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Tinser
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eBook311 Seiten4 Stunden

Tinser

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Über dieses E-Book

Tinser ist der Anführer einer kleinen Gruppe abgerissener Menschen, die, einst deutsche Kriegsgefangene des Ersten Weltkriegs, nach den Wirren der Revolution ihren Lebensunterhalt im fernen Sibirien als Platinschürfer fristen. Als sie die Rückkehr nach Deutschland beschießen, ahnen sie nicht, welche Abenteuer und Strapazen vor ihnen liegen ... Für Tinser beginnt eine lange Reise über viele Stationen in etlichen Ländern hinweg. "Tinser" war Leips erste Romanveröffentlichung, nachdem ihm mit seinem Erfolgsroman "Godekes Knecht" der spektakuläre Durchbruch gelungen war, und er steht dem großen Vorgänger in nichts nach!-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum15. Jan. 2016
ISBN9788711467572
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    Buchvorschau

    Tinser - Hans Leip

    www.egmont.com.

    1

    Die Schurfjäger

    Es ist dort im Ural, fern aller guten Welt, wo sich die Reste gesammelt haben. Deutsche Gefangene, durch die russische Revolution befreit, von der Koltschakarmee neu gepresst und bewaffnet, in den Taglaisümpfen verziert und zermergelt, von den roten Soldaten gehetzt, zerrieben, verschlagen in die gottleeren Öden, bis weit hinter den Töllpos und dahin, wo schon die Tundren ihre giftgrün vereisten Zungen an die Felsstürze lehnen.

    An dreissig Mann, das ist der Rest, der arme Rest der ungeheuren Läger von Wostronoi, ja von damals, als noch der sibirische Sommer so warm und feldergrün über den toten Tagen lag.

    Aber hier ist ein anderer Sommer. Hoch unter den Kämmen bettet sich eine Senke, ein Moostal, mager und nass. Am Südhang etwas Knieholz, davor ein unregelmässiges, heftiges Bachgeriesel, Wollgras an den Rändern, im Norden milchig schillernde Sumpflöcher, das ist alles. Und im Norden hebt sich die Wand steil in den Himmeldunst, ein wenig den Atem des Eismeeres dämpfend, der unversehens in die grausamen Nächte schneidet.

    Dort hausen sie in ihren Bretterzelten, dürr, zäh, vom Schicksal gegerbt, wie Wogulen dumpf und bedürfnislos. Einige Weiber sind dabei, tatarisch, wotjakisch, und Kinder, fremdartig verzerrt, aus dem Abfall der Jahre dazu geworfen.

    Platingräber sind sie. Schurfjäger. Seit sie im Taglaigrund das graue Metall kennengelernt haben, hat sie das Sucherfieber nicht verlassen, die Platinkrätze, die teuflische Benommenheit, und sie wühlen und kratzen, sieben und wäschern, und in ihren brandigen Augenhöhlen brennt das Fieber bei Tag und Nacht. Im grossen Hungerjahr haben sie den letzten Vorstoss zur Rückkehr gewagt, als sie noch weit über zweihundert waren. Was wiederkam und den Winter in den Ruinen des Syrjänendorfes am Talfuss verbrachte, das hatte das starre Unbewusstsein von Tieren um den Mund. Den Sommer sind sie wieder hinaufgezogen durch die endlosen Birkenwälder, von der roten Knute und vom Platinfieber getrieben, von dem Bericht des wogulischen Jägers verlockt, höher und nördlicher hinauf, und er hat nicht gelogen.

    Die moorige Senke enthält das begehrte, so irrsinnig wertvolle Metall. Aber ihre Werkzeuge sind lächerlich, und einige ziehen vor, mit den Händen in der widerlich feuchten Erde zu wühlen.

    Wolken scheuern über die Kämme, rauchen triefend über das Tal. Nur mit Mühe kreiselt die Sonne gegen Mittag durch den Dunst. Wie ein weisslicher Platinklumpen hängt sie da, aber sie rollt eilig und höhnisch über den Südkamm davon.

