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Teufelsbrut: Die Kinderhexen von Bärenbrück
Teufelsbrut: Die Kinderhexen von Bärenbrück
Teufelsbrut: Die Kinderhexen von Bärenbrück
eBook475 Seiten6 Stunden

Teufelsbrut: Die Kinderhexen von Bärenbrück

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Über dieses E-Book

Bärenbrück, eine mittelgroße deutsche Stadt, im Frühjahr 1669:

Die fünfjährige Marie Schaffner erzählt, sie fahre nachts mit ihrer Großmutter auf Besen oder Böcken zum Hexentanz hinaus und entfacht damit ein Lauffeuer, das bis zu Pfarrer Gottlob Lammer dringt. Der befragt das Kind und zeigt die Großmutter wegen des Verdachts auf Hexerei an. Ermutigt durch Marie, behauptet die zehnjährige Anna Wagner, der Teufel komme nachts zu ihr und beschlafe sie. Vergeblich hat sie sich bisher von ihrer Mutter Unterstützung erhofft.

Dann springt auch noch ein Funke des von Marie entfachten Lauffeuers auf den zwölfjährigen Martin Heiliger über, ein vernachlässigtes Tagelöhnerkind, das heimlich die Barbara Bickler aus der Nachbarschaft verehrt. Als Barbara schwanger wird und sich vermählt, fühlt Martin sich von ihr verraten und bezichtigt sie sowie sich selbst während der Hochzeitsfeier der Teufelsbuhlerei.

Spitalpfarrer Gernot Weiß will ihn vor der Inhaftierung im Verlies des Hexenturms bewahren. Doch nicht nur Martin ist bedroht. Während Barbara sich künftig umgeben sieht von insgeheimen Anschuldigungen und schwelendem Misstrauen, kommt der "Teufel" nachts weiterhin zu Anna.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum7. Dez. 2014
ISBN9783738005660
Teufelsbrut: Die Kinderhexen von Bärenbrück

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    Buchvorschau

    Teufelsbrut - Kirsten Klein

    Widmung und Danksagung

    Teufelsbrut

    Die Kinderhexen von Bärenbrück

    Gewidmet allen Kindern, die von „Teufeln" heimgesucht werden – damals wie heute

    Danksagung

    Mein ganz besonderer Dank gilt meinem lieben Freund, dem Historiker Olaf Schulze, der das Manuskript lektorierte und das Cover gestaltete.

    Leute von Bärenbrück

    Im Schaffner-Haus:

    Marie Schaffner, fünf

    ihre Großmutter, die Schaffnerin

    ihr Vater, der Totengräber

    Jörg, sein alter Gehilfe

    Im Wagner-Haus:

    Anna Wagner, zehn

    ihre Mutter Sophie, Anfang dreißig

    ihr Vater Hannes, der Schmied, in mittlerem Alter

    In der Nachbarschaft:

    Grete Köhler, Witwe

    Ulla, ihre elfjährige Tochter

    Im Pfarrhaus:

    Pfarrer Gottlob Lammer

    Heinrich, sein Sohn, zwölf

    Im Spital:

    Lammers junger Amtsbruder Gernot Weiß

    Luitgard Eppler, Spitalmutter

    Jakob Drescher, Spitalmeister

    Im Bickler-Haus:

    Barbara (Bärbel) Bickler, neunzehn

    ihr Bruder Michael, vierzehn

    ihr Vater, der alte Bickler

    Franz Hilber, Schuster und Barbaras Freund

    Martin Heiliger, Barbaras Schutzbefohlener, zwölf

    Beim Spital:

    Lina, junge Fischverkäuferin

    ihre ältere Schwester Alrune, Amuletthändlerin

    Im Rathaus:

    Vogt, Ratsherr

    Schultheiß, Ratsherr

    Apotheker, Ratsherr

    älterer Gerichtsdiener und junger Gerichtsschreiber

    Aus Tübingen:

    Theologieprofessor Friedrich Gabelin

    drei Juristen

    Reinhild Rotnagel, Lehrerin in mittlerem Alter

    Johannes Kurzhals, junger Lehrer

    Matthias, Wärter im Hexenturm

    Hans-Peter, Scherge

    Karl, sein junger Kollege

    Zeugen vor Gericht:

    Böttcherin, Zimmermann Gotthilf Brenkle, Magd des Flickschusters, Enkelin der alten Trine aus der Spinnstube u. a.

    Weitere Kinder aus Bärenbrück:

    Lukas aus der alten Stadt, Hans, der „lange" Erich, die Zwillinge Paula und Philipp, Friederike u. a.

    Des Weiteren:

    Schuster und Schustersfrau, Pfründner(innen), Pfleger(innen), Kranke, Mägde, Knechte, Burschen, Spinnerinnen, Fischhändler(innen), Hebamme, Gerichtsbote, Bader, Quacksalber, Köchin, Scharfrichter, Arzt, Reitknecht u. a.

    Prolog

    Leute eilten herbei, lärmten und drückten den Mann gegen das Mädchen. Sie spürte seinen Bauch in ihrem Rücken, rutschte fast von der Fußbank, auf die man sie gestellt hatte, damit sie besser sehen konnte.

    Der Wind befreite dünne Strähnen ihres Haares, das über den Ohren zu Schnecken gedreht war, und spielte mit ihnen. Feucht strich der Atem des Mannes über ihren Scheitel – kitzelte, juckte und brannte.

    Die Masse verdichtete sich. Fast erstarb der Wind. Schwer lastete die Luft über den Menschen, gesättigt von zersetztem Schweiß. Ein Halbwüchsiger schlüpfte unter der Achsel des Mannes hindurch, der nun seine Hände zum Gebet erhob, und drängte sich vor das Mädchen. Sie war versucht, ihr Gesicht in seinem struppiggelben Schopf zu vergraben – wie in einem Kornfeld, draußen vor den Toren. Zum Gebet bereit, schob die Männerhand den Burschen beiseite, doch einen Augenblick lang war dem Mädchen die Flucht gelungen. Hinter zugekniffenen Lidern sah sie gelbes Korn wogen – spürte sie, wie die Sonne des vergangenen Sommers auf Haupt und Gesicht prallte.

    Wie siedendes Öl träufelten die Worte des Betenden durch ihr Haar. Kratzen durfte sie sich nicht. Am eigenen Schürzenzipfel, den sie zur schweißnassen Wurst gedreht hatte, suchten ihre Finger Halt. Die Stimme des Mannes schwoll an, und seine hart über die Lippen gestoßenen Laute trafen das Kind wie Hiebe. Warum betete er jetzt schon so eindringlich? Es war doch noch gar nicht soweit. „Und vergib uns unsere Schuld", hörte sie, dieselben Worte, die sie selbst täglich aussprach. Nur klangen sie aus seinem Mund so anders, als ginge es nicht um die Vergebung eigener Schuld. Dem Mädchen dagegen war, als hätte es schon immer Schuld getragen, als wäre es mit einem unsichtbaren Schuldbuckel geboren worden und könnte sich nur durch stetiges Beten allmählich aufrichten.

    So fest, dass es schmerzte, drückten und drehten die kleinen Finger an der Schürze, als wollten sie ihr Schweißtränen entringen. Das Gefühl eines Stockschlags auf die Knöchel ließ sie zum Gebet ineinander fahren. Offenbar hatte wieder der Teufel ihre Hände geführt und ihre Gedanken abgelenkt. Aufgeschreckt starrte sie auf den noch immer zur Wurst gedrehten Zipfel, versuchte ihn rasch glatt zu streichen und faltete wieder ihre Hände, ehe sie weiteres Unheil anrichten konnten. Artig kam das Vaterunser auch über ihre Lippen, wenngleich manche Silbe sich an spröder Haut zu ritzen schien. Ausgetrocknet war der Hals, brannte wie die Augen.

    Gegen jeden schlimmen Gedanken sofort anbeten! Diese Ermahnung hatte sich wieder einmal im hintersten Winkel ihres Gedächtnisses verkrochen. Besonders der Mann in ihrem Rücken, als Pfarrer einer der mächtigsten Teufelsgegner, mahnte ständig. Er musste also ihr engster Verbündeter sein. Warum nur fiel es ihr so schwer, ihn zu mögen, gerade jetzt, in dieser entscheidenden Stunde? Das Böse in ihr musste es sein, was ihn ablehnte. Ihre Haut sträubte sich, und die feinen Körperhärchen stellten sich auf wie Stacheln, als gelte es, einen Feind abzuwehren. Die Menge schob und drückte, umschloss enger das Geschehen auf dem Marktplatz – wie ein lebender Ring. Giebel vornehmer Häuser reckten sich nach vorn, als dürften sie ebenfalls nichts versäumen, und vertuschten mit ihren langen Abendschatten wie mit ausfließender Tinte die Gesichter der Zuschauer. Wer jetzt noch nicht zu den Versammelten gehörte, würde eine Randfigur bleiben müssen – und konnte sich damit sogar verdächtig machen.

    Aber das hatte kaum einer gewagt. Fast menschenleer war die übrige Stadt, wie es sich bei solchen Anlässen geziemte für eine Stadt voller ehrsamer Bürger. Wie sonst kaum, waren Vertreter aller Stände jetzt äußerlich wie innerlich vereint, wenn auch glitzerndes Geschmeide wichtige Herrschaften kennzeichnete und manch ausladender Hut ein hohes Haupt noch höher krönte. Andere zogen es vor, ihre Macht durch protestantische Schlichtheit zu demonstrieren – wie der Herr Pfarrer hinter dem Mädchen, an der Innenseite des Menschenringes. Obwohl seine Statur nicht beeindruckte, erschien es ihr, als stünde sie im Schatten einer hoch aufragenden Kirche, erstarrt vor Kälte bis ins Mark. Nicht einmal ihre Lider konnte sie mehr schließen. Weit aufgerissen starrten ihre Augen ins Innere des Kreises, der sich endgültig zur Vorstellung geschlossen hatte, nachdem die Menge den Akteuren nur widerwillig Einlass bot. Man fürchtete um seinen Platz.

    Inzwischen ergoss die Abendsonne ein intensiv blutendes Licht und ließ ein wenig davon über die Dächer der Stadt fließen. Das Mädchen, eingekeilt in der Menge, das der untergehenden Sonne so gerne nachsah, bemerkte sie heute nicht. Unhörbar flocht es eine Bitte in sein Gebet ein, aber Gott erfüllte sie nicht. Er griff nicht in das Geschehen ein, wollte offenbar, dass sie hier stand und auf die Frau starrte, die bis vor wenigen Wochen noch ihre Tante gewesen war. Jetzt war sie eine Hexe, und das musste wohl stimmen. Denn Gott schickte keinen Regen vom Himmel. Er ließ zu, dass das Feuer vom Scheiterhaufen Besitz ergriff und hoch aufloderte.

    Laut betete das Mädchen gegen seine Angst an, aber ihre Worte versanken bald in der Flut übriger Gebete, die in rhythmischen Wellen an- und abschwoll, näher rückte und bis zur Mitte des Marktplatzes schwappte. Sogar die Stimme des Pfarrers versank darin. Selbst vom Schauspiel eingenommen, entging ihm der erneute Ungehorsam der Kinderhände. So fest sie sich auch gegen beide Ohren pressten, konnten sie doch nicht verhindern, dass der Schrei der Brennenden in den Körper drang, durch die Eingeweide raste und warme Nässe aus dem Unterleib trieb. Der eigene Schrei, der ihr vielleicht ein wenig Erleichterung gebracht hätte, blieb dem Mädchen im Halse stecken. Sie atmete den Geruch verbrannten Fleisches – das Gesicht gerötet von der Hitze, das Weiß der tränenden Augen durchzogen von einem Netz roter Äderchen. Feuerschein und Schatten jagten über Stirn und Wangen, fingen sich im Spiegel der Iris, ließen sie glänzen wie im Fieberwahn.

    Auch jetzt tränten ihre Augen, inzwischen längst von einem Faltennetz umgeben. Und auch jetzt hätte sie gern geschrien und konnte nicht, starrte mit weit aufgerissenen Augen ins Kaminfeuer.

