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Geschehnisse um Licht und Finsternis
Geschehnisse um Licht und Finsternis
Geschehnisse um Licht und Finsternis
eBook571 Seiten6 Stunden

Geschehnisse um Licht und Finsternis

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Über dieses E-Book

Die Geschwister Meah und Danbourg leben hoch oben über den Wolken auf einem Landteller. In der Niederung des Schattwalds, wo sie als gemiedene Waisen im Stamm der Bat'ma aufwachsen, lauern jenseits der Lichtung hungrige Kreaturen, die in finsteren Zeiten über das Dorf herzufallen drohen.
Einer alten Tradition folgend, ist es an den Jugendlichen, wieder Licht zurück in die Finsternis zu bringen. Als sie zu ihrem Stamm zurückkehren, ist nichts mehr, wie es war.
Meah muss – allen Widrigkeiten zum Trotz – ihren ganzen Mut zusammennehmen, um sich ihren Ängsten und den scheinbar unbesiegbaren Gegnern zu stellen.

Werden Meah und Danbourg es schaffen, das Überleben ihres Volkes sicherzustellen?
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum1. Dez. 2022
ISBN9783347690417
Geschehnisse um Licht und Finsternis
Autor

C.R. Reltir

C.R. Reltir, 1987 in Bern geboren, fasst phantastische Geschichten in Worte. Die Ideen dazu schöpft er aus dem alltäglichen Leben und weitreichenden Gedankenreisen. Er lebt und schreibt in der Umgebung von Bern und studiert im Zweitstudium Sozialwissenschaften.

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    Buchvorschau

    Geschehnisse um Licht und Finsternis - C.R. Reltir

    ERