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Tinas Tagebuch
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eBook309 Seiten4 Stunden

Tinas Tagebuch

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Über dieses E-Book

Tina ist erst 15 Jahre alt, hat aber schon mehr hinter sich, als andere Menschen in ihrem ganzen Leben. in den achtziger Jahren aufgewachsen in einer Familie, in der wenig Liebe, dafür umso mehr Druck, Schelte und Schläge, ja sogar Missbrauch Praxis waren, landet sie bereits mit elf Jahren in einem Heim. Die Kälte, die täglichen Demütigungen in der Familie und die schwere Zeit im Heim führen schließlich zu Leistungsverweigerung, Bindungsunfähigkeit, Aufsässigkeit und Hass, der sich gegen jeden und alles zu richten scheint.
Das Leben des Mädchens schien somit vorgezeichnet; nachdem eine Reintegration in die Familie nach einigen Jahren Heimaufenthalt scheitert, scheint jedoch Rettung in Form der "Schutzhilfe" zu kommen.
Hierbei handelt es sich um eine ambulante Betreuungsform, in deren Rahmen ein Sozialarbeiter des Jugendamtes das inzwischen fünfzehnjährige Mädchen in einer eigenen Wohnung fast fünf Jahre lang begleitet.
Auf der Oberfläche dieser Komponenten spielt sich das Leben der Jugendlichen ab.
In Tagebuchform schildert die junge Frau, was sie in den knapp fünf Jahren bei der Schutzhilfe erlebt. Sie lässt den Leser daran teilnehmen, wie sie die Einsamkeit des Alleinwohnens meistert, wie sie die sexuellen Missbräuche verkraftet und was aus ihren Beziehungen mit Freunden wird. Sie verdeutlicht den komplizierten Umgang mit anderen betroffenen Jugendlichen und die Interaktion in einem zunächst ungeliebten Gruppengeschehen. Viel Raum nimmt zuletzt die konfliktgeladene Beziehung zu ihrem langjährigen Betreuer ein.
"Tinas Tagebuch" zeigt schildert eine bewegende Geschichte von Hass, Wut, Beziehungsängsten, Einsamkeit, Missbrauch, aber auch den Kampf eines Sozialarbeiters um ihr Vertrauen und zuletzt ihren eigenen verzweifelten Kampf um ihre Zukunft.
Die vorliegende Geschichte basiert auf mehreren Biografien junger Menschen, die dem Autoren während seiner fünfundzwanzigjährigen Karriere im Umfeld der "Schutzhilfe" begegnet sind.. und könnte sich durchaus so abgespielt haben.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum13. Apr. 2019
ISBN9783748590491
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    Buchvorschau

    Tinas Tagebuch - Manfred Siebler

    Exposé

    Tinas Tagebuch

    Tina ist erst 15 Jahre alt, hat aber schon mehr hinter sich als andere Menschen in ihrem ganzen Leben. in den achtziger Jahren aufgewachsen in einer Familie, in der wenig Liebe, dafür umso mehr Druck, Schelte und Schläge, ja sogar Missbrauch Praxis waren, landet sie bereits mit elf Jahren in einem Heim. Die Kälte, die täglichen Demütigungen in der Familie und die schwere Zeit im Heim führen schließlich zu Leistungsverweigerung, Aufsässigkeit und Hass, der sich gegen jeden und alles zu richten scheint.

    Das Leben des Mädchens schien somit vorgezeichnet; nachdem eine Reintegration in die Familie nach einigen Jahren Heimaufenthalt scheitert, scheint jedoch Rettung in Form der „Schutzhilfe" zu kommen. Hierbei handelt es sich um eine ambulante Betreuungsform, in deren Rahmen ein Sozialarbeiter des Jugendamtes das inzwischen fünfzehnjährige Mädchen in einer eigenen Wohnung fast fünf Jahre lang begleitet.

    Auf der Oberfläche dieser Komponenten spielt sich das Leben der Jugendlichen ab.

    In Tagebuchform schildert die junge Frau, was sie in den knapp fünf Jahren bei der Schutzhilfe erlebt. Sie lässt den Leser daran teilnehmen, wie sie die Einsamkeit des Alleinwohnens meistert, wie sie sexuelle Missbräuche verkraftet und was aus ihren Beziehungen mit Freunden wird. Sie verdeutlicht den komplizierten Umgang mit anderen betroffenen Jugendlichen und die Interaktion in einem zunächst ungeliebten Gruppengeschehen. Viel Raum nimmt zuletzt die konfliktgeladene Beziehung zu ihrem langjährigen Betreuer ein.

    „Tinas Tagebuch" schildert eine bewegende Geschichte von Hass, Wut, Beziehungsängsten, Einsamkeit, Missbrauch, aber auch den Kampf eines Sozialarbeiters um ihr Vertrauen und zuletzt ihren eigenen verzweifelten Kampf um ihre Zukunft.

    Die vorliegende Geschichte basiert auf mehreren Biografien junger Menschen, die dem Autoren während seiner 25-jährigen Karriere im Umfeld der „Schutzhilfe" begegnet sind.

    Prolog

    Ich bin fünfzehn Jahre alt.

    Ob mich einmal jemand gewollt hat, weiß ich nicht, trotzdem gibt es mich.

    Keiner liebt mich, aber ich lebe.

    Weil das so ist, muss ich mich bemerkbar machen.

    Dafür bleibt mir nur der aggressive Weg - sollte es einen anderen, einen erfreulichen Weg geben, bleibt er mir bisher verborgen.

    Was in meinem Leben so schlimm ist? Vielleicht der Vater, der nicht gelernt hat, was eine Familie ausmacht. Oder die Mutter, die sich die letzten Hirnzellen wegsäuft. Oder vielleicht die drei ruppigen Brüder, die nur sich kennen und gerne auf eine Schwester verzichten würden. Aber immerhin hat sie Brüste.

    Diese „Familie" schleppte mich durch, bis ich elf Jahre alt war.

    Danach hatten sie keinen Bock mehr, sich mit mir herumzuärgern. Mein ständiges NEIN und Ausbrechen von deren Vorstellungen brachte alle zum Verzweifeln.

    Keine Verbote, kein Einsperren, nicht einmal Schläge oder an den Haaren durch die Küche ziehen brachten ein liebes, angepasstes Mädchen zustande. Komisch, was?

    Das Unvermögen brachte meine Alten dazu, das Jugendamt einzuschalten.

    Ergebnis: eine Elfjährige wird ins Heim gesteckt.

    Was blieb mir anderes übrig als komplett aufzudrehen?

    Nach vier Jahren komme ich jetzt zurück. Und meine Familie kann sich auf etwas gefasst machen…

    Kapitel 1

    Wieder bei den Eltern

    Hier schreibe ich zum ersten Mal in mein Tagebuch, es ist der 3. März 1983, aber ich will schon ab dem 1. Februar ‘83 berichten.

    Jetzt habe ich die Scheiße: Vom Heim rausgeschmissen, zu Hause eingesperrt.

    War's dann nicht noch im Heim besser als hier unter der mich ständig beobachtenden, völlig gestörten Mutter?

    Seit ich wieder zu Hause bin, darf ich nicht mehr alleine weggehen und bin nur noch in der versifften Wohnung, und das mit ganzen fünfzehn Jahren! Eigentlich doch schon fast erwachsen!

    Seit ich zum ersten Mal meine Tage hatte, faselt meine Alte ständig was von Kinderkriegen, wenn ich nicht aufpasse, und all so einen Scheiß. Hätte sie mir lieber gesagt, was ich tun soll, wenn ich Blutungen bekomme, und was das für mich bedeutet.

    Stundenlang stehe ich am Fenster meines Zimmers und schaue auf den Sportplatz, der sich direkt hinter unserem Haus befindet.