    „Großmutter, wie hat sie geschrien, die Hexe?", fragte das Kind.

    Die Alte hörte es nicht. Versunken in der Erinnerung, starrte sie weiter ins Kaminfeuer und sah alles wieder wie damals, konnte sich nicht davon abwenden – wie damals.

    „Großmutter, drängelte die Enkelin. „Wie hat sie geschrien?

    Die Alte rührte sich nicht. Starr wie damals verharrte sie, ihre Finger in die Schürze verkrallt. Erst als das Kind daran zupfte, wandte sie sich langsam zu ihm um.

    Die Kleine, sonst gar nicht ängstlich, erschrak. Den Blick noch immer in die Vergangenheit gerichtet, strich ihr die Großmutter übers Haar. „Das sollst du nie hören, nie. Und als müsste sie sich selbst davon überzeugen, fuhr sie fort: „Es war nicht die Stimme meiner Tante. Es war die Hex’, die aus ihr geschrien hat, die Hex’.

    „Großmutter, wie schreit denn eine Hex’?" Weit öffnete das Kind den kleinen Mund.

    „Sei still, Mariele, gebot die Alte und verschloss ihn schnell mit ihrer knochigen Hand. „Damit treibt man keinen Schabernack! Sonst gibt’s was mit der Rute. Wie die klingt, weißt du.

    Der Knecht, der bis dahin still in dunkler Ecke auf der Ofenbank zugehört hatte, lachte närrisch auf. Marie biss sich ärgerlich auf die Unterlippe. Ob dieser Schmerz wohl so ähnlich brannte wie der Biss der Flammen? Sie betrachtete die Großmutter und versuchte, sie sich als Kind vorzustellen. Strohblond wie sie, das Mariele, wäre sie gewesen, hatte sie gesagt. Doch trotz größter Anstrengung sah Marie in Gedanken nur eine kindlich verkleinerte Großmutter vor sich, mit aschengrauem Haar und matten Augen. Klein war sie inzwischen tatsächlich wieder geworden, und den Schuldbuckel konnte sie offensichtlich immer noch nicht abtragen.

    „Großmutter, bin ich auch schuldig?" Maries Trotz war purer Angst gewichen.

    „Alle, alle sind schuldig", murmelte die Greisin vor sich hin und legte ein neues Scheit Holz auf. „Seit jenem Abend im Herbst quält Gott mich mit dem Schrei des Bösen, damit ich sie nicht vergesse, meine Schuld.

    Marie wagte nicht zu fragen, ob die Großmutter den Versuchungen des Bösen stets widerstanden hätte. Sie wusste ja selbst, wie schwer es war, immer gehorsam zu sein. Auch ihre Finger verrichteten lieber anderes, als sich zum Gebet zu vereinen.

    Neugierig forschte Marie im unbewegten Gesicht der Alten, das wie ein grauer Stein mit zahllosen Furchen wirkte. Aber die bemerkte nichts davon, verharrte wieder in der Vergangenheit. Irgendwie war ihr Leben stehen geblieben an jenem Abend im Herbst – die zuletzt fiebrigen Augen im Aschenregen erloschen, der endlich auf Haar, Haut und Kleidung prasselte.

    I

    Der letzte lange Winterabend war verstrichen, doch die Geschichten am Kamin blieben unvergessen. Laue Frühlingswinde fegten durch Türen und Fenster, löschten das Feuer und trieben die erstarrten Glieder zur Geschäftigkeit an. Meist allein saß die Großmutter auf ihrem Stuhl in der Ecke und bewegte lautlos die Lippen. Bei ihr verlor der Frühling Jahr um Jahr mehr an Macht. Längst hatte sich der Altersfrost in ihre Gelenke eingenistet und wollte auch den Sommer über nicht mehr weichen. Nur Marie, die noch nicht recht im Hause mithelfen konnte, hockte oft zu ihren Füßen auf dem Schemel und konnte sich nicht satt hören. Sie wusste längst jedes Wort, das der Großmutter über die Lippen kommen würde und erzählte manchmal leise mit. Die Greisin wusste das nicht, denn ihre Ohren hörten das Feuer nur noch Kraft der Erinnerung, und Gesichter wurden zu einander immer ähnlicheren hellen Flächen, von denen sich Augen und Lippen nur unscharf abhoben.

    Wenn Marie aber ungelenk den Besen ergriff, sich über den Stiel wie auf ein Steckenpferd schwang und durch die Stube galoppierte, dabei das Reisig über den Boden schleifte und Staubwolken aufwirbelte, wiegte die Großmutter mahnend den Kopf, und ihre Lippen zitterten. Entriss dann die Magd dem Kind das Gerät und jagte es schimpfend hinaus, so beruhigte sich die Großmutter.

    Meistens lagen die Greisenhände ineinander gefaltet im Schoß, denn sie taugten fast nur noch zum Gottesdienst. Der, so fand sie, war in diesem Hause am nötigsten. Auch unablässige Buße hatte allerdings nicht verhindert, dass ihre Tochter nach Maries Geburt gestorben war, obwohl alles so leicht vonstatten ging, verdächtig leicht. Eiligst war Marie getauft worden, und es erschien wie ein Wunder, dass Gott dieses gebrechlich wirkende Geschöpf am Leben erhalten hatte. Sicher hatte er noch Wichtiges mit ihr vor. Die Großmutter war fest überzeugt davon und wachte mit inbrünstigen Gebeten über sie seit ihrem ersten Atemzug.

    Aber das einst so zarte Kind entwickelte eine ungeahnt kräftige Natur. Solange sie erzählte, konnte die Großmutter Maries wildes Wesen zu Ruhe und Andacht anhalten, doch mit dem letzten Wort schien der Bann zu reißen. Die Schilderungen weckten stärker die Neugier des Kindes als seine für so notwendig erachtete Furcht. Kein Zweifel – der Teufel wollte sich der Kleinen bemächtigen.

    Warme Frühlingswinde hatten die Winterkälte ausnehmend stürmisch verjagt und bereits in den ersten Märztagen des Jahres 1669 überall noch ruhendes Leben aufgescheucht.