    Und sie hocken in den Schurfen wie in offenen Gräbern, hinter den trübe wachsenden Schuttkegeln, wortlos, hüstelnd, gichtig, verstruppt und verlaust. Der winzige Ertrag stachelt sie immer wieder an. Wenn sie genug haben, wollen sie in die Ebene, Pferde kaufen und auf und davon und herrlich leben. Denn einmal wird wieder Friede sein da unten, wo es warm und feldergrün ist. Und sie wollen die Flüsse hinab zu den Ansiedlungen, wo Menschen im trockenen wohnen, und wollen bis an die Eisenbahn reiten oder auch zu Fuss, und wollen nach Deutschland zurück und in die Heimat.

    Stoi und Tinser, das sind ihre Führer, Stoi, weil er ein fabelhafter Kletterer und Elchjäger ist und für manchen Braten sorgt. Einstmals war er der bayrische Hauptmann Staudelhofer. Tinser jedoch hat ihnen die Schmiede eingerichtet und die Feinwage aus dem Nichts hergestellt, und er hat durch die Jahre ein Notizbuch gerettet, das zur Hälfte noch frei ist und in welchem eines jeden Anteil vermerkt wird. Sie machen sich beide nicht soviel aus dem Platin, vielleicht nicht ohne Grund, und haben auch keine Schurfen.

    Da ist auch noch Brammer, der früher Schlosser war; er hat aus einem guten, harten Kochgeschirr eine verschliessbare Sache gemacht, und Tinser hat den Schlüssel dazu, und wenn einer ein Körnchen gefunden hat, so wird es gewogen, aufgeschrieben, und Tinser legt es in das vormalige Kochgeschirr, welches sie das Kompaniespint nennen. Es ist eine kindlich einfache Behandlungsweise, den Umständen angemessen. Aber sie vertrauen Tinser, er hat jahrelang bewiesen, dass er ein rechter Kerl ist, und in seiner Hütte werden auch die Waffen aufbewahrt. Von den Gewehren sind nur fünf noch brauchbar, ausserdem haben sie nur wenig Patronen. Wenn einer darum auf die Jagd will, so muss er mit Stoi gehen, und bei ihrer Rückkunft werden die Gewehre wieder in Tinsers Hütte gestellt. So hat man es aus guten Gründen beschlossen.

    Aber selten findet einer Zeit, mit Stoi zu gehen, denn man darf nur schiessen, wenn man etwas trifft, und es pflegt immer beschwerlich zu sein. Das Tal wimmelt von Hasen, es ist wie eine grosse Gnade das Jahr, und man fängt sie besser in Schlingen vor den kleinen Haferflecken, die an der Halde gepflanzt sind.

    Das Schmiedefeuer übrigens darf niemals erlöschen. Die Tatarenweiber suchen auch die Quellflechte, die eine glasige Masse ergibt, wenn man sie kocht, und sie haben eine Feldküche durch alle Fährnisse hindurchgezogen, aber die Pferde, die einst dazu gehörten, sowie auch die letzten Hunde haben sie längst gegessen. Bald sind die Moosbeeren reif, dann werden die Weiber einen Schnaps brauen, und alle freuen sich darauf.

    Wenn Tinser mit Stoi geht, dann gibt er den Schlüssel an Brammer. Er gibt ihm auch ohne Bedenken das Notizbuch, denn die Aufzeichnungen von früher sind in Kurzschrift geschehen.

    *


    Wieder einmal sind sie unterwegs, einer Bärenfährte nach. Sie überschreiten den niedrigen Westpass, wandern durch das mit Krüppelkiefern bestandene Tal den langen Bogen nach Süden hinab in die Richtung des Jenga-Passes und beginnen in einer Geröllhalde den Gebirgsstock hinanzuklettern, der die Moossenke im Osten und Norden so steil und unzugänglich abschliesst. Den Mantel schräg um Schulter und Hüfte gerollt, die Flinte quer hindurchgesteckt, so steigen sie höher und höher, das Seil am Koppel, die Beine in Pelz verschnürt, urbärtig, und das Haar krault ihnen unter der Fellmütze über den Nacken.