    Mein Zimmer?

    Eigentlich ist das gar nicht mein Zimmer, sondern das Esszimmer; mir gehört nur das Klappbett, und das auch nur abends, wenn es ausgeklappt ist.

    Meine Klamotten sind in einer Vitrine, die ganz klein ist mit Glastüren, sodass man alles sehen kann. Die gläserne Tina, das ist doch ein guter Vergleich, oder?

    Was sich auf dem Platz abspielt, wenn ich aus dem Fenster schaue, sind mal ein paar kickende Jungs, mal eine Mannschaft vom Verein. Aber was bringt mir das? Wo ich Sport sowieso nicht leiden kann.

    Meine Mutter säuft den ganzen Tag über einen Wodka nach dem anderen. Damit wir nichts merken, hat sie das Zeug in eine Wasserflasche gefüllt und zu dem Spülmittel unter der Spüle gestellt.

    Obwohl ich mich den ganzen Tag fast ausschließlich in meinem „Esszimmer" aufhalte, bilde ich mir ein, es sei mein Zimmer.

    Gleich am ersten Tag nach dem Heim habe ich meine „Alte" beobachtet, wie sie den Schnaps in die Wasserflasche abgefüllt, versteckt und die leeren Flaschen zum Müll gebracht hat.

    Jetzt ist mir schon klar, warum sie so schnell ausflippt und dann herumtobt ohne Ende.

    Meist habe ich das Klappbett aufgeklappt, meine Mutter will das nicht, doch ich mache ja immer meine Zimmertüre zu, sodass sie es nicht dauernd vor Augen hat. Dann lege ich mich auf das Bett, mache die Augen zu und höre Heavy Metal. Das bringt mich weg von der Scheiße hier. Möglichst laut aufdrehen, das zieht so richtig rein.

    Meiner Mutter ist das immer zu laut, sie rennt dann zu mir ins Zimmer, wie von Furien gehetzt, und dreht die Musik leiser. Die anderen im Haus hätten schon bei dem Vermieter angerufen und sich beschwert.

    „Lungere nicht immer da herum und mach was", das war dann ihr Kommentar. Was ich machen soll, sagt sie aber nicht. Raus darf ich nur mit Struppi, unserem Rauhaardackel. Und das auch nicht länger als eine halbe Stunde, sonst gibt’s Stress mit ihr. Was soll ich also groß machen außer herumlungern?

    Wenn ich die Lautstärke aufdrehe und die Bässe das Glas der Vitrine erzittern lassen, finde ich das richtig geil. Das baut mich immer wieder so richtig auf….

    Als meine Alte vor ein paar Tagen einkaufen ging, schraubte sie die Sicherungen heraus und nahm sie mit, damit ich keine laute Musik machen konnte. Aber ohne mich! Ich drehte einfach vom Nachbarn die Sicherungen heraus, schraubte sie bei mir wieder ein, und dann ließ ich’s richtig krachen.

    Als die Mutter zurückkam, traf sie die Nachbarin, die bei der Wohnungsgesellschaft angerufen hatte, damit die den Hausmeister schickt zum Nachsehen, warum sie keinen Strom hat. Bei der Gelegenheit beschwerte sie sich gleich wegen meines lauten Gedröhnes.

    Meine Mutter hat gleich gemerkt wie der Hase lief, als sie ihre Sicherungen wieder eindrehen wollte.

    „Du hast jetzt gleich mal zwei Wochen Hausarrest bei dem Scheiß, den du wieder gebaut hast", brüllte sie wutentbrannt.

    Ob die sich selbst zuhört? Hausarrest, wo ich doch sowieso hier eingesperrt bin!

    „Du kannst mich mal am Arsch lecken, du miese Schnapsdrossel!", schrie ich zurück.

    Da rannte sie hinter mir her und wollte mich wieder schlagen, aber ich hielt die Tür zu „meinem Zimmer" von innen zu – und nichts wurde es mit dem Verprügeln.

