Jeder wird noch von mir sprechen, wenn ich groß bin: Ein Jugendbuch
Von Elmar Weihsmann
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Buchvorschau
Jeder wird noch von mir sprechen, wenn ich groß bin - Elmar Weihsmann
Erstes Lehrjahr
Jeder wird noch von mir sprechen, wenn ich groß bin!
Ein Jugendbuch
Von Elmar Weihsmann
10. August 2016 – 10. Mai 2017
1. Noch eine Stunde Kindsein, dann bin ich erwachsen
Der verhängnisvolle Anruf kam am Montag und er ging nicht an mich, sondern an die Leiterin der Kinderwohngruppe in der Wohngemeinschaft für sozialbedürftige Kinder und Jugendliche, kurz für ‚Spinnenkinder’, in der ich seit acht Jahren wohne.
„Die Nina kann am kommenden Montag mit der Einzelhandelskauffraulehre bei uns beginnen", sagte der Marktleiterstellvertreter recht freundlich.
Selbstverständlich besprach, ohne mein Wissen, die Gruppenleiterin gleich alle Details für den Einstieg in mein Berufsleben, gefragt, ob ich das überhaupt will, wurde ich natürlich nicht, aber das macht eigentlich nichts, ich bin einfach nur glücklich, dass ich endlich die dumme Penne hinter mir habe, will heißen, ich bin in der Schule echt keine große Leuchte.
Die etwas netteren Pauker in der neuen Mittelschule meinen, dass ich ein bisschen schwer von Begriff bin, die gemeineren sagen laut und deutlich, dass ich einfach nur faul und zusätzlich dumm bin, was kein Wunder ist, Faulheit und Dummheit sind ein absolut unzertrennliches Duo.
Wahrscheinlich haben diese Leute auch recht, das Lernen ist mir noch nie leicht gefallen, weil ich mich zu leicht ablenken lasse und einfach keinen Ergeiz habe um gute Noten zu bekommen und vielleicht auch ein ganz klein wenig, weil nie einer wirklich dahinter war, dass ich endlich was für die blöde Penne mache.
Eigentlich stimmt das nicht ganz, weil die WG-Leiter doch alle total okay waren und auch immer darauf geschaut haben, dass ich meine Hausaufgaben mache und zusätzlich noch etwas übe, aber wenn ihr mich fragt, hat mich nie wirklich etwas außer vielleicht Turnen und Singen und das Zeichnen interessiert, aber in die Kunstneidungsgruppen durfte ich natürlich nicht hinein, die sind nur für die Kinder von richtigen Eltern und ordentlichen Familien bestimmt, wenn ich zurückdenken, dann sind dort nur Mädels und Buben hingegangen von Leuten, die am Abend das Kulturforum besuchen und ganz kluge Sprüche klopfen.
Beim Turnen ist das schon etwas anders, gerne hätte ich Tennis gespielt, aber das ist zu teuer für eine wie mich, für die alles das Sozialamt bezahlt, aber Leichtathletik habe ich machen dürfen, weil zum Rennen und Springen braucht man nur ein paar Turnschuhe und ein Sportdress, beides gibt es auch übertragen.
Stellt euch vor, wie dumm die alle dreingeschaut haben, als ich beim Sportfest im 100 Meter Einzellauf und in der 400 Meter Staffel der Mädchen den ersten Platz erreicht habe, im Weitspringen und im Schlagballwerfen, war ich sowieso die Beste und so habe ich in meinem letzten Schuljahr glatt den Gesamtsieg geholt, worüber sich aber nicht wirklich viele gefreut haben, weil die Falsche, das Spinnenkind gewonnen hat.
Nur der Schuldirektor war da ganz anderer Meinung, der war ein echter Sir, der hat allen ganz ordentlich ins Gewissen geredet, dass ich, seiner Meinung nach, eine ganz tolle Leistung geschafft habe, die sehr viel Beachtung verdient hätte und er hat den ganzen dummen Miesmachern solange die Leviten gelesen, bis alle dann doch geklatscht haben.
Ja so einen, wie den Schuldirektor, von denen hätte ich mehr gebraucht, so einer hätte mich bestimmt verstanden, so einer hätte mich motivieren können mehr aus meinem Leben zu machen, aber jetzt muss ich gleich nach dem Zeugnistag schöpfen gehen.
Nicht einen Tag Ferien haben sie mir gegönnt, ob ich nach der Schule ein bisschen ausspannen, baden, sporteln, spielen, mit den anderen Kids einfach nur abhängen will hat wirklich keinem interessiert, nicht einmal meiner Wohngruppenleiterin.
Was irgendwie gemein von mir ist, weil sich die Wohngruppenleiterin total bemüht hat eine Lehrstelle für mich zu finden und weil ich bei den Schnuppertagen mich so total unmöglich aufgeführt habe und ich mich für wirklich nichts interessiert habe, haben die Wohngruppenleiterin und auch ihre Assistenten gesagt, dass sie sehr enttäuscht von meiner Uninteressiertheit sind, was ich später einmal sein möchte, aber dass ich auch selbst schuld bin, weil ich ja jetzt groß bin und dann später, viel später schon noch draufkommen werden, wie blöd ich damals mit fünfzehn gewesen bin, dass ich mich nicht für ein ordentliches Handwerk als Lehre entschieden habe, sondern einfach nur Einzelhandelskauffrau geworden bin, was ja jede macht, die sonst nichts kann außer Regale einzuschlichten.
Uff. Heute gehen mir wieder einmal alle ganz gehörig auf den Wecker.
Aber das ist nun mal so. Als Spinnenkind musst du einstecken können, da hilft nun mal gar nichts.