    Entgegen dem Rat der Großmutter, das Kind besser noch unter häuslicher Kontrolle zu behalten, musste sich Marie im fünften März ihres Lebens mit zwei Zicklein bei Sonnenaufgang erstmals den zur Weide ziehenden Kindern anschließen.

    „Die anderen werden schon Acht geben", meinte der Vater zur leise in sich hinein murrenden Alten, womit für den wortkargen Mann alles dazu gesagt war. Seitdem er seine eigene Frau begraben musste, war er noch stiller geworden – fast so still wie die Toten auf dem Gottesacker, meinten die Leute. Keine hatte bisher seine zweite Frau werden wollen, und allmählich begann mit der Hoffnung auf einen Erben auch er selbst dahin zu sterben. Irgendwann, so tuschelte man hinter vorgehaltenen Händen, würde er sich wohl einfach selbst sein Grab schaufeln und nicht mehr zurückkehren.

    Mit einer Weidenrute trieb Marie die beiden Zicklein aus dem Stall und zur Umfriedung hinaus. Barbara Bickler, die flussabwärts wohnte, hatte das Kind von weitem bemerkt, war vom Hirtenweg ab die Kreuzgasse zum Schaffnerhaus entlang gelaufen und hatte das Gatter bereits geöffnet. Marie verzog das Gesicht. „Das hab’ ich selber machen wollen!", schrie sie und trieb die Zicklein, wild mit der Rute fuchtelnd, die leicht ansteigende Kreuzgasse hinauf.

    „Siehst fast aus wie unser Bock, lachte Barbaras jüngerer Bruder Michael, der mit dem anderen Vieh auf dem Hirtenweg, nahe der südlichen Stadtmauer, gewartet hatte. „Fehlen nur noch die Hörner, aber vielleicht sieht man sie nur nicht. Martin Heiliger, zwölf und fast einen Kopf kleiner als Michael, lachte zaghaft mit, was ihm den Spott des Älteren eintrug. „Und du hörst dich an wie unser Bock."

    Verschämt verstummte Martin und blickte sich um. Obwohl Michael laut gesprochen hatte, schienen andere Kinder es nicht mitgekriegt zu haben, waren noch zu weit entfernt.

    Maries runde Stirn glühte trotzigrot, als sie vergeblich versuchte, ihre beiden von den anderen Ziegen und Schafen abzutrennen. Durch Michaels erneutes Gelächter in diesem Bemühen erst recht angefeuert, rannte sie in inmitten der Herde den Hirtenweg flussaufwärts, an der Stadtmauer entlang. Rechter Hand drängten sich Lehm- und Fachwerkbauten aneinander, immer schiefer und dichter, immer mühsamer geteilt vom Gassengewirr, je näher Bärenbrücks ältester Stadtteil rückte. Kinder, Haus für Haus ärmlicher, in Kleidern, zusammengeflickt wie Gemäuer und Fensterläden, trieben ihr Vieh aus engen Seitengässchen hinaus zum Weideweg und schlossen sich den anderen an. Mit armseligen Glöckchen im Dachstuhl erhob sich der Turm der Spitalkirche über die umstehenden Dächer. Im Vorbeigehen warfen die Kinder flüchtige Blicke durch die Seitengassen zum Spitalplatz, aus ihrem Gedankentrott gerissen von den Rufen der Stadtarmen und durchziehenden Bettler. Die äußere Stadtmauer beschrieb einen Bogen und zwang die Hirten näher heran. Hier war die Glutach noch schlank und verschwand fast zwischen den inneren Mauern, die sie säumten.

    Das nordwestliche Ufer stieg nach einer schmalen Häuserzeile steil an und hob sich vom alten Stadtteil ab mit versetzt gebauten Patrizierpalästen, zwischen denen sich paradiesisch anmutende Gärten erstreckten. Dahinter, jenseits der äußeren nördlichen Stadtmauer, schienen Weinberge bis an den jetzt wolkenlosen Himmel heranzureichen und ließen ihre Reben von der Märzsonne verwöhnen.

    Mühsam hielten die Kinder das hungrige Vieh auf dem eingetretenen Hirtenweg, bis sie die letzten Häuser im Rücken hatten, an der Rennermühle vorbei waren und das nordwestliche Stadttor passierten. Von hier an wand sich die Glutach in immer engeren Schleifen. Wenn das Gras erst höher spross, würde es scheinen, als wüchsen beide Weidehälften ein paar hundert Fuß weiter am Waldsaum zusammen. Von dort an ließ sich die Glutach zwischen dunklem Nadelgehölz bis zu ihrem Ursprungsquell verfolgen. Halbwüchsigen Burschen galt es manchmal als Mutprobe, allein im Bärenwald zu verschwinden und nicht ohne stattliche Beute zurückzukehren. Meistens handelte es sich dabei um einen Eichelhäher oder ein Wiesel. Doch konnte man unter Umständen leicht selbst im Bärenwald zur Beute werden. Über Generationen hinweg überlieferte sich, dass einst – wann, wusste niemand mehr genau zu sagen – ein Hütebub seine Schafe zu nah an den Wald herangeführt und dadurch einen neugierigen Braunbären angelockt haben sollte. Tapfer habe er seine Herde verteidigen wollen, sei aber von dem Untier ergriffen und in den Wald geschleppt worden. Später habe man nur noch seine Gürtelschnalle gefunden und den Eltern zum Andenken gebracht.

    Mit der Zeit wurde diese Geschichte zur Legende. Zuletzt erzählte man sich, unter der weißen Herde wäre ein schwarzes Schaf gewesen, das den Buben zum Wald gelockt hätte, denn unter seinem Fell steckte der Teufel. Seitdem vermied es, wer konnte, seine Kinder mit einem schwarzen Schaf zu diesem Weidegrund zu schicken.

    Die jungen Viehhirten packten ihre getrockneten Hirsefladen aus, schöpften mit Holzbechern Wasser aus der Glutach und hockten sich am Uferrand ins Gras oder auf herumliegende Steine. Ziegen und Schafe stillten ihren Durst und begannen gemächlich zu grasen.