    11.02.1983

    Mit der alten Schnapsdrossel bin ich natürlich noch nicht genug gestraft, ich muss auch noch drei Brüder haben. Sie heißen Peter, Georg und Hans. Nachmittags ist es dann nicht mehr so langweilig, da kommen meine Brüder von der Schule.

    Georg ist in der siebten Klasse Hauptschule und muss, wie mein Bruder Peter, jeden Tag ins Nachbar-Kaff fahren, da es bei uns nur eine Grundschule gibt.

    Peter ist schon einmal sitzen geblieben und geht jetzt in die neunte Klasse.

    Mein dritter Bruder Hans war schon vor Mittag hier, seine Grundschule ist bei uns im Dorf und heute ist die letzte Stunde ausgefallen.

    Mit den Dreien verstehe ich mich nicht so richtig, die verpetzen alles der Mutter; die glaubt alles, und hackt dann auf mir herum. Auch werden sie immer als Spione eingesetzt, um hinter mir her zu spionieren. Aber es ist immer noch besser, mit denen zu streiten, als mit der Mutter zu reden. Die ist mir einfach zu dumm, die Alte.

    Jetzt habe ich meine Kleider alle in die Vitrine eingeräumt, nachdem ich sie tagelang im Koffer hatte. Beim Einräumen merkte ich, dass ich fast nichts Neues habe. Alles altes Zeug und keine Markenklamotten. Das passt zu mir. So unscheinbar und nichtssagend wie ich selbst sind auch meine Kleider. Wenn ich meine Haare nicht jeden Tag waschen würde, fortlaufend bürsten und lang auskämmen, hätte ich überhaupt nichts, was mich ausmacht. Ich trage sie in der Mitte gescheitelt, sie sind glatt und braun und gehen mir bis auf die Schultern, der Pony verdeckt meine Augen fast ganz und ich kann mich gut dahinter verstecken. Meine Nase finde ich zu dick, die Lippen zu schmal, alles Mist. Meine drei Brüder sind größer als ich, aber ich bin immer noch größer als meine Mutter. Meine Brüste finde ich eher zu groß, im Heim musste ich sie immer verteidigen, die Jungs wollten immer anfassen. Alles Schweine. Meist trage ich Hosen und einen Strickpulli, hat alles die Frau gekauft, die meine Mutter ist. Also zusammengefasst: ich bin außen wie innen eine Niete. Wer sollte mich da auch lieben? Kein Schwein. Wie soll ich da jemandem auffallen, einem Kerl, der was bringt? Vielleicht bekomme ich meinen Vater dazu, etwas Kohle rausrücken, mir wenigstens das Geld für zwei oder drei Teile zu geben, damit ich mir was Schönes zum Anziehen kaufen kann. Aber der ist ja ein Ausländer. Der ist zwar schon lange Zeit in Deutschland, aber trotzdem nimmt er den Deutschen die Arbeitsstelle weg. Wir haben doch schon genug Arbeitslose und wenn die vom Ausland noch alle kommen, haben wir selbst keine Arbeitsstellen mehr.

    Dauernd erzählt er mir, wie die Kinder in Rumänien leben, und dass ich meine Ansprüche endlich herunterschrauben soll. Wenn der abends nur früher nach Hause käme! Es ist immer so zehn oder elf Uhr und dann ist er in seinem Suff nicht mehr ansprechbar. In der Kneipe kann ich auch nicht mit ihm sprechen, denn da ist er ja angeblich nicht. Er sagt dann immer, er müsste so lange schaffen, dabei wissen wir ja alle, dass das nicht stimmt. Vielleicht geht’s am Sonntag, wenn er vom Frühschoppen zum Essen nach Hause kommt. Dann haue ich ihn an für Klamottengeld. Mal sehen.