    Die Halde verengt sich zur Schlucht. Stoi behauptet, die Spur zu kennen. Graurostig und nass verschwinden die Wände in den hängenden Nebeln. Die Luft fällt kalt und moorig herab. Sie steigen hinein in den tropfenden Dunst, und auf Händen und Füssen nehmen sie eine Seitenrinne an, die bald den Abhang überschwingt, so dass zu ihrer Rechten die Felslehne schauerlich glatt in die Nebeltiefe stürzt. Eine ausgewaschene Kalkader gewährt ihnen mageren Halt. Schnee liegt körnig in den Ritzen, ab und zu in durchsichtiges Eis übergehend. Vorsichtig schieben sie sich aufwärts. Als sie an der schlüpfrigen Kuppe wiederum einen Einstieg gewinnen, der kaminartig und vereist in die Höhe führt, kann Tinser es nicht lassen, etwas von ‚Bären aufgebunden‘ zu murmeln.

    „Etwas anderes!" antwortet Stoi.

    Und er klettert vorauf, das aus Sehnen geflochtene Seil abrollend, blasser und blasser im Milchigen aufgesogen. Nach einer Weile dringt ein Jodler von oben herab. Tinser befestigt die Mäntel und Flinten am Seil, die nach seinem Pfiff in die Höhe gehen, von seinem eigenen Seil gegengehalten, welches wiederum in sein Koppel verknotet ist. Dann klettert er nach. Er stammt von der Küste, er kann es nicht mit dem Bayer aufnehmen.

    Auf dem Grat, den sie nun erreichen, wetzt der Wind seine eisigen Messer. Aber sie stehen auf einmal über den Nebeln. Unendlich blaut der Himmel über ihnen, und die Sonne verdampft ihren Stirnschweiss, um ihn sogleich aufs neue hervorzuglühen. Der Grat, beiderseitig steil auf die Wolkenkissen stossend, aber unvereist, endet auf einem plattförmigen Gipfel, der wie ein ungeheuerliches, verschliffen glattes Gebiss, altersgelb und bogenförmig sich nach Nordosten erstreckt.

    Erst als sie den breiten Felsgrund unter den Füssen haben und die Mäntel überwerfen, drehen sie den Blick nach allen Seiten. Ein unerhörtes, stumm brandendes Wolkenmeer liegt unter ihnen. Nur gegen Süden ragen einige runde Buckel heraus. Auf den höchsten deutend sagt Stoi:

    „Der Tollpatsch."

    Dann wirft er sich auf den nackten Boden und blinzt verzückt in die Sonne. Tinser beobachtet ihn misstrauisch, denn er empfindet eine seltsame Rührung.

    „Ja, ja, die Sonne!" sagt er beschämt, lässt sich auch nieder, und sie essen von dem mitgenommenen Röstfleisch.

    Aber bald springt der Bayer auf, sichtlich erregt, und auf einmal holt er einen rohen Lederbeutel aus der Tasche, öffnet ihn und hält ihn unter Tinsers Augen.

    Der Beutel ist voll von flachen Platinkörnern. Und Tinser wägt ihn in der Hand und murmelt bestürzt, er wäre mindestens das gleiche wie das im Kompaniespint.

    Sie gehen weiter, den Gipfelbogen entlang. Fünfhundert Meter tiefer zur Linken liegt die Senke, im ewigen Nebeldach verborgen. Die Hochfläche sattelt sich ein wenig, eine Tundranarbe schiebt sich über das Gestein, ein flacher Krater muldet sich hinab, sumpfig vereist. Der Bayer stürzt hinunter, fällt auf die Knie und wühlt, wühlt mit den Fingern im Eisschlamm.

    „Hier! Hier!" schreit er, wie irr emporspringend.

    Zwischen Dreck und Nässe blinken eisengrau die platten Körner.

