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Drachenkalb singe
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eBook312 Seiten4 Stunden

Drachenkalb singe

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Über dieses E-Book

Es ist eine Gruppe von Großstädtern, Jungen zwischen 10 und 13, die den Kern der "Drachenkälber" ausmachen, des Großstadtchors, der um ein paar Ältere erweitert wird. Genau an dem Tag, als während eines Gottesdienstes an der Orgel der Organist stirbt, ist plötzlich seine Tochter Erika, selbst Organistin, da. Wird sie in die Fußstapfen ihres Vaters treten oder umgekehrt den Weg zurück in das Bergdorf finden, wo Pfarrer Andreas so sehnlichst ihre Rückkehr erwartet?-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum1. Okt. 2015
ISBN9788711467336
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    Buchvorschau

    Drachenkalb singe - Hans Leip

    Goethe

    Der Regen war vorbei. Es wurde eine klare Nacht. Die Organistin, indessen sie den märzlichen Choral des Sonntagabends begleitete, ließ den Blick seitwärts pendeln, fort von den beleuchteten Noten. Im Fenstergaden, durch zwei romanische Pfeiler und die Wölbung des Bogens gebändigt, erhob sich das Gebirge wie ein Wogenkamm.

    „Sehr innig haben Sie heute gespielt!" sagte der Pfarrer nachdem. Er hatte ein verkapptes Beben in der Stimme, das nicht vom Himmel kam und sich mit irdischer Geneigtheit um ihre kräftige Gestalt legte. Er war nicht jung und sie gegen dreißig, beide unverheiratet, beide aus dem Schüttelbecher der Zeit versprengt, aus dem Norden sie, aus dem Osten er, inmitten der beherrschenden Aura der anders denkenden Kirche als protestantische Enklave geduldet und duldsam, mit einer kleinen Kapelle der Umgebung eingebacken wie ein Roggenkorn ins Weizenbrot.

    Die Miene der Organistin erhellte sich mühsam. Der Pfarrer drehte das kräftige nachdenkliche Gesicht, als spüre er eine Hand am Genick und blicke sich nach Hilfe um.

    „Wollen Sie wirklich nach Haus?" fragte er.

    „Obwohl Sie als einzige rechte Heimstätte soeben das himmlische Vaterhaus gepriesen haben, lächelte sie. „Oh, Sie haben überhört, daß ich der irdischen Wanderschaft die gehörige Freude an dem jeweiligen Unterschlupf wohl einräumte und nicht undankbar bin gegen unsere schöne Gastlandschaft. Aber ich wollte uns noch einmal und uns alle trösten über das Verlorene mit einem gelassenen Ubi bene, ibi patria, wie wir beide es den Schäflein allen nahezubringen vermocht. Allen haben wir, bis auf zwei oder dreien, zu Unterkunft und Beruf, ja, sogar zur Siedlung verholfen. Unsere Aufgabe scheint Ihnen erfüllt und diese Dorforgel ist Ihnen zu klein. Ja, Sie bezweifeln, daß es Ihnen hier gut geht. Das stimmt mich nachdenklich.

    Die Organistin schwieg. Ihre dunklen Augen sahen forschend an ihm vorbei. Die schlichten Zirbelholzbänke der Andacht, schon geleert, lagen wie Dünungswellen hintereinander, wie der Schwell des Stromes, den sie so lange nicht gesehen. Sie war zu weit in der Fremde umher gewesen, zu selbständig und zu erfahren, um unklare Gefühle in sich zu dulden. Sie wußte, dieser Mensch und Seelenhirte stand ihr nahe. Zwei Jahre hatten sie hier zusammen gewirkt. Es mochte Zeit sein, eine über alles geliebte Freiheit und Buße nicht mehr so wichtig zu sehen und das pure Heimweh als etwas anderes zu erkennen, nämlich als die Neigung zu endlicher Geborgenheit und zweisamer Harmonie. Und da sprach er es auch schon aus, und gefährlicher als je erschien es ihr, einem anderen die Fähigkeit zuzutrauen, ihre Gedanken zu erraten.

    „Heimweh? sagte er: „Das ist das Gefühl geographischer Disharmonie, eine unangepaßte Konstitution, eine klimatische Ungewohntheit. Sollte man nicht auf eine fröhliche und natürliche Weise der jederzeit Heimgefundenheit ein wenig Vorschub leisten?