    Was ich mir sonst noch kaufen müsste, wären Shampoo, Duschgel, einen neuen Kamm – und überhaupt habe ich fast nichts mehr an Kosmetikartikeln, seit ich aus dem Heim weg bin. Entweder wurde es dort geklaut oder ich hab es verschenkt. Mit Nichts, was mit einem Heim zu tun hat, will ich auf Lebzeiten nochmal etwas zu tun haben. Vor allem will ich keine Nonne mehr sehen, solange ich lebe, diese falschen Schlangen! Das werde ich mir nie mehr antun. Aber Geld bekomme ich hier so schnell keines. „Dein Vater verdient nicht viel, es reicht ja kaum zum Essen Kaufen", das ist immer die gleiche Antwort, wenn ich was von der Alten will. Aber für andere Dinge reicht es immer, oder wo kommt der Schnaps her?! Auf jeden Fall muss ich an Kippen rankommen; schon so drei Jahre rauche ich, ohne dass die Eltern es wissen. Ein Fünfmarkstück werde ich der Alten schon aus dem Geldbeutel klauen können. Ich muss nur höllisch aufpassen, dass sie mich nicht dabei erwischt.

    12.02.1983

    Heute habe ich endlich alles eingeräumt und das Zimmer sauber gemacht. Danach ging's ab in die Wanne. Das war richtig geil, das warme Wasser, der Schaum, und jetzt hätte ich nur noch eine Zigarette gebraucht. Aber das ging ja leider nicht. Als wüsste die Alte, was ich vorhabe, gibt sie mir keine Gelegenheit, an ihren Geldbeutel zu kommen.

    Plötzlich ging die Tür auf und Peter kam herein, eigentlich war er ja zu der Zeit in der Schule, weiß Gott warum der jetzt da war.

     „Raus aus dem Bad, du Depp", rief ich ihm zu.

    „Ich muss nur schnell pinkeln und bin dann wieder weg. Was soll ich dir denn weg glotzen?"

    „Du sollst sofort die Fliege machen, hättest in der Schule gehen können!"

    „Scheiße", sagte er und ging laut schimpfend raus.

    Der nervte noch eine ganze Weile, doch ich ließ mir Zeit.

    Als ich aus dem Bad kam, machte mich meine Mutter total dreckig an: „Du kannst den Jungen doch nicht so lange warten lassen, der pisst sich doch die Hose voll. Du stellst dich an wie die Prinzessin auf der Erbse. Mit dir werd‘ ich noch verrückt, du Miststück. Das ist doch schließlich dein Bruder!"

    „Bis ich den Arsch reinlasse, kannst du lange warten. Der glotzt immer so, als ob es bei mir was zu sehen gibt."

    „Peter schaut dir schon nichts ab."

    So ging das hin und her und ich hätte ihr fast noch gesagt, dass Peter sich danach bloß noch einen runterholt, wenn er mich nackt in der Wanne sieht. Aber ich ließ es bleiben, sonst dreht die mir noch ganz durch.

    04.03.1983

    Heute ist Freitag und ich bin schon den ganzen Tag hibbelig, ich muss raus aus diesem Knast, wo einem jeder auf den Sack geht. Die Alte hat sich schon wieder zugedröhnt, Peter und Georg sind bei irgendwelchen Kumpels, Hans spielt im Kinderschlafzimmer, obwohl da eigentlich kein Platz zu Spielen ist, schließlich schlafen da alle drei Jungs, und Vater ist, wie immer, nicht hier. Jetzt habe ich fast den ganzen Monat nichts geschrieben. Alles so trostlos, nichts läuft, und ich bin jeden Tag der Bande von Familie ausgeliefert, die alle gegen mich sind. So viel Arschlöcher um mich herum, wie soll ich das auf Dauer aushalten? Nur Struppi hält zu mir. Und ihm habe ich es zu verdanken, dass der heutige Freitag mein Glückstag ist. Aber der Reihe nach.

