Du ja auch einmal machen wirst, nach dem Du Dich jetzt aber wahrhaftig noch nicht zu sehnen brauchst und um den Du die Mädchen nicht beneiden solltest. Man muß warten können. Ich weiß nicht,wie oft ich Dir das noch sagen werde.
Übrigens: Pit ist mir kein fremder Begriff. Er ist ein netter großer Junge, der Sibylle gern mag und den sie gern mag. Wenn ich mich nicht irre, ist er sogar Sibylles Klassenkamerad, geht manchmal mit ihr segeln und will — ebenso wie sie — Kunstmaler werden. Stimmt es? Und da hast Du auch gleich die Auffassung Deiner Mama zu solcherart Geheimnissen: Manche Dinge sind viel zu selbstverständlich schön, um durch Geheimniskrämerei getrübt werden zu dürfen. Doch gibt die Scheu, vor aller Welt darüber zu sprechen, den Dingen ihre liebenswerte Farbe. Schreib fleißig weiter, mein Liebes, an Deine Mama.
July an Mama
Landschulheim Brigg
Ach Mama — Du kannst ja aus dieser Entfernung nicht sehen, daß ich immer schlechter aussehe. Obwohl nur dreißig Kilometer zwischen uns liegen. Es ist sehr schwer, ein Mädchen zu sein. Manchmal denke ich, wie schön es sein könnte, wenn ich ein Junge wäre. Schon wegen der Hosen. Mit Hosen lebt es sich viel bequemer. Aber ich will nicht klagen, denn Du kannst ja sicher auch nichts dafür.
Übrigens wollte ich Dir noch dafür danken, daß ich das Kleid von Tante Agnes anziehen durfte. Die Mädchen haben alle sehr geguckt, als ich es mitten in der Woche aus dem Schrank nahm, und als ich nachher in die Klasse kam, habe ich meinen Atlas auf die Bank gelegt und mich darauf gesetzt, damit das