    Er strich sich mit drei Segensfingern zögernd in Herzhöhe über den schwarzen Talar.

    „Sie wissen allzu wenig über mich, sagte sie. Es sollte abwehrend klingen. Und sie fügte leise hinzu: „Einsam bin ich und arm ... Es war eine Stelle aus der Predigt, aus dem 24. Psalm, nach deren Anfangswort, Oculi, der Sonntag bezeichnet wird.

    „Doch zu Lätare heißt es: Freue Dich!" erwiderte er, nicht weniger leise.

    Der Küster hatte die Lichter gelöscht und klapperte wie zufällig mit dem Schlüssel gegen eine Bankwange.

    Die Nacht saß jahrhundertalt am Fuße der gekalkten Wände. Es war ein halbverfallenes uraltes Gemäuer, darin vormals in Kriegsläuften Untat und Gemetzel geschehen war. Kein Weihwedel hatte die Abneigung der Einheimischen besiegen können, und so war es dann den Flüchtlingen ohne Murren als Andachtsort nicht versagt worden. Sie hatten Böses genug erlebt, um die blutige Vergangenheit hier gleichsam als geschwisterlichen Trost zu empfinden und sie mit eigenem Leid und eigener Auferstehung zu besänftigen und mit einer kleinen Portativ-Orgel, einer Stiftung von Freunden jenseits des Atlantik, und mit Gesang und Predigt die Gespenster zu bannen. Die Organistin fühlte, wie lieb ihr alles geworden sei, und doch verbarg sie das Frösteln nicht, das sie aus der lichtlosen Tiefe anwehte, und trat hinaus vor die Tür.

    Sie sah die Kirchgänger talab auf dämmernden Wegen verschwinden. Die Gemeinde, deren Böcke und Schäfchen sie allesamt kannte, ohne ihnen letzte Vertrautheit zugestanden zu haben bis auf ein wenig Klavierunterricht, auf dem Instrument des Wirtshauses erteilt. Sie hatte auch Vorsorge getroffen, daß ihre beste Schülerin zu Choral und Litanei als ihre Nachfolgerin in Betracht komme.

    Schnee leuchtete hortensienfarben noch hier und da in Wiesenmulden und an den Hängen, deren Kanten heidelbeerblau in das westliche Abendgold schnitten. Lange amarante Wolkenstreifen rauchten nordwärts.

    „Es ist föhnig", sagte der Geistliche, und er wollte damit andeuten, wie leicht erklärbar bedrückte Stimmungen seien, obwohl er selber sich dagegen gefeit hielt.

    Die Organistin nahm sich zusammen. Das Trostlose, das von irgendwoher fließt und die Seele auszufüllen begehrt, mußte abgedämmt werden. Der starke feucht herüberstreichende Duft der Bergwälder war als Medizin zu werten und der Frieden dieser Zuflucht als Geschenk und die Güte des Pfarrers als Bank und Kissen, davon man doch aufstehen konnte nach Belieben, ohne daß ein Bett daraus zu werden brauchte. Dazu die stille Beschränkung auf ein kleines Orgelspiel, anderen zur Erbauung und sich selber, und nach getaner Betreuung der Flüchtigen und Verlassenen ein geruhsames auf sich selber Besinnen, es müßte genügen. Und bis jetzt hatte es genügt. Nun galt es, die gewöhnlich robust wirkende Art zu bewahren und jede haltlose Träne schon unter der Wimper vertrocknen zu lassen.

    „Sie sollen mich nicht undankbar schelten, Doktor Andreas, sagte sie darum, und sie sagte diesen Titel lieber als etwa ‚Herr Pastor‘, und er hörte es nicht ungern. „Sie wissen, es ist der Brief meines Vaters, meines unleugbar irdischen Papas. Und es ist nicht so sehr die Nachfolge an seiner Orgel, die er mir anbietet, als die Rührung, nach so vielen Jahren der Entfremdung ein Lebenszeichen von ihm zu empfangen und doch wohl mehr ein Zeichen des nahenden Gegenteils. Ich fühle, es stehen mir dort einige Aufgaben bevor.

    „Aufgabe, doppelzüngiger Begriff! erwiderte der Geistliche: „Indem uns etwas aufgegeben wird, haben wir anderes aufzugeben. Es ist aber, daß wir suchen, bis sich die rechte Lösung für beides gefunden hat.