    „Kann ich mit Struppi Gassi gehen?, fragte ich die Alte. „Ja, aber nicht wieder ewig wegbleiben, antwortete sie mir. Jetzt endlich: Ein schneller Griff in den Geldbeutel und zack, fünf Mark ergattert. Struppi bellte die ganze Strecke bis zur Kneipe, wo mein Alter saß und sich volllaufen ließ. Mich konnte er nicht sehen, weil der Zigarettenautomat im Gang der Kneipe hängt. Vor der Kneipe, direkt am Eingang, lehnte sich so ein Typ gegen den Rahmen, schwarzhaarig, lange gepflegte Haare, mit Gel nach hinten gekämmt lagen die eng an und glänzten ganz toll. Richtig toll… Ich musste unbedingt mit ihm ins Gespräch kommen und fragte ihn, ob er mir Feuer geben könnte. Er hatte ein Feuerzeug, das man ganz einfach und lässig mit dem Daumen bedienen kann. Der erste Zug seit dem Heim, das war sooo entspannend.

    „Du von hier", fragte er mich in gebrochenem Deutsch.

    Mein Herz rutschte schlagartig in meine Hosentasche, der sprach doch tatsächlich mit mir.

    „Ja, gehe mit Struppi raus. Damit der kacken kann", sagte ich zu ihm. Hab ich das wirklich gesagt?! Peinlicher ging es ja nicht mehr.

    Aber der sprach trotzdem mit mir, so einem Gänschen mit fünfzehn Jahren. Jetzt bloß nicht zu kindisch sein, ich zog an meiner Zigarette und blies den Rauch so gekonnt aus, dass ich mir ein paar Jahre älter vorkam.

    Er sagte was, aber ich war immer noch so verdattert, dass ich nicht verstand, was er wollte.

    Er wiederholte seine Frage: „Willst du spielen, ich zahl."

    Er meinte wohl den Spielautomaten, der im Eingang der Pinte hing.

    Ich nahm die Mark, die er mir gab, und warf sie ein. Kaum zu glauben, es klickte zwanzig Mal und ich hatte das Geld für vier Schachteln Kippen!

    „Wenn das nicht OK ist", meinte mein Gönner. Ich sag ja, heute ist mein Glückstag! Und dieser Typ brachte mir Glück, das spürte ich gleich.

    Er wollte mir einen ausgeben, aber da war doch mein Alter drin, und es hätte eine irre Szene gegeben, wenn der mich gesehen hätte – noch dazu mit einem Mann. Aber ich wollte auch nicht wie ein Baby wirken! Oh Je… Irgendwie musste ich den Typen ablenken.

    Er zündete sich eine neue Kippe an und gab sie mir. Ich fragte ihn, wo er denn wohnte, und er schüttelte nur den Kopf. Nachdem er auch auf andere Fragen nur mit Achselzucken oder Hochziehen der Augenbrauen reagierte, war mir klar, dass der mich nicht verstand.

    „Dein Name?", versuchte ich es weiter.

    Er antwortete mit: „Toni. Und: „Italiano.

    Also war er Italiener, der lässige Typ. Mein Gott, der interessiert sich doch nicht gar für mich! Was will der mit mir?

    Plötzlich hörte ich die Stimme meines Vaters in meinem Kopf, der ist zwar Rumäne, aber die kommen ja alle irgendwie aus dem Süden. Ist der Toni dann nicht auch ein Ausländer? Wieder so ein Typ, der den Deutschen die Arbeitsstelle wegnimmt? Scheiße, Scheiße, Scheiße – aber halt: Sind die Italiener nicht alle Katholiken? Dann zählt er ja gar nicht zu den Scheißkerlen von Ausländern, die besser in ihrem Land leben sollten. Oder bringe ich da was durcheinander? Ach, völlig egal: Ausländer hin oder her, da war ein richtiger Mann und der redete mit mir. Scheiße war nur mein Hund, der störte ohne Ende. Struppi ging mir echt auf die Nerven, bellte die ganze Zeit, wollte wohl mit mir spazieren gehen. Toni ging dann mit mir und Struppi die Straße entlang, wir rauchten beide wie die Weltmeister eine nach der anderen. Wir brauchten nicht zu sparen, denn Toni hatte genug dabei. Dazu tranken wir gemeinsam aus der Bierflasche, die Toni bei sich hatte. Es war, als hätten wir das schon tausende Male gemacht.