    Und auch Tinser erwacht aus seinem Gleichmut, der Taumel überrennt ihn. Sie brüllen beide in den sengend blauen Himmel, in die unsägliche, schneidend durchwimmerte Einsamkeit, in die im Endlosen verschäumende Wolkenflut, brüllen wie Tiere, trappeln umher, klatschen bis über die Knie in den Moorkessel, der Froststarre ungeachtet, und wühlen, wühlen in unersättlicher Gier, bis sie erschöpft an den Rand torkeln und hinschlagen, plötzlich von einer unfasslichen Qual und Scham durchdämmert, und daliegen unter der Ewigkeit des Himmels, unter dem eisigen Wind, unter der brennenden Sonne und den Namen ihres Vaterlandes in den Stein schluchzen.

    2

    Der Aufbruch

    Manchmal steigt der wogulische Jäger über den Westpass. Er ist klein, schwarzsträhnig und pfiffig, sein Gesicht ist mondgross und blank gebeizt wie eine alte Truhe; denn er wäscht sich mit jenem Wasser, das Gott ihm verliehen hat. Er ist gern gesehen, weil er meistens Tabak mitbringt, den ihm einige mit purem Platin aufwiegen, während andere ihm durch die Taternweiber etwas abzuschwänzeln suchen. Die meisten jedoch haben sich längst an getrocknetes und zerbröckeltes Birkenlaub gewöhnt, in das sie etwas Steinklee mischen, und das Platin ist ihnen wahrhaft zu schade. Sie begnügen sich mit seinen Nachrichten, die kostenlos sind. Aber er berichtet immer dasselbe. Schon das drittemal ist er da, und immer noch ist ‚das Gras nass von Männerblut‘. Und immer noch ‚pfeift die Nagaika in das Fleisch der Länder‘.

    Der Wogule sagt auch, es lebten noch einige der ‚goldenen Haare‘ in den Ruinen der Ansiedlung im Tal. Er meint die Kranken, die damals im Frühling zurückgeblieben sind.

    Die Tatarinnen, die ihn zu nichts verlocken können, schlagen die Karten über ihn und hetzen die Männer auf, indem sie verkünden, er würde Unglück bringen. Und dies drittemal nehmen die Männer den Tabak und wollen ihm nichts dafür bezahlen, sie veralbern ihn, und da er nicht gehen will, laufen sie zu Tinsers Zelt, um ihn mit den Waffen zu ängstigen. Dadurch merkt Tinser es, der gerade dabei ist, den Kindern, die ihn wie schmutzige Äffchen umkreischen, ein mützengrosses Pferd zu schnitzen. Und er macht der Sache ein Ende, indem er dem Wogulen gibt, was ihm zukommt.

    Stoi war gerade auf der Jagd, so gut es ging, denn er hat sich damals den Fuss verstaucht, als sie von jenem Gipfel herabgeklettert sind. Er ist sehr erbost, als er zurückkommt, und meint, nun würde ihnen der Jäger wohl tatsächlich Unglück bringen und das aus Rache.

    Weil Stoi noch immer humpelt, können sie vorerst nicht wieder hinauf. Aber sie können schweigen. Was würde es auch nützen, das Fieber der anderen auf den gefahrvollen Gipfel zu hetzen. Wenn es auch allen dienen sollte, so reden sie sich ein, man muss es doch schlauer anfangen. Sie schweigen auch voreinander, aber in ihren abgestumpften Gehirnen brüten die Pläne, sieden die Unüberwindlichkeiten, ihre Nächte sind mit betörenden Träumen gefüllt, und wenn sie aus dem flackernden Schlaf aufschrecken, sind sie betroffen, nicht das Heulen und Knirschen der Bagger zu vernehmen.

    Ein Seil, man kann es hinauftragen, damit beginnt es. Man lässt es hinunter über die steile Wand, fünfhundert Meter und mehr, man zieht damit eine dünne Stahltrosse herauf, mit dieser eine stärkere, mit dieser einen kleinen Krahn, mit diesem wiederum einen grösseren, und dann die Kabel und so fort, bis man die Baracken heraufwindet, die elektrisch heizbar sind; denn die Nächte müssen furchtbar sein da oben. Und dann kommen die tollen Maschinen, die Sauger, die Bagger, die Felsmühlen, die Spülsieber, Angelegenheiten hoch wie Häuser, welche nun zu toben beginnen auf einen kleinen Schalterdruck hin, um die faule Zahnstelle dort oben heilsam auszubohren und die ausgeschlemmten Häufchen der Millionenwerte blank auf die Reinplatte zu schütteln.