    „Und die rechte Verbundenheit, antwortete sie klar, ihrer Unruhe bewußt: „Aber bis dahin scheint noch vieles auf mich zu warten oder ich auf vieles, und vielleicht wird es mich verschlingen.

    Sie begegnete der behütenden Gebärde des Pfarrers mit geknifften Lidern, gekrauster Nase und herabgezogenen Mundwinkeln. Sie war sonst ganz ansehnlich zu nennen, nun aber machte sie sich hexenhaft, so daß er sich fast — in der allgemeineren Sitte der Landschaft — bekreuzigt hätte, indes seine Augen wie blasse bestürzte Punkte hinter unaussprechbaren Sätzen irrten.

    „Oh! sagte er: „Es ist der unersättliche Drache in uns selber von alters her, der Macht hat zu verschlingen ...

    Sie lächelte, und sie lächelte recht hübsch und entgegnete: „Unsere Erfahrung hat nicht schlecht an seinen Zähnen gespitzt, und sein Rachen sieht aus wie Bombennacht, Greuel, Mangel, Stacheldraht und Behördenanmaßung und menschliches Versagen."

    „Und rührt doch alles her aus der in uns angelegten Gier, es den Naturgewalten gleichzutun."

    Sie schwieg einen Atemzug lang, die Jahre ihrer Studien bedenkend und der zahllosen Versuche, neben der Musik Genuß und Halt in den Gefilden der Sinnlichkeit zu finden. Zögernd äußerte sie: „Sie haben mir gezeigt, Doktor, was es heißt, hilfreich zu sein und sich selber unwichtig zu nehmen. Das habe ich anfangs als meine freiwillige Buße empfunden, später aber oft, ich gebe es zu, als unerträglichen Zwang. Meinen Sie nicht, daß es gut wäre, das Gelernte nun auch anderswo zu erproben, dort unten in den alten zerstörten Ebenen?"

    „Selig sind, die sich selber überwinden, denn sie schaffen Raum für das Himmelreich!" erwiderte er leise.

    „Ich fürchte, ich bin noch weit davon entfernt", versetzte sie finster, ohne Lust, sich von seiner überlegenen sanften Art bestimmen zu lassen.

    „Sie werden den rechten Weg schon finden!" sagte er erschrocken.

    „Nein, noch nicht!" rief sie aus.

    Der Seelsorger öffnete unwillkürlich die Arme; er wußte nicht, ob in Abwehr oder um ein verirrtes Lämmlein ans Herz zu drücken. Doch da gewann ihre innerste Neigung zur Heiterkeit Raum. Sie lachte hellauf. Und da lachte auch er, und so, als billige er dieses ‚Noch nicht!‘ als eine Verheißung. Und er lachte, sich leise biegend, sich unter seinem Lachen beugend und sich zugleich verbeugend vor diesem zweifelhaften Worte: „Noch nicht? ... Noch nicht, meine Liebe, oh ja, noch nicht, noch nicht! ..."

    Er hielt jählings inne und sagte verschämt gegen seine angehobenen Hände: „Und ich hatte schon gefürchtet, diese Bergwände, diese Ruhe hier, diese Abwechslungslosigkeit ..."

    Er stockte. Er stand hilflos und verdunkelt und er schien ihr doch mehr denn je ein heller bergender Hafen abseits unendlicher finster unruhiger Meere. Er hätte seinen Satz vollenden und das ‚Noch nicht!‘ der selig gepriesenen Selbstüberwindung in zitternden Wellen als auf sich selber bezüglich spiegeln können, so, als sei einzig er der Grund für ihren Abschied. Sie blickte ihn bestürzt an, als habe das Unausgesprochene recht. Doch dann, sich einer Regung entziehend, durch die sie fast um seinen Hals geschleudert worden wäre, versetzte sie, sich zum Gehen wendend, mit einer Gebärde, als drücke sie einen kalten Schwamm aus: „Nein, das nicht, Hochwürden!"