    Eigentlich ist er ja ein alter Mann für mich, er muss ja mindestens achtzehn Jahre alt sein, sonst hätte er keinen Führerschein. Wir kamen zu seinem Auto, ich glaubte es nicht: Ein Ferrari! Da fuhr einer wie er einen roten Ferrari und lud mich ein, mit ihm zusammen eine Runde zu fahren. Beim Einsteigen riss sich Struppi los und rannte davon. Ich bekam gar nicht so richtig mit, dass er jetzt weg war. Ich hatte nur noch Augen für Toni und bekam nichts mehr außenrum mit. Wir fuhren auf die direkt an unseren Ort angrenzende Autobahn und er drehte richtig auf. Mein Gott, mir wurde fast schwindlig von der Raserei. Toni wollte immer weiterfahren, aber ich wollte wieder zurück, denn ich hatte endlich bemerkt, dass wir Struppi nicht dabeihatten.

    Es dauerte noch eine ganze Weile, bis Toni dann tatsächlich zurückfuhr. Er setzte mich wieder an der Kneipe ab. Er hat mir dann noch geholfen, meinen Hund zu suchen – was für ein klasse Typ! Der dumme Hund war doch tatsächlich zurückgelaufen und stand vor unserem Haus, zitternd vor Angst. Toni ging dann rauchend zu seinem Auto zurück, wir wollten uns am nächsten Tag um die gleiche Zeit wiedersehen.

    Meine Mutter hat natürlich nichts bemerkt, sie schaut fernsehen und ich glaube, sie ist schon wieder high.

    10.03.1983

    Die nächsten Tage ließ sie mich nicht mehr weg, hatte ihr doch tatsächlich die dämliche Nachbarin erzählt, Struppi hätte eine ganze Weile vor dem Haus gewinselt und von mir sei nichts zu sehen gewesen. Haben die Arschlöcher eigentlich alle kein eigenes Leben? Müssen die hinter mir her spionieren und mich auf Schritt und Tritt kontrollieren? Ich habe so die Schnauze voll von diesen Aasgeiern hier. Der einzige Lichtblick ist Toni, aber wie soll ich mich jetzt mit ihm treffen können? Ist einfach alles scheiße hier…

    17.03.1983

    Heute nahm mich meine Mutter mit zur einzigen Bäckerei in unserem Ort. Die suchen nämlich einen Lehrling. Die Bäckersfrau wollte mir eine Chance geben. Was der blöden Tunte gleich auffiel, waren meine Tätowierungen. Ich hatte die Ärmel leicht hochgekrempelt und meine Jacke ausgezogen, weil es so heiß war bei denen. Meine Alte hat aber gleich gesagt, da würden ihre Kunden sicher nichts von mitkriegen, ich würde immer nur Oberteile mit langen Ärmeln tragen. Wenn die Bäckersfrau wüsste, dass ich einen riesigen Adler auf dem Rücken und mehrere Phantasiegestalten auf beiden Armen habe würde sie doch glatt ausrasten. Nichts wäre es mit der Stelle hier.

    Überzeugt von mir hat die Bäckerin nicht gewirkt, doch sie beließ es dabei.