    In der Senke selbst aber wird das Kraftwerk stehen, angetrieben vom aufgestauten Wildbach.

    Es lässt Tinser keine Ruhe mehr. Er zeichnet die Skizze für ein Stauwerk auf ein Blatt in seinem Notizbuch, und auch für eine Holzturbine, die sie probeweise gebrauchen wollen. Aber es ist schwierig genug, Leute von den Schurfen zu locken, um wenigstens das Stauwehr in Angriff zu nehmen.

    Da erscheint plötzlich eines Tages ein fremder Mann im Westpass, begleitet von dem Wogulenjäger und von einem der Kranken, die im Frühling in der zerstörten Talsiedlung zurückgeblieben sind. Es ist ein gutgekleideter Mann, ein Kommissar, ein Vertreter der Syrjänischen Republik.

    Die Leute besetzen den Eingang des Tales, und da sich keine Soldaten zeigen, rotten sie sich drohend zusammen. Aber der Mann geht furchtlos unter sie und fragt nach ihrem Anführer. Nur Tinser ist da, Stoi ist, wie gewöhnlich, auf der Jagd. Der Genesene erzählt, es läge unten eine ganze Eskadron Ulanen, wie sie die Roten nennen, aber sie wären ganz friedlich, überall wäre jetzt Frieden in Russland, die Ansiedlungen würden wieder aufgebaut, und er wollte nur seinen Anteil hier oben abholen, ehe er sich da unten ein Rittergut kaufte.

    Tinser spricht mit dem Syrjänen. Wenn auch alle gelernt haben, mit dem Russischen einigermassen umzugehen, Tinser kann es doch noch besser, und es scheint auch hierin so zu sein, als wäre es nicht bloss gemeine Schiebung, dass einer Offizier wird. Wenngleich es auch darunter Hunde gegeben hat. Tinser selbst jedoch hustet auf alles, was sogenannte Bildung heisst, und schätzt jeden nach seiner Menschlichkeit ein; das merkt jedes Kind, und es ist anzuerkennen, obschon es nicht immer behaglich ist, einfach als Mensch wie jeweder andere behandelt zu werden. Tinser kennt auch diese Überlegungen und weiss, eines Tages wird es allen überdrüssig sein. Sie würden schon wieder liebend gern Herr Leutnant zu ihm sagen, weil sie davon träumen, dass jemand sie mit Herr Bahnwärter, Herr Kanzlist oder Herr Maurermeister angeredet hätte. Nun, da er mit dem Syrjänen spricht, sind sie halbwegs froh, dass er ihnen die Mühe abnimmt, halbwegs aber mäkeln sie schon, dass er es ist, der verhandelt, als stünde er über ihnen, es kribbelt ihnen allerorts, ihm zuzuzwinkern: Vorsichtiger! Sag das nicht! Gib es ihm! Nicht so! Schärfer! Gleichgültiger! Hau ihn an! Linkes Ohr tiefer! Hierher die Hand! Diese Bewegung! — Tinser fühlt das alles wohl, aber er kümmert sich nicht darum und sagt dem Syrjänen, er könnte ihm leider keinen Tee anbieten. Aber der Genesene zieht einen Ziegel Tee hervor, und alle blicken weniger erfreut auf den kostbaren Tee als vielmehr empört auf Tinser!

    Der Kommissar erklärt kurz und höflich, alles Land und die Bodenschätze darin gehörten dem Staate.

    Die Leute murren: „Wir gehören also wieder mal an den Galgen! Hört ihrs!"

    Der Syrjäne lächelt fein und geringschätzig.

    Der Wogule hat es vorgezogen zu verschwinden.

    Tinser lässt die Männer zurücktreten und fragt nach den Bedingungen, zugleich darauf hinweisend, dass es nicht leicht sein würde, mit Gewalt in die Senke einzudringen.