    Doch mußte sie nochmals hell auflachen über sein gutes Antlitz, das sonst aller Unabänderlichkeit gelassen zu begegnen wußte, aber im Zwiespalt dieses Abschieds fast vergebens das Heitere zu begreifen sich mühte. Auf einmal jedoch blitzten Tränen über ihre Wimpern. Er sah es und beugte das Haupt tiefer in Demut vor einem unhaltbar von dannen wehenden Glück. Sie indes lachte weiter, und um sie nicht allein zu lassen, so lange es ging, fiel er mit seinem Basse von neuem ein, gleich ihr alle Betrübnis und Unsicherheit herzlich zu verdecken. Und beider Lachen klang von der Findlingsmauer der Kirche wider, weithin hallend in den frühlingsduftenden Bergabend, so daß sich die langsamsten der abziehenden Kirchgänger, fußleidend oder gichtig behindert oder von den Greueln der Vergangenheit versehrt, betroffen umblickten.

    *


    In dieser Nacht war es ihr gegeben, daß die Finsternis zerriß und sie liebreich sich aus bestimmtem Munde mit Namen genannt spürte, aber nicht mit dem Organ des Pfarrers, sondern mit dem zwiespältigen Klang vergangener Beziehungen. Elise Gull! sprach die Stimme; es war wie in einer biblischen Geschichte; der Klang kam gelinde herauf zugleich mit dem Zerberstenden und der zerstörenden Gewalt des Krieges, übertönte aber bald alles Laute mit Sanftheit und blieb, zart bebend wie das doppelzüngige Register der Unda maris, die Meerflaut, die singende Meereswelle. Diese schöne Pfeifenstimme jedoch gehörte einer anderen Orgel als der des kleinen Bergdorfes an.

    Das Zimmer des ländlichen Gasthofes, das sie bewohnte, war grün von Mond. Das bunte Bett schwang auf wie eine Wolke. Das Gedenken an das noch im Lachen bohrend sinnende Gesicht des „Doktor Andreas" wandelte sich ins Rundere und Rosige, und sie meinte schon, es sei ein Kindchen, aber es war nur das Antlitz Ewald Pütterings von damals, als er noch Student gewesen war. Längst hatte er nun die Kunsthandlung seines Vaters übernommen oder vielmehr das, was der Krieg davon übriggelassen. Wieso und warum war sie nicht mit ihm zusammengeblieben? So fragte der Mond und das Bett und das Gebirge. Der Wind seufzte achselzuckend hinter den Wäldern hervor. Der Wildbach aber murmelte etwas, das von Unruhe und Ungenügsamkeit handelte, und die Strudel zischten durch die Nacht herauf, heftig, wie nur je eine Brandung an den Küsten gezischt hatte, ein unersättliches Weiter! und Weitweg!

    Sie sah sich davongehen, nachdem ihre Mutter gestorben war, und war eben zwanzig, aber voll angeblicher Weltgewandtheit. Sie hatte sich dem Unterricht und den Vorwürfen ihres Vaters entzogen, der als geachteter Kirchenmusiker wenig Verständnis für eine vagabundierende Liebschaft haben zu dürfen gemeint hatte. Sie war nach Berlin, nach Leipzig und Salzburg gegangen, hatte begabt und mit geringen Stipendien ihr Studium beendet, war im Süden hängen geblieben, war wie ihr Vater der Orgel zugetan, doch dem Schöpferischen und Unerhörten vergebens zustrebend, nirgends bislang einer dauernden Bindung fähig, an ihrem Können oft verzagend, langsam sich bescheidend und nun an der Schwelle der Jahre nach langer Askese noch einmal, doch zarter und inniger denn je nach Liebe sehnsüchtig und einer Endgültigkeit zugeneigt.

    Viele Gesichter und Stimmen schwangen auf, junge und alte, die Liebhaber flüchtiger Vergnügungen und Räusche, auch ernsthafte Freunde, die sie nicht ernst genommen hatte, und mitten darin immer das grausige zerschossene Gesicht des jungen Geigers, der zuletzt, in Salzburg, sich schwärmerisch an sie gehängt und, eigenmächtig zu ihr von der Front heimkehrend, von einem letzten wilden Henkertrupp vor ihrem Hause, vor ihrem Fenster, vor ihren Augen zur Strecke gebracht worden war. Sie hatte in jenem furchtbaren Vorgang wenig mehr empfunden als Entsetzen, aber dann war sie von verzweifelter Reue gepackt worden. Sie hatte damals, an jenem Abend locker anderweitig gefesselt, dem Fahnenflüchtigen den Unterschlupf verweigert. Sie war unzweifelhaft schuld an seinem Tode. Sie wußte es. Und sie hatte sich danach in die Einsamkeit geflüchtet. Sie hatte von da an die Abenteuer gemieden und die Abenteuer sie. Sie hatte nur noch gearbeitet und schließlich den Posten in dem kleinen Bergdorfe angenommen, und dort hatte sie sich der Selbstentäußerung und der „guten Werke" befleißigt, und die gute Sicherheit des Pfarrers Andreas war ihr dabei behilflich gewesen.