    „Marieles Ziegen sind genauso zickig wie sie." Grinsend beobachtete Michael, wie eine der Braun-weiß-gescheckten mit gesenktem Kopf ein Schaf von einem frischgrün sprießenden Grasflecken wegstieß.

    Barbara warf der Kleinen einen mahnenden Blick zu. „Das Mariele weiß schon, dass es sich nicht so benehmen darf wie das dumme Vieh, nicht wahr, Mariele?"

    Das Kind schützte einen vollen Mund vor und nickte, ohne Barbara anzusehen. Der fast Erwachsenen oblag die unausgesprochene Pflicht, nicht allein auf ihre vierbeinigen Schäfchen zu achten. Seit den ersten Weidetagen dieses Jahres fiel ihr auf, dass die zehnjährige Anna Wagner dauernd ihre Nähe suchte. Auch jetzt saß sie wie zufällig neben ihr und rieb das feine Blondhaar an ihrer Schulter, eifersüchtig beäugt von Martin, der sich sehnsuchtsvoll an Annas Stelle wünschte. Doch seit einiger Zeit verwehrte ihm Barbara eine solche Nähe, zumindest in der Öffentlichkeit.

    „Ist ja nicht dumm vom Vieh, wenn es sich durchsetzt", gab Michael zu bedenken.

    Barbara seufzte. „Von uns Menschen verlangt Gott, dass wir Rücksicht aufeinander nehmen."

    Michael zückte das Messer an seinem Gürtel und schnitzte an seiner Weidenrute herum. „Ich hab’ schon viele gesehen, die sich nicht gottgefällig benommen haben und dafür sogar belohnt worden sind."

    „Der Herr Pfarrer sagt, dass unser Herrgott dem Bösen absichtlich so viel Macht lässt, weil er uns dadurch prüfen will."

    „So, sagt er das?" Nicht nur Michael wunderte sich über Annas Worte. Bisher sprach sie nur, was unbedingt nötig war.

    „Sicher Michel", bestätigte Barbara, die sich über den Hochmut in des Bruders Stimme ärgerte. „Du hättest es eigentlich auch hören müssen, oder hast du in der Schule geschlafen?

    Der Junge sprang auf und trieb mit der Rute zwei Schafe auseinander, die sich friedlich beknabberten.

    „Ich hab’ es gehört", behauptete Marie.

    Michael wollte gerade noch mal zuschlagen, hielt in der Bewegung inne und lachte. „Du? Du gehst doch noch gar nicht zur Schule."

    Barbara strich der abwehrenden Marie über das Haar. „Ich weiß aber trotzdem, dass es so ist, beharrte das Kind, „und noch viel mehr weiß ich. Wenn ich Großmutters Zaubersalbe dabei hätte, würde ich die Gerte damit einreiben und ordentlich zuhauen. Dann wollten sich Ziegen und Schafe gleich miteinander vertragen. Mit der Zaubersalbe kann man aber noch viel mehr anfangen. Die Großmutter reibt nachts immer den Besenstiel damit ein, bevor wir ausfliegen.

    Die Worte purzelten aus ihrem Mund und überschlugen sich, als Marie erzählte, wie die Großmutter sie oft in der Nacht wecke und in die Stube hinunterführe. Dort stünde schon der Besen über dem Boden in der Luft und warte. Die Fensterläden seien weit aufgerissen, und der volle Mond leuchte silbern herein. Dann sausten sie auf dem Besenstiel durch das Fenster, auf den Mond zu. Die Haare flatterten im Wind, und die Großmutter hinter ihr lache immer lauter. Bald landete der Besen hier.

    Maries Augen schweiften über die Wiese. Michael öffnete den Mund, um gegen ihr Geplapper anzusprechen, aber irgendetwas ließ ihn innehalten. Zu seinem eigenen Erstaunen lauschte er gebannt den Worten der Kleinen – er, der sich mit seinen vierzehn Jahren endlich den anderen Knaben bei ihren Zusammenkünften anschließen durfte.

    Die unerwartete Aufmerksamkeit bestärkte Marie. Ein lustiges Treiben sei hier gewesen, ereiferte sie sich, viele Leut’ – so viele, dass man die Wiese nicht mehr gesehen habe.

    „Leute? Barbara zögerte. „Aus Bärenbrück?

    Marie nickte und plapperte weiter. Die Schustersfrau habe sie gesehen und den Lukas, der in der alten Stadt wohne, ganz nah am Fluss – und noch viele andere. Getanzt hätten sie alle, um ein großes Feuer herum, worin Fleisch am Spieß gebraten worden sei.

    Das Kind sprang auf und tanzte über die Wiese. Alle sahen ihm zu. Auch Schafe und Ziegen hoben die Köpfe.

    Anna drückte sich an Barbaras Seite und erschrak, als sie spürte, wie selbst die Neunzehnjährige zitterte. „Mich fröstelt, meinte sie, rieb sich die Arme und bedachte Anna mit einem entschuldigenden Blick. „Es ist eben noch recht frisch hier draußen.

    Anna nickte scheu. Als Barbaras Augen unversehens Martins begegneten, wandte sie sich abrupt ab und fröstelte nur noch mehr, fragte sich, was ihr solch einen Schrecken einjagte. Es war nicht allein jene seit einiger Zeit stets gegenwärtige Verlorenheit im Blick des Jungen. Da war noch etwas anderes. Aber ehe Barbara darüber nachdenken konnte, erforderte wieder Marie ihre Aufmerksamkeit. Die Kleine erstarrte in tänzerischer Pose, als sei ihr etwas Wichtiges eingefallen, und deutete auf den Fluss. „Da bin ich getauft worden – genau da!, rief sie aus. „Aber das Wasser war ganz rot.

    „Das hast du einmal so gesehen, als die Sonne untergegangen ist und sich im Wasser gespiegelt hat", meinte Barbara beschwichtigend.

    „Nein, es war blutig. Marie duldete keinen Widerspruch. „Meine Großmutter hat mich dem Teufel vorgestellt. Der hat mich geritzt und mit meinem Blut getauft.

    Wie sollte dieses ahnungslose Ding auf dergleichen kommen – wenn es nicht so gewesen war? „Und – hast du dem Heiland abschwören müssen?" Michaels Stimme fieberte.