Die Wohngruppenleiterin kommt und treibt mich mit etwas Nachdruck an.
„Die Koffer heißt es packen, meine Liebe. Heute, ziehst du aus. Für die Kindergruppe bist du jetzt zu groß geworden", sagt die Wohngruppenleiterin, immerhin hat sie was süßes für mich und streichelt mir doch ganz zärtlich über die Haare.
Mir bleibt die Spucke weg, aber das Süße und das Haare streicheln, das mag ich. Das macht sonst niemand mit mir, in der Regel wird nur immer an meinen Haaren gezogen. Früher, als ich noch klein war und die Buben mir immer an den Zöpfen gezogen haben, hab ich noch laut geschrieen. Deshalb mag ich heute keine Zöpfe mehr und statt schreien hau ich heute einfach zurück und hau die dummen Kerle, die mir weh tun, solange, bis sie selbst zu heulen beginnen, aber das ist mir dann egal. Sie wollen mich schreien hören, jetzt sollen sie selber schreien, sollen sie nur wissen wie sich das anfühlt, wenn eine wie ich weh hat. Aber eine Spinnenkind darf das nicht, einer Spinnenkind tut nichts weh, eine Spinnenkind ist einfach nur eine, die in einem Kinderheim abgegeben worden ist und mit der dürfen die Kinder der besseren Leute machen was sie wollen, das ist nun mal so, damit muss ich mich abfinden.
Hoffentlich ist dort, wo ich jetzt hinkomme auch jemand, der mir zumindest zu meinem Geburtstag oder zu Weihnachten oder vielleicht auch an beiden Tagen im Jahr über die Haare streichelt, das mag ich, auch wenn ich jetzt groß bin.
Ich hole meinen einzigen Koffer vom Kasten, der dort schon Staub angesetzt hat, wische ihn ab und werfe ihn auf mein Bett, das jetzt nicht mehr meines sein wird und beginne ganz langsam zu packen.
Eine Stunde noch Kindsein, dann bin ich hier raus und komme nicht wieder. Dann ist die Kindheit endlich vorbei, dann bin ich eine Jugendliche und dann dauert es nicht mehr lange und ich bin erwachsen.
Wann ist so eine wie ich, die eine Spinnenkind ist, wirklich erwachsen?
2. Fahrt ins Glück
Immerhin sind alle zu meinem Abschied da gewesen. Alle, auch die, die mich nicht gemochten, haben mir die Hand gegeben und viele haben mich auch noch einmal in die Arme genommen und an sich gedrückt und die Kleinen haben geweint, weil ich ‚die Grosse’ jetzt weggehen muss und gar nicht so wenige haben mir auch noch ein paar Süßigkeiten mit auf den Weg gegeben, damit ich im Bus noch ein bisschen an sie denke, bevor sich das Vergessen über die Erinnerung legt.
Vielleicht werden wir uns noch einmal über den Weg laufen. Irgendwann einmal, in ein paar Jahren oder in ein paar Jahrzehnten und irgendwann werden wir fragen: „Hey, du, kennen ich dich? Warst du nicht auch damals eine Spinnenkind?"
Ich weiß nicht, wie ich dann antworten werde, dann wenn ich keine Spinnenkind bin, wenn ich dieses schlimme Wort endlich nicht mehr hören muss, dann wenn die Vergangenheit endlich vergangen sein wird.
Und dann geht es los, die letzten Hände sind geschüttelt und alle Abschiedstränen sind vergossen. Ich nehme meinen Koffer und die Wohngruppenleiterin bringt mich im Auto zum Bus, denn ich darf schon alleine ins Lehrlingswohnheim fahren, in das sie mich angemeldet hat.
Ein letztes Mal werde ich in die Arme genommen und mir werden noch einmal die Haare gestreichelt.
„Nina, du schaffst das!" sagt die Wohngruppenleiterin ganz fest.
Dann hupt schon der Bus. Ich muss einsteigen und mir bleibt nur noch zu winken, die Tränen wegwischen kann ich noch später, dann wenn ich der Bus auf der Hauptstrasse ist und die Wohngruppenleiterin in der Vergangenheit zurückgeblieben ist, denn ab jetzt ist sie nicht mehr die Wohngruppenleiterin, sondern die Frau Mag. Meyer, eine Angestellte des Sozialamtes, die sich von Berufswegen um Kinder aus sozial desolaten Familien kümmert, also um so eine wie mich.
Ich bin übrigens die erste aus meinem Jahrgang die ausziehen muss. Der Seppi und der Benni kommen auch noch dran, aber die beiden haben Glück, ihre Lehre beginnt erst im August, die können noch einen Monat faulenzen und sich als die ‚Großen’ in der Kinderwohngruppe aufspielen, aber das interessiert mich jetzt nicht mehr.
Ich sehe aus dem Fenster und endlich geht es ein Stück des Weges weiter durch ein Land, das ich gar nicht kenne, als ich vor zehn Jahren hier her gekommen bin, war ich noch zu klein, um überhaupt zu wissen, was jetzt passiert, damals sind wir auch im Auto gefahren, damals hat mich eine Sozialarbeiterin in einer Polizeistation abgeholt, damals habe ich auch schon keine Eltern mehr gehabt, oder sagen wir so, damals habe sich meine Eltern auch nicht um mich gekümmert, sonst wäre ich nicht in einem Polizeirevier gelandet.
Ich muss an meine Geschwister denken. Wo die wohl abgeblieben sind? Ich habe eine ältere Schwester, die sicher schon ausgelernt ist und einen jüngeren Bruder, der bestimmt auch in einer Wohngruppe lebt, zu schade, dass wir damals nicht