    Soll ich hierbleiben? fragte sie in die Nacht.

    Aber nicht die Stimme des Geigers Florian antwortete ihr und nicht einmal seine schwärmerische Geige. Es rang sich eine frühere Stimme durch, die früheste, die ihr etwas von Liebe erzählt hatte, und es war die im allgemeinen satte und zufriedene Stimme Ewald Pütterings, und er suchte verdutzt nach Schlagworten. Jahrelang hatte sie keinen Brief mehr mit ihm gewechselt. Sie hatte ganz und gar frei sein wollen, tüchtig zu werden vor Gott und den Menschen durch die Kunst, die Orgel zu meistern.

    Komm zu dir! kaute Ewald, der großrundliche Erbe der Pütteringschen Gemäldegalerie. Er hatte damals immer schon Geld gehabt. Sein Taschengeld hatte gereicht, ein Auto ins Grüne zu lenken und ein Segelboot über freundliche Gewässer und sogar in die See, und hatte gereicht für ein Abendbrot mit Wein zu zweit und ein heimliches Quartier hier und da. Warum nicht? Es war bedrängend und lustig gewesen, vielleicht ein wenig zu früh, um süß zu sein, ja, zu früh, um süß und klug zu sein.

    Komm zu dir! Doppelzüngig zwiestimmig klang es, und nun schien doch eine Kinderstimme dazu zu klingen, eine helle singende Knabenstimme. Ach, Elise Gull hatte das Betörende nicht erlebt, wovon die Berichte der Mütter lobpreisen. Erst jetzt, nach den langen Jahren der Fremde und Einsamkeit schwoll es verzückt in ihr auf, der Wunsch, teilzuhaben an der Vervielfältigung der Natur. Oder zumindest einem Aufwachenden, Aufwachsenden zart lenkend und genießend verbunden zu sein. Als sie klein war, hatte sie einfach Schullehrerin werden wollen.

    Nun sank die süße Beistimme hinab, und die brüchig dünne Stimme ihres Vaters schwang herauf und sagte versöhnt: Komm nach Haus! Seine ragende Gestalt bückte sich, sein Bart ergraute, seine Hände griffen ins Leere, als spielten sie auf luftigen Manualen, und seine Stimme koppelte sich singend mit hinein in eine große geheimnisvolle Musik. Darin fand sie sich eingebettet auf verwühltem Lager, weit in der Fremde und vor Heimweh weinend.

    Doch allmählich war es, als singe das quirlend Silberne und saugend Letzende der hohen Fuge aus ihr selber weiter, aus ihres Leibes Mitte. Da mußte sie lächeln, als gelte es, eine ehemals empfundene Unrast und Gier zu überprüfen und nun als ein freundliches Geschenk einzuordnen in eine unabwendbare, wenn auch ganz und gar zweifelhafte Heimkehr.

    Danach formte sich das große Jubilieren und teilte sich aufgetürmt in breiter und tiefer Perspektive und stand einer ungeheuren Orgel gleich, die Pfeifen leuchtend, im überirdischen Licht, und waren anfangs nichts als die kahlen zerbrannten Ruinen und Schlote der großen Stadt, darunter ihre Mutter nebst ihrer Kindheit begraben lag. Und wandelten sich in die langen Stämme der Buchen, bereift von der märzlichen Nacht, am Rande des Meeres, und die Wellen dahinter hoben sich den Tönen gleich auf und nieder und waren zugleich wiederum wie die lebendig gewordenen Zacken des Gebirges.

    Bleib irdisch und klar! dachte sie und sah sich an der großen Kirchenorgel sitzen, daran ihres Vaters Amt und Würde gehangen seit rund dreißig Jahren und die erhalten geblieben war im mörderischen Irrsinn der Welt. Und sah sich sitzen als kleines Mädchen neben dem mächtigen Manne an dreifach aufgestufter Tastatur im Sternenschwarm der Registerknöpfe über dem angewetzten Gebälk der Pedale, darüber die Füße des Schicksals hingespielt hatten, das arme Gebäu der Menschheit zu erschüttern mit unsäglichem Ungewitter. Noch standen die Grundmauern der Tiefe und hoben sich aus dem nachhallenden Dröhnen der Schlünde und dem Auswurf der Waffen und dem von Verwesung stinkenden Staub des Schuttes bis unter die Empore, darauf die Orgel wuchs, daran sie nun saß und spielte, trunken vom halb genippten Dasein, den Meerwind spielte auf den Manualen aus Gebein und den Pedalen aus erstarrten Toten und die Singende Welle aufrauschen ließ, die Unda maris, in das immer lichtere Gefieder der Hochstimmen.