    Der Kommissar gibt das zu, und es wäre seine Absicht auch nicht. Sie sollten den Sommer über noch geruhig dem Ertrag ihrer Schurfen obliegen und ihn auch ungekürzt behalten als Entgelt für die Entdeckung und Räumung. Denn vor nächstem Sommer wären die Bagger nicht zur Stelle, sie könnten gerne auch als Arbeiter bleiben. Und er lässt seinen Blick über die armseligen Werkzeuge und über die trübe Gräberstadt der Schuttkegel streifen.

    Tinser teilt den Leuten das Gesagte mit. Sie sind einverstanden, aber als Arbeiter wollen sie nicht bleiben. Sie wollten im Herbst nach Hause.

    Da stünde nichts im Wege, antwortet der Syrjäne. Und er beschreibt den Weg, den sie nach Koshwa zu machen haben.

    Danach nimmt er eine Holzbüchse aus seinem mit gefärbtem Leder besetzten Pelzkittel. Die Runde erstarrt in Andacht. Er bietet wahrhaftig wie ein Gentleman in Berlin oder weiss der Teufel wo Tinser eine fertige Zigarette an, nimmt selber eine, zieht eine Streichholzschachtel, entzündet ein Streichholz und gibt es an Tinser. Aber Tinser sieht die Augen der anderen, er tut nur einen Zug, dann gibt er die winzige Lustrolle an Brammer weiter. Wie der Syrjäne das sieht, schüttet er ihnen lachend den Inhalt seiner Büchse hin. Er verspricht auch, in einiger Zeit Tabak, Tee und Konserven heraufzuschicken.

    Als der Mann wieder weg ist, kommt Stoi. Tinser ahnt, dass er vergebens einen Aufstieg an der Geröllhalde versucht hat. Nur ein bescheidener Stummel ist noch für ihn übriggeblieben.

    „Eine englische Marke!" sagt er bestürzt und geniesst es kaum.

    Danach beschliessen Tinser und er und schlagen es auch den Leuten vor, es sollte jemand hinuntergehen, um sich bei den betreffenden Stellen zu versichern, damit sie wirklich im Herbst ungehindert nach Deutschland kämen.

    Aber der Genesene quengelt dazwischen, in Deutschland wäre gar kein Platz für sie. Alles, was aus Russland käme, würde an der Grenze niedergeschossen, solche Angst hätte man dort vor den Bolschewikis, hätten die Soldaten gesagt. Es wäre besser in der Mandschurei, da gäbe es ein angenehmes Leben und jeden Tag zwei Tscherwonzen Löhnung, und das wäre mehr als zwanzig Mark.

    Stoi brüllt ihn heftig an, er sollte das erstunkene Gewäsch sein lassen. Aber Tinser fordert sie auf, besorgt um ihr Schicksal, alle gemeinsam und sofort den andern Tag aufzubrechen, er wollte sie führen, wie er sie oft geführt hätte. Er sieht ihre Hände, ihre Gesichter, ihre zerschabte Kleidung, ihre verkrümmten Gestalten, ihre armen Geräte, die gottverlassene Einöde, die ewige Nässe, ihre Gier, ihr menschenunwürdiges Dasein. Sie sollen nach Hause kommen, kein Haar soll ihnen gekrümmt werden, jedermann müsste sich erbarmen über sie und ihr Los.

    Aber er redet nicht überzeugend. Denn er fängt einen Blick Stois auf, und da muss er an die morsche Stelle in jenem Berggipfel denken, der hoch über seinem Haupte und über den Wolken lauert. Sie sind noch nicht wieder oben gewesen.

    Sein Vorschlag wird auch überstimmt. Sie wären genugsam mit Feuer gewaschen, nun wollten sie erst mal ein wenig ernten, solange das Wetter reichte. Nun, wo sie Konserven und Tabak heraufbekommen sollten.

    „Geh hin! sagen sie, „geht beide hin und seht vorerst selber nach, ob das Blut schon trocken ist im Gras! Und sie sagen auch: „Haltet uns nun nicht länger von der Arbeit ab, denn wir haben keine Zeit, uns umherzutreiben oder Pferdchen zu basteln!"

    „Gut! brüllt Stoi. „Wir gehen!