    Marie schüttelte gelassen den Kopf. „Nein, das hab’ ich nicht getan. Dafür bin ich noch nicht verständig genug, hat meine Großmutter gemeint."

    „Dann ist es noch nicht zu spät für dich – vielleicht. Barbara sah den Kindern an, dass ihre Worte verrieten, wie ernst sie Maries Geschichten nahm. „Ach was, das hast du dir doch alles nur zusammengesponnen, fügte sie schnell hinzu. „Erzähl’ niemandem mehr davon, hörst du? Und lustig kann das schon gar nicht gewesen sein."

    Marie spürte die verhohlene Neugier der Großen. „Oh doch, doch, furchtbar lustig war’s. So viel Freud’ darf ich sonst nie haben."

    „Wenn es so lustig ist, will ich auch mal dabei sein. Ich erzähle es keinem."

    Barbara fuhr ihrem Bruder über den Mund. „Michel, hör’ nur, was du da sagst."

    „Du hast mir nichts zu sagen, wies der Junge seine Schwester zurecht. „Mir können sie so leicht nichts anhaben. Dir würde ich es freilich nicht raten.

    „Michel, wiederholte Barbara, „auch wenn du schon vierzehn bist und die anderen Knaben dich aufgenommen haben – das Böse soll man nicht herausfordern. Dem kann auch ein ausgewachsenes Mannsbild anheim fallen.

    „Ich werd’ ihm standhalten."

    Barbara erschrak über die Entschlossenheit in Michaels Stimme und bereute, dass sie offensichtlich seine aufkeimende Mannesehre angegriffen hatte. Nun musste er erst recht darauf bestehen und durfte sich vor den Mädchen, besonders vor der erst Fünfjährigen, keine Blöße geben. Insgeheim beschloss Barbara, zu Haus nochmals auf ihn einzuwirken.

    „Wirst schon sehen, sprach Michael in ihre Gedanken hinein, „wie ich mit dem Teufel umspringe. Dabei rannte er auf einen Ziegenbock zu, fasste ihn an den Hörnern und zerrte ihn im Kreis herum.

    Barbara entzog sich seinem Blick, der Zustimmung heischte, und sah zum Frühlingshimmel. So hell, so klar leuchtete er – jetzt, nachdem der Winter hoffentlich vertrieben war. Lautlos sandte sie ein Stoßgebet hinauf.

    Die Hütekinder auf der anderen Seite mieden das direkte Ufer, denn angeblich hatte die Glutach bisher nur unter ihnen Opfer gefordert. Kaum einer glaubte dabei an einen Zufall, zumal Ermittlungen ergeben hatten, dass Unglücksfällen stets Streitigkeiten zwischen Kindern beider Seiten vorausgegangen waren. Obendrein lag das Judengässle im alten Stadtteil, auf südwestlicher Seite. Sogar Erwachsene gingen nicht nah am Ufer entlang, obwohl Kinder beliebtere Opfer böser Wünsche waren und deshalb öfter ertranken – nach allgemeiner Überzeugung. Nordwestlich verlief die Mauer ohne Tor, und erst innerhalb der Stadt, östlich der Spitalkirche, führte der schmale Fischersteg zum anderen Ufer hinüber.

    So blieb dem von Osten kommenden Besucher oder Durchreisenden der Weg durch die Armut nicht erspart, es sei denn, er schlug einen Bogen zum nördlichen Tor. Dann konnte er durch die Weinberge spazieren, den Duft frischen Grüns atmen und seinen Durst auf den Rebensaft anregen. Wem die Wahl blieb, seine Tageszeit dermaßen lustwandelnd zu verbringen, der gehörte sowieso auf die Sonnenseite.

    Gottlob Lammer war auf der Sonnenseite ansässig, zwischen den Palästen der Patrizier. Auch er sah oft auf die Bewohner der armseligen Häuserzeile am nördlichen Ufer der Glutach herab, die immerhin im Schatten der patrizischen Anwesen lag – allerdings hauptsächlich von der Kanzel aus. Pfarrer Lammer war davon überzeugt, dass vor allem diese Menschen, wie jene auf der anderen Seite, obrigkeitlicher Aufsicht bedurften und unter ihnen wiederum in besonderem Maße die Kinder, welche noch schwach und formbar waren, also begehrte Objekte des Teufels. In diesem Bewusstsein hatte Lammer bereits kurz nach seinem Amtsantritt vor knapp zwanzig Jahren den ehemaligen Kornspeicher am Fuße des Pfarrhauses zu einer Elementarschule umbauen lassen. Das hatte sein Durchsetzungsvermögen hart gefordert, waren doch die Einschnitte des erst ein Jahr zuvor beendeten Krieges in Bärenbrück wie überall sonst tief und nur allmählich zu heilen. Die Leute konnten sich nicht für die Schule begeistern, denn dann mussten sie ja täglich mehrere Stunden die Mitarbeit ihrer Kinder entbehren. Natürlich wollte jeder mithelfen, die Kleinen zu gottesfürchtigen Christen zu erziehen, was laut Lammer nur werden konnte, wer den Katechismus fleißig lesen und auswendig aufsagen lernte. Außerdem hatten viele noch miterlebt, was einer Stadt drohte, wenn das Böse in ihren Gassen erstmal Fuß gefasst hatte und nach dem griff, worin ihre Zukunft lag – nach den Kindern.

    Wo also einst Heu und Feldfrüchte lagerten, beschloss Lammer, künftig in Gottes Sinne menschlichen Geist und Seele unter seinen Augen reifen zu lassen.

    Zuerst unterrichtete Gottlob Lammer selbst, doch als verantwortungsbewusster Hirte durfte er sich nicht nur den Lämmern seiner Herde widmen. Bei den Knaben vertrat ihn inzwischen fast ständig Johannes Kurzhals, ein etwas zur Melancholie neigender, aber tüchtiger junger Gelehrter. Zur Unterrichtung der Mädchen lenkte Gott Lammers Augenmerk bald auf Reinhild Rotnagel, eine patrizische Jungfer, die durch ihre fast unweibische Gelehrsamkeit einen zweifelhaften Ruhm errungen hatte und dem Heiratsalter entronnen war. Was jedem möglichen Heiratswilligen zu suspekt war, erschien Lammer einer Herde Schulkinder gerade angemessen.