    *


    Der Kantor selber war es, der von dem Knabenchor als von seiner Kurrende zu sprechen pflegte, aber die vier mitsingenden Herren nannten den unruhigen Haufen schlichtweg die ‚Drachenkälber‘. Der Kantor hieß nämlich Georgius, Professor Georgius. Der witzige Herr Püttering hatte ihn in Sankt Georg, den Drachenbändiger, umgetauft und war dann folgerichtig auf die Bezeichnung Drachenkälber für die Knaben gelangt.

    Vorerst aber soll von der Orgel gesprochen werden.

    Selbst die kecksten unter den Singekälbern, so schwierig sie sich von des Kantors blitzenden Kneifergläsern und rollenden Augen zügeln ließen und auch vor den allsonntags sich einfindenden, den Chor grundierenden vier Herrenstimmen wenig Bange zeigten, vor der Orgel hatten sie einen heiligen Respekt. Es war die unheimlich ragende bärtige wortkarge Gestalt Meister Gulls, die ihnen Halt gebot, auch wenn er nicht anwesend war. Das Gewaltige war es, das unter seinen Händen zu ertönen vermochte, und es stand erhaben und drohend um ihn und vor der Orgel.

    Dennoch mußte es der scheinbar zarteste und bescheidenste unter den Knaben sein, der in das unersteigbar dünkende Gehege einzubrechen sich erkühnte. Amandus Bont war es. Innerst bebend, aber äußerlich mit dem forsch zutappenden Späherschritt des Träumers, der aus vielen Vorfällen unbeschädigt davongekommen war, hatte er sich eines Sonntags morgens mit Bedacht verfrüht und fand sich, wie er oft es sich ausgemalt, allein auf der Orgelempore. Die schmalen Türen des Spielschrankes waren vom Kirchendiener schon aufgeschlossen und zurückgeklappt, das Choralbuch, abgegriffen und vergilbt, war aufgeschlagen; ein Zettel war daran geheftet mit den für den Tag bestimmten Nummern des Gesangbuches.

    Zaghaft trat der Knabe an die Orgelbank, stemmte, atemlos vorgebeugt, eine Hand auf das blanke Mahagoni der Sitzfläche, die in steter sanfter Bewegung des Spielers sich immer neu poliert, und blickte begehrlich auf die elfenbeinernen drei Tastenreihen mit den ebenholzschwarzen Doppel- und Dreizinken der Halbtöne, was alles sich im blanken Holze des Rahmens spiegelte. Ein bräunlich gedämpftes Licht webte darüber und der Geruch der verstaubten Mechanik und einer milden Seife, die Herr Gull für seine empfindlichen Hände benutzte, und eines alten, aus verbrauchten Höhlungen abgesunkenen Atems.

    Die Augen des Knaben knifften sich vor Begehrlichkeit und diebischer Beklemmung. Er lugte hinab auf die grobe graue Gräting der Pedale, deren Hölzer die Tritt- und Gleitspuren von mehr als zwei Jahrhunderten aufwiesen. Unhandlich, ungeschlacht dünkten ihm da die Tasten der Füße. Die Vorstellung stieß ihn ab, so zierlos das Wunder der Klänge zu bewerkstelligen; er wandte sich lieber den wunderlichen Knöpfen zu, die, talergroß, auf verschiedenfarbigen Porzellanschildern die Namen der zahlreichen Register trugen, der Prinzipale, der Gedackten, der Gamben-, der Flöten-, der Zungenstimmen, der Koppeln und Mixturen, der Tremulanten und Schweller. Da las er sonderbare Bezeichnungen, die betörend seine Phantasie erfüllten: Rohrschelle, Nachtschall, Rauschquint, Vox humana, Jungfernregal, Zymbel, Tuba, Kornett, Euphon, Äolin und Unda maris.