    Da gibt Tinser den Schlüssel zum Kompaniespint an Brammer ab, gibt ihm auch das Verzeichnis, das er aus seinem Notizbuch reisst; die Summe wird nachgewogen und verglichen, und alle starren schweigend auf den zarten Haufen in der Schale. Tinser und Stoi haben keinen Schurfanteil daran, und auf das, was ihnen für gemeindienliche Arbeit nach früherem Beschluss zusteht, verzichten sie. Aber man dankt es ihnen nicht gross, man hält sie für grossspurig, und sie hören nur Anweisungen, was sie da unten zu tun hätten, und kaum ein Wort des Bedauerns humpelt ihnen nach.

    Brammer und der Genesene, die werden nun ihre Führer und Jäger sein.

    3

    Segnungen der Kultur

    Sie überlegen, dass es nach Paromesch sechs Tage, nach Kosljansk zehn Tage dauern wird. Und wer weiss, ob sie nicht sicherer sich an die Sowjets wenden. Sie warten die Geschenke nicht ab, die der Syrjäne schicken wird. Eine Flinte und ein halbes Dutzend Patronen, ein Kochgeschirr, einen Becher und zwei zerrissene Zeltbahnen hat man ihnen zugestanden, dazu Röstfleisch für einige Tage. Sie legen es mit auf den kleinen Schlitten, den sie abwechselnd hinter sich herziehen und auf dem sich ein guter Posten Felle befindet, die müssen ihr Reisegeld sein.

    Sie klettern abwärts durch die endlosen Wälder, die schlüpfrigen Rinnen hinab. Nach einem halben Tag treffen sie auf Hufspuren. Bis hierher hat der Syrjäne heraufreiten können; der Genesene hat auch ein Pferd gehabt, aber der Wogule ist zu Fuss nebenher gelaufen.

    Nach zwei Tagen erreichen sie die Ansiedlung. Der Boden ist zertrampelt, es sind viele Soldaten dagewesen, aber niemand ist zurückgeblieben. Es ist auch nicht viel mehr aufgebaut, als sie sich vom Frühling her erinnern. Fleisch- und Gemüsebüchsen liegen überall verstreut. Sie schnüffeln wie Hunde an den Resten. Abseits, an der mit Steinen eingefassten, umgitterten Stelle finden sie zwei frische Kreuze neben den beiden Dutzend alten. Die drei Kranken, die somit noch übriggeblieben sind, werden also bestenfalls mit den Soldaten davongezogen sein, nach Süden.

    Als sie ihr Nachtfeuer entfacht haben, kommt der Wogule. Er ist nicht erstaunt, die beiden zu finden. Er ist verschlagen und gutmütig, seine verkniffenen Augen wissen soviel, wie Raubtiere wissen, die in der Steppe eine Herde beobachten; wer sich absondern wird und allein weiden, wer stark und wer schwach ist, das wittern sie.

    Stoi fürchtet Verrat. Tinser jedoch merkt, dass er sich erkenntlich zeigen will von der Tabaksache her, dennoch ist es unleugbar, dass er den Syrjänen geführt hat. Daher ist Stoi wütend und setzt ihm die Flinte auf die Brust und ersucht ihn, ihnen ein anderes Platinlager zu nennen.

    Der Arme winselt und fleht, es wäre der einzige Ort bis zum Kap. Tinser schiebt den Gewehrlauf an die Seite, er hätte gehört, dass sie wegen ihrer Götter niemals auf die Berggipfel stiegen. Und Stoi lässt sich die Flinte willenlos aus der Hand nehmen, und Tinser trägt sie von da an.

    Der Wogule zeigt ihnen den Weg durch die Steppe, durch das rauhe Grossland. Stoi schiesst einen Fasan und einen grauen Fuchs, und sie verzehren beides. Sie erreichen den Waldstreifen und den Fluss. Der Jäger zieht ein Rindenboot aus einem Krattbusch. Unter den Wäldern gleiten sie dahin, schlafen am hügeligen Ufer. Schon treffen sie Fischerzelte, in denen zerfurchte Komimänner hausen. Sie kreuzen die Petschora, ziehen stromauf, lenken in einen Nebenarm, rollen

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