    Jungfer Rotnagel fügte sich in das Lehramt, und über die Jahrzehnte hinweg hatte sich kaum etwas in Bärenbrücks Elementarschule verändert, einschließlich des Kampfes, den Lammer um jeden Schultag mit den Eltern führen musste. Er begann auch in diesem Frühling, sobald das Vieh wieder auf die Weide durfte und die Felder bestellt werden mussten.

    An einem Märzmorgen stand Gottlob Lammer vor dem Portal seines Hauses und sah den Schulberg hinab. Der Ärger glomm noch in seinen Augen, grub sich in die verkniffenen Mundwinkel und erschreckte einige Kinder, die gerade den Schulberg heraufkeuchten, weil sie so spät dran waren, erst noch das Vieh füttern oder den Stall ausmisten halfen. Ein artiger Gruß entrang sich ihren atemlosen Mündern, ehe sie im Schlund des Schulhauses verschwanden. An immerwährendes Schuldigsein gewöhnt, ahnten sie nicht, dass Lammers Ärger eigentlich nicht ihnen galt.

    Wie die Vergangenheit gelehrt hatte, musste ein Gottesdiener in Bärenbrück Augen und Ohren überall haben. Zusätzlich bediente sich Lammer fremder Sinnesorgane. Die der Kinder waren mitunter am schärfsten, dazu meistens noch rein und unverlogen – allen voran die des eigenen Sohnes, wie Lammer glaubte. Da er ohnehin in seines Vaters Schuhe hineinwachsen musste, sollte Heinrich Lammer jetzt schon Aug und Ohr für seine künftige Aufgabe schulen.

    Heinrich war in den Schulraum für die Knaben gegangen, noch bevor sein Vater ihn fragen konnte, ob er die Anna Wagner gesehen habe. Jungfer Rotnagel war nämlich aufgefallen, dass das Mädchen plötzlich nicht einmal mehr die ersten Fragen des Katechismus flüssig aufsagen konnte und auch sonst irgendwie verändert schien. Seit drei Tagen war sie der Schule fern geblieben, wahrscheinlich zum Hüten geschickt worden, wie so viele andere Kinder. Lammer beunruhigte, dass Anna nahe der Gasse wohnte, wo sich das Unheil einst zuerst eingenistet hatte. Ihre womöglich bereits angegriffene Seele konnte nun draußen, außerhalb der behütenden Stadtmauer, noch empfänglicher sein für das immer lauernde Verderben.

    Lammer hörte das vielstimmige Morgengebet durch die Mauern dringen und schritt den Schulberg hinab. Nur wer seinen üblichen Gang genauestens kannte, hätte seine kaum verhohlene Eile bemerkt. An der Kirche, kurz oberhalb des Marktplatzes, mündete der Schulberg in das Neue Kirchgässle, welches nur durch ein paar gutbürgerliche Bauten vom Zentrum der Stadt getrennt wurde. Als Lammer der Gasse ein Stück flussabwärts der Glutach folgte, fiel sein Blick auf das linkerhand etwas versetzt hinter dem Kaufhaus stehende Gasthaus zum Ochsen. Lammer schweifte ab und warf ihm dann einen zweiten, einen missbilligenden Blick zu, der an dem jetzt unbelebt wirkenden Gebäude abprallte. Wurde der Wagner Hannes dort in letzter Zeit nicht beinahe allabendlich gesehen, in wenig rühmlichem Zustand, und vernachlässigte er etwa seine hausväterlichen Pflichten?

    Bestärkt in seinem Vorhaben, schritt Lammer aus, überquerte nach dem kurzen Abschnitt der in den Marktplatz mündenden Büßergasse die Täuferbrücke und folgte am anderen Flussufer weiter der Büßergasse, bis sie auf das Alte Kirchgässle stieß. Nur wenige Fuß weit wieder flussaufwärts musste er nun zwischen bescheiden sich ihm zuneigenden Anwesen zurücklegen. Schon als das Rauschen der Glutach hinter seinem Rücken verebbte, glaubte er fern in noch frühmorgendlicher Stille den hellen Klang des Schmiedehammers zu vernehmen. Lammer wandte den Kopf nach links, woher das Geräusch kam, das ihn mit jedem Schritt einsilbiger anmutete.

    Das unentwegte Weiterhämmern teilte Lammer mit, dass Wagner ihn nicht kommen sah, obwohl die Schmiede nach Osten hin lag. Wie ertappt, hob der Schmied den Kopf, sprang von seinem Schemel auf und strich sich das verklebte Haar aus der Stirn, als der Geistliche vor ihm stand. „Gott zum Gruß, Herr Pfarrer – so früh hier bei mir?"

    Lammer ließ seinen Blick über die schweißglänzenden, muskelgestählten Arme gleiten. „Wie ich sehe, Meister Wagner, seid auch Ihr schon fleißig bei der Arbeit."

    Wagner reckte den Hals und blinzelte in die Sonne. „Meine Arbeit beginnt, sobald mir der Herr genug Licht dazu schickt."

    Lammer nickte. „So ist es recht, Meister Wagner, wider den Müßiggang."

    „Ja, ja, brummte Wagner und kratzte sich überlegend am Kopf. „Sie hat schon viel Kraft für die Jahreszeit, plauderte Lammer betont harmlos weiter und sah unverwandt in Wagners Augen, die jetzt glühten wie heißer Stahl. Den Pfarrer überraschte das unbestimmte Gefühl, als würde sich dahinter mehr verbergen als der gewöhnliche Respekt vor der Geistlichkeit. „Denkt Ihr auch daran, Eure Tochter zu ebensolch christlichem Verhalten zu erziehen?"

    „Ja, ja – die Sonne hat viel Kraft", plapperte Wagner nach.

    Lammer sah sich um, als suche er etwas. „Eure Tochter, habt Ihr sie auf die Weide geschickt?"

    „Die Anna?"

