Die Schatzsucher aus der Gustergasse
Von Eva Rechlin
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Buchvorschau
Die Schatzsucher aus der Gustergasse - Eva Rechlin
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Erstes Kapitel
Die Gustergasse veränderte sich eigentlich nie. Vor hundert Jahren hatte sie schon ausgesehen wie jetzt. Sie lag immer noch am Rande der Stadt, wenn nicht am Rande der Welt.
Als Thees über das Kopfsteinpflaster ging, war alles genau so wie gestern und vorgestern und die Tage davor: der Geruch von Petroleum, Mottenpulver, Kaffee und Bratkartoffeln und von Heringen … In der Gustergasse aßen fast alle Leute Heringe. Am Anfang lagen die Häuser der besseren Leute, und weiter hinten die der Armen. Am Anfang — in einem der besseren Häuser — wohnte auch Gabriella. Alle nannten sie nur Gabriella, und Thees kannte sie besonders gut, weil er dann und wann Botengänge für sie machte. Gabriella wohnte im Parterre links. Das Schild an ihrer Tür mit dem Namen ihres Vaters war im Laufe der Zeit schon gelblich geworden. Das Haus, in dem sie wohnte, sah so grämlich aus, als wäre vor seinen Fenstern ewiges Regenwetter. Alles war schwer von Echtheit und dunkel vor Alter. Wenn man über die Teppiche ging, hörte man nichts von sich selbst, geschweige denn von anderen. Gabriella schien ihr ganzes Leben am Frühstückstisch zu verbringen. Niemals hatte Thees sie anders als in einem ockerfarbenen Kleid, Brötchen schmierend, gesehen. Und obwohl man nichts als dieses Kleid an ihr kannte, unterhielt sie sich mit allen Leuten über ihre Garderobe.
Zwischen den besseren und den armen Leuten wohnte der Kaufmann. Er hatte einen Kopf, der klein und verschrumpelt war wie die geräucherte Hirnschale des Feindes am Gürtel eines Kannibalen. Seine Frau — sie war rund und warm wie eine Suppenterrine — sagte zu jedem Kunden: »Du bist treu!« Sie sagte es aus langjähriger Gewohnheit und mit einem langgezogenen, nasalen eu.
Und dann kamen die Häuser der Armen. Sie hatten etwas an sich, was Thees besonders liebte, vor allem in den Abendstunden. Am Abend hatten die Häuser der besseren Leute am Anfang der Straße viele hellerleuchtete Fenster mit schaukelnden Vorhängen, und ihre Treppenstufen waren schimmernd und kühl wie hängende Matten. Thees ging abends gern daran vorbei, auch an Gabriellas Haus, wo nur aus einem einzigen Fenster das gelbrote Licht von Gabriellas Lampe fiel. Es war nicht anders als die Farbe ihres Kleides. Der Nebel hatte sich zwischen die Mauern gehängt, und irgendwer machte auf seinem Klavier müde Fingerübungen. Weiter unten lief dann schon der getigerte Kater des geierköpfigen Kaufmanns von rechts nach links über das Kopfsteinpflaster, und plötzlich stand man vor den offenen Türen der armen Häuser, aus denen ein warmer Dunst von gekochten Kartoffeln und von Petroleumlampen in die Gasse schlug.
Das war die Gustergasse mit allem, was in ihr lebte — dieser Dunst hier unten, und die Großväter vor den Türen mit ihren langstieligen Pfeifen, die warmen, offenen Flure, der getigerte Kater — und weiter oben die Kaskadenteppiche der Aufgänge, die vielen hellen Fenster, Gabriellas Ockerfarben — und noch weiter oben der Mond. Thees dachte immer, daß es in der ganzen Welt wohl nichts anderes zu sehen gäbe als dieses: weiter unten die Armen mit ihren offenen Türen, weiter oben die Reichen mit ihren kühlen, geschlossenen Pforten, und darüber der Mond, der auf das alles herabschien.
Zweites Kapitel
Thees hatte einen Freund. Er wohnte im letzten Hause der Gustergasse, und das war auch das armseligste Haus. Das Dach saß so schief auf den schmutzigen Mauern wie ein kleiner Deckel auf einem großen Karton. Wenn der Freund von Thees auf die Straße trat, riefen alle Kinder: »Schöner Ak-ak!«
Die Kinder wußten selbst nicht genau, weshalb sie den alten Mann so nannten. Irgendwann mußten sie es von irgend jemand aufgeschnappt haben. Als Thees seine Großmutter einmal danach fragte, sagte sie nur: »Ach — das kommt wohl, weil er, als er noch jung war, sich immer so herausgeputzt hat, als wäre er zu fein für die Gustergasse. Da wollte er immer schöner sein als wir alle. — Das ‚Ak-ak' dahintendran ist einfach ein Spottruf … nichts als Spott, mein Jung'. Man könnte ebensogut ‚SchönerBä-bä' oder so was sagen.«
Thees hatte sich keine besonderen Gedanken mehr darüber gemacht. Und alle Leute in der Gustergasse hatten anscheinend vergessen, wie sein Freund in Wirklichkeit hieß.
Schöner Ak-ak hätte ohne weiteres der Großvater von Thees sein können — Thees war immerhin erst elf Jahre alt. — Aber sie waren Freunde, seit Thees das Laufen gelernt hatte.
An diesem Morgen saßen sie beide auf der Schwelle von Schöner Ak-aks Haus und unterhielten sich. Im Grunde machte nämlich nur die Unterhaltung ihre Freundschaft aus. Sie waren beide sehr gesprächig.
Schöner Ak-ak rauchte dabei seine Pfeife. Es war kein Tabak drin, sondern gut getrockneter Pfefferminztee. Schöner Ak-ak rauchte meistens Pfefferminztee. Er fand es gesund und schmackhaft, und seine Gesundheit ging ihm über alles. Ab und zu ließ er Thees an seiner Pfeife ziehen, damit auch dieser etwas für seine Gesundheit tue. Und Thees hatte sich an diese täglichen Pfeifenzüge schon so gewöhnt, wie etwa an seine schmutzigen Fingernägel oder an den gelben Flicken auf dem linken Knie seiner schwarzen Hose.
»Ich hab' was gehört«, begann Schöner Ak-ak.
»So?« sagte Thees. Er wußte, daß Schöner Ak-ak um eine Sache immer viel drumherum redete. Es fing meistens sehr langweilig an, was Schöner Ak-ak zu erzählen hatte.
»Ich habe es gestern abend schon gehört«, fuhr Schöner Ak-ak fort und preßte dabei mit einem spitz zulaufenden Feuerstein die Pfefferminze in seinem Pfeifenkopf zusammen. Thees sah gar nicht hin. Er blinzelte in die Morgensonne und fand, daß sie mehr wert sei als der alte Knallerofen seiner Großmutter, bei welcher er wohnte.
»Ich habe es gestern abend von Kaufmann Olix gehört.«
»Olix spinnt manchmal«, erwiderte Thees.
»Aber manchmal redet er auch die Wahrheit, Junge. Ich möchte schwören, daß er diesmal die Wahrheit geredet hat!«
»Und wenn er die Wahrheit spricht«, sagte Thees so langsam, als würfe er jedes Wort wie einen Stein in einen Brunnen, »dann weiß man noch lange nicht, ob du nun auch die Wahrheit sprichst!«
Schöner Ak-ak riß vor Empörung die Pfeife aus dem Mund.
»Junge, ich möchte schwören, daß das eine Beleidigung ist, was du da eben gesagt hast!«
»Aber die Wahrheit ist es auch, Schöner Ak-ak.«
Eine ganze Weile lang sagte keiner von ihnen ein Wort. Es ging auch gerade Tine Schröder mit ihrer Milchkanne vorbei, und deshalb mußten sie erst einmal zugucken, wie Tine Schröder so durch die Gustergasse ging. Es war gar nichts Besonderes an ihr, aber zum Angucken war sie eben noch gut genug. Als sie weg war, fing Schöner Ak-ak wieder an: »Weißt du auch, was ich gehört habe?«
»Nein.«
»Ich habe gehört, daß Gabriella gestern etwas gefunden hat.«
»So?«
Jetzt war Thees wenigstens schon neugierig. Wenn Gabriella etwas gefunden hatte, worüber die ganze Gustergasse sprach, dann mußte es etwas Besonderes sein.
»Weißt du auch, was sie gefunden hat, Thees?«
»Nein.«
»Sie hat etwas ganz Großartiges gefunden.«
»So?«
»Ja, etwas ganz Großartiges. Eine Brieftasche nämlich!«
»So? Eine Brieftasche?«
Thees dachte: Gabriella hat eine Brieftasche gefunden. Eine Brieftasche! Das ist ja etwas ganz Großartiges. Aber plötzlich fiel ihm ein, daß er ja gar nicht wußte, was eine Brieftasche ist. Er fragte Schöner Akak danach. Der legte sofort die Stirn in Falten und gab sich ein gelehrtes Aussehen.
»Eine Brieftasche ist meistens aus Leder«, fing er an, »und die Herren tragen sie in der Jackentasche. Sie haben allerhand wichtige Papiere drin — ihren Geburtsschein, ihren Taufschein, ihren Impfschein, ihre Schulzeugnisse, ihren zweiten Impfschein, ihre Heiratsbescheinigung, ihren Personalausweis, ihren Reisepaß, ihr Sparbuch …«
»Und das hat Gabriella alles gefunden?« warf Thees ein.
»Ja.«
»Was soll sie mit all den Scheinen denn anfangen?«
»Nichts. Aber es war ja auch noch Geld in der Brieftasche!«
»Geld?«
»Ja. Viel Geld!«
»Sie hat doch schon genug Geld.«
»Ach Junge, Geld kann man nie genug haben. Aber Gabriella hat die Brieftasche mit dem Geld nicht behalten.