    Es drängte ihn, die Schalter der Klänge zu bewegen, und zögernd führte er die Hand, noch tastend nur, hier und dort hin und her. Kaum, daß er es selber wollte, war er auf die Orgelbank geglitten, und saß nun da, winzig und geduckt, mit den Fingern huschend, vorerst nicht wagend, sie niederzudrücken, doch mählich hier und da eine Taste belastend, die, o bange Lust, stumm blieb oder vielmehr ohne Macht, die tönende Säule zu erregen, die ihr in der eingestellten Verbindung zugeteilt war. Denn es fehlte das, was die Wellen aufzäumt im Meer und im Meer der Töne, was die Segel schwellen läßt und die Klänge der Welt: es fehlte der Wind. Der Kirchendiener hatte ihn noch nicht vorgesehen, denn es war noch Zeit.

    Mandus aber meinte, sein Teil zu vernehmen, die Hände wühlend eintauchend in die dreifache Brandung der hellen und dunklen Wellenzähne. Es war ein berauschendes Unterfangen, dem wackligen Klavier seiner Pflegeeltern und dem Piano der Mondschein-Konditorei verwandt wie eine Viermastbark etwa einem Luggerboot oder Fischewer. O ja, er war über die Anfangsgründe der tönenden Hebelwirkung und über die ersten Etüden hinaus und war begabt, mit geschickten Fingern und ungewöhnlichem Gehör manches hinzuzaubern, um das ihn ein Erwachsener hätte beneiden können. Das stumme Orgelwerk nun wuchs über ihn hin in sternengespickte Unergründlichkeit hinauf. Seine Finger gruben und flatterten, um hinterdrein zu taumeln und nichts zu versäumen, was sich an Seligkeit so unerwartet kühn und ungestüm ergeben hatte.

    So saß er schließlich ohne Bedenken oder vielmehr ohne Bewußtsein seiner selbst, der Bedrückung seines Zuhauses entronnen. Er zog an den Registerknöpfen, stellte das höchste Gezirpe und das tiefste Geschmetter ein und wanderte in den Manualen wolkenweit und meeresfern, der ersten Ahnung des Schöpferischen anheimgefallen. Und das Stumme war ihm hörbar. Aber das kleine runde Porzellanschild mit der gotischen Aufschrift „Unda maris" leuchtete vor allen anderen, als sei des alten Gull Fingerzug jahrelang daran vorüber gegangen. Da denn drückte der Knabe alle übrigen Registerknöpfe zurück und zog nur diesen einen; denn so viel Latein kannte er, um zu wissen, daß es ‚Meereswelle‘ heiße.

    Eine Weile schon war der alte Gull treppauf gekommen mit dem leise streichelnden Schritt des Organisten und verhielt nun an der Emporenecke wie ein Zauberer, der sein Geheimnis entdeckt sieht. Seine Miene war steinern und lauschend wie immer, doch hob er flüchtig eine Hand, höher, als ob er nur zupacken wolle, und höher, als gedenke er, Rat holend, nach alter Männer Weise in den Bart zu greifen. Es war, als wolle er über die Augen fahren, einen Spuk abzuscheuchen.

    In diesem Augenblick entsann sich der Knabe der Pedale. Sein Mut war so gewachsen, daß er meinte, nun auch die gewaltigen Baßrippen unter sich zu zwingen, und er rutschte tiefer, um mit den baumelnden Füßen dahin zu gelangen, der Lautlosigkeit auch dort gewiß. Da erspähte er jäh den Schatten der bewegten langen fremden Hand, so entfernt sie auch noch war, und er erschrak so, daß er ohne Halt weiterrutschte von der Glätte der Bank und hinunter auf die sanft nachgebenden Fußtasten. Diese aber gedachten nicht der Stummheit und Mummerei zu dienen. Denn eben hatte Herr Mewelsgirn, der Kirchendiener, in der Vorhalle unterm Turm die Hauptleitung eingeschaltet, die alle Lampen und Leuchter speiste wie auch den Motor für das Bälgewerk. Der Zwischenschalter vom Orgeltisch aber war unter den ungestümen Knabenfingern längst auf Strom gedreht. Schon staute sich der Wind in dem Gangwerk zuleitender Schlüfte und lauerte an den Pfeifenfüßen, daß ihm die Schleusentore aufgezogen würden.

    Und siehe da, eine ungewöhnliche

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