    Lammer lächelte. „Habt Ihr noch andere Töchter?"

    Wagner schüttelte den Kopf. „Ich weiß schon, Ihr kommt wegen der Schule."

    Lammer nickte gnädig, wie ein Lehrer, dessen etwas begriffsstutziger Schüler endlich die richtige Antwort gab.

    „Ich brauche sie dringend zum Hüten, versuchte sich Wagner zu rechtfertigen. „Außerdem – als Mädchen...

    „Ihr wisst, wie wichtig es gerade für ein Mädchen ist, den Katechismus gut zu kennen?"

    Der breitschultrige Mann nickte gehorsam und schien ein wenig zu schrumpfen. „Ja, ich hab’ gedacht, das würde sie wohl schon alles wissen, was für sie wichtig ist."

    Lammer ließ sich Zeit mit seiner Erwiderung. „Nun, es sah auch so aus, aber... Er hielt inne und wartete ab, bis die Unruhe in Wagners Blick sich noch steigerte. „Bitte redet doch weiter, Herr Pfarrer, bettelte er endlich. „Was hat sie gesagt – ich meine, hat sie irgendwas gesagt?"

    ‚Was sollte sie wohl gesagt haben?’, dachte Lammer. „Eben nicht, sie stottert neuerdings sogar oder gibt es vor – vielleicht, weil sie verbergen will, dass sie nicht gelernt hat. So jedenfalls vermutete es meine getreue Jungfer Rotnagel. Allein dieser Tatbestand – sollte er sich bestätigen ­, wäre bereits höchst bedenklich."

    Lammer hielt in seiner Rede inne und gewahrte erstaunt, wie Wagner in seine äußere Statur zurückzufinden schien. „Stottern hab’ ich sie zu Hause noch nicht hören, Herr Pfarrer. Sie ist meist sehr still, ja, ein stilles Ding, meine Anna. Ist doch besser für ein Mädchen, als wenn es so vorlaut ist."

    „Aber sie antwortet brav und flüssig auf alles, was man sie fragt?, hakte Lammer so geschwind ein, dass Wagner nahtlos anschloss: „Ja, ja, gewiss tut sie das.

    Lammer räusperte sich siegessicher. „Das spräche dann allerdings dafür, dass sie in der Schule doch ihre Wissenslücken aus dem Katechismus verbergen will."

    Wagner sah zu Boden, auf die blanken Schuhe des Geistlichen, deren Spitzen unter dem schwarzen Gewand hervorlugten, nickte ergeben und blickte verwundert wieder auf, als der Pfarrer eine scheinbar harmlose Frage stellte. „Versteht Eure Anna gut mit dem Vieh umzugehen?"

    Wagner nickte eifrig. „Ja, sehr gut. Es ist ja auch die Barbara dabei und passt mit auf."

    Lammer wiegte den Kopf. „So so, die Tochter der seligen Bicklerin."

    Verunsichert sah Wagner in Lammers Gesicht, das Bedenken ausdrückte. „Was meint Ihr damit, Herr Pfarrer?"

    „Nichts, nichts. Lammer winkte ab. „Sie ruhe in Frieden.

    „Wenn Ihr das sagt...", beruhigte sich Wagner.

    „Davon abgesehen, Meister Wagner, der Mensch kommt vor dem Vieh. Also habt ein wachsames Auge auf Eure Tochter und schickt sie zur Schule."

    Während der Schmied noch beteuerte, dass er das tun wolle, hatte sich der Pfarrer abgewandt und vernahm fern hinter sich wieder das einsilbige Hämmern.

    Nur gelegentlich, wo Seitengassen abgingen, war die Mauer diesseits der Glutach unterbrochen, als Zugang für Fischer und Wäscherinnen. So begleitete Lammer, von kurzen Einblicken abgesehen, allein das gleichförmige Rauschen des Wassers, als er das Alte Kirchgässle entlang flussaufwärts schritt. Menschen, an denen er vorbei kam, sahen flüchtig von ihrer Arbeit auf und grüßten ihn ebenso verwundert wie ehrfürchtig. Seltsam fremd fühlte er sich hier, beunruhigend fremd für einen, der die Leute gut genug kennen sollte, um Einfluss auf sie zu nehmen. Freilich blieb ihm der Knüppel kirchlicher Macht für alle Zweifelsfälle. Wer andere züchtigen konnte, ob mit Zunge oder Rute, stand notgedrungen abseits. Gottlob Lammer fühlte sich nicht nur allein, sondern einsam – im quälenden Bewusstsein, dass er dieses Empfinden nicht nur der Gegend hier zuschreiben konnte. Sein Haupt erhoben, den Blick stur geradeaus gerichtet, ließ er das nahe der Ufermauer erbaute Haus des Totengräbers Schaffner hinter sich, ging nun doch merklich schneller und überquerte die das Alte Kirchgässle wenige Fuß vor der Spitalkirche kreuzende Hirtengasse. Schließlich erwarteten ihn heute noch zahlreiche Aufgaben, zuerst eine Unterredung mit Spitalpfarrer Gernot Weiß.Das Alte Kirchgässle führte fast bis zum Chor, so dass Lammers weit wehendes Gewand im Vorbeieilen beinahe das schadhafte Gemäuer des Langhauses streifte. Ohne direkt hinzusehen, vernahm er die leisen Klagen der an der Chormauer angesiedelten Bettler. Es waren fast täglich andere, denn man duldete keinen lange in der Stadt, und doch glich die Armut sie zumindest äußerlich schnell einander an. Drinnen in der Kirche, während des Gottesdienstes, wenn die Worte seiner Predigt auch ihn tröstlich ablenkten, dazu noch das fahle Licht, ertrug Lammer die Gegenwart der Elenden leichter. Gewiss verlangte Gott ihm ab, auch hinter ihrem faulen Atem und unter ihrer Haut, die schmutzigem Teig ähnelte, zudem noch mangelhaft verdeckt war von nicht mehr zu flickenden Lumpen, edle Abbilder seiner selbst zu erkennen. Doch es war – weiß Gott –, immer wieder eine der schwierigsten Prüfungen. Am wenigsten widerten ihn

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