    Eigentlich kann ich es als Verkäuferin einmal probieren. So schwer kann das doch nicht sein. Stehe hinter der Theke und gebe den Kunden, was sie wollen. Mit Quatschen muss ich ja nicht unbedingt glänzen. Die kenne ich ja meist gar nicht und mit Fremden quatsche ich auf der Straße auch nicht. Was soll’s also, was ist daran auch noch groß zu lernen? Ich soll morgen gleich anfangen. Keine Ahnung, was das soll, ich habe so schnell keinen Bock, für jemanden die Dienstmagd zu spielen. Aber immerhin komme ich dann endlich mal wieder raus aus dem Gefängnis hier und kann, wenn ich es geschickt anstelle, vielleicht Toni nach Feierabend sehen… Er vermisst mich doch genauso wie ich ihn!

    18.03.1983

    Sechs Uhr aufstehen, Haare waschen, anziehen und dann ging es los. Zeit hatte ich noch genug, um gleich zwei Zigaretten zu rauchen, bevor ich mich in der Bäckerei meldete. Aufgeregt war ich bis zum Anschlag, hätte ich aber natürlich nie zugegeben. Frau Kolbus, das war der Namen der Chefin, hat sicherlich schon die ganze Zeit darauf gewartet, dass sie endlich jemanden hat, den sie schikanieren kann. Erstmal musste ich die Hände waschen, dann eine Schürze anziehen, dann schleppte ich den ganzen Tag Brot und so Zeug von der Backstube in den Verkaufsraum. Kaum hatte ich mal nichts zu tun: Hände waschen. Ich kam mir vor wie eine dreckige Schlampe. In der Mittagspause machte ich erstmal einen Umweg auf dem Nachhauseweg, damit ich endlich eine rauchen konnte. Das war richtig gut und mehr als überfällig bei dem Stress. Einmal wieder tief durchatmen. Meine Mutter hatte natürlich wieder nichts gekocht, also musste ich so ein trockenes Brötchen runterwürgen. Die hat überhaupt nicht gefragt, wie es war, kein Wort, nur dass ich nach Feierabend gleich nach Hause kommen soll. Toll, wo ich doch endlich Toni treffen wollte. Mittags gab es dann richtig Stress, weil ich mit dem Korb voller Brötchen stolperte und der ganze Inhalt in den Verkaufsraum fiel. Zwei Kundinnen haben sich dann richtig aufgeregt als sie sahen, dass ich die Brötchen einfach in die Fächer räumen wollte. Die wären ja auf dem Boden gewesen und wer weiß was auf dem Boden alles an Bakterien und so wären. Mein Gott, man kann’s auch übertreiben! Wenn die wüssten, wie es bei uns zuhause aussieht. Frau Kolbus tat zuerst so, als hätte sie nicht bemerkt, dass ich die Brötchen vom Fußboden in die entsprechenden Körbe legen wollte. Als die eine Kundin dann so aufdrehte, schrie sie mich plötzlich an, ich sei eine Schlampe und so ginge das nicht. Zur Strafe musste ich dann die Backstube ausfegen. Der Chef und sein Geselle hatten schon Feierabend, nur die Teigmaschine für den Sauerteig für den nächsten Tag lief noch. Ich hatte eine Wut ohne Ende, so eine Scheiße, wo war ich denn da hingeraten? Aber hätte mir ja denken können, dass das nichts wird, hat ja schließlich meine Alte rausgesucht. Als ich alles zusammengefegt hatte, habe ich den Inhalt der Schippe in die laufende Brotbackmaschine gekippt. Jetzt hatten sie ihre Scheiße. Blöd war nur, dass der Bäckermeister gerade zur Tür hereinkam. Alles Leugnen half nichts, Herr Kolbus war auf hundertachtzig. So etwas hätte er noch nie gesehen, ob mich der Teufel geritten hätte, sofort mit zur Chefin. Die drehte dann so richtig auf und ich konnte zusammenpacken. Die Probezeit ist beendet. Alles wegen einem bisschen Staub, Mehl und Dreck. Das hätte doch niemand bemerkt. Ich bin nicht gleich nach Hause gegangen, sondern hab mich in den Schlossgarten gesetzt und eine geraucht. Im Ort haben wir ein kleines Schloss, mit einem noch kleineren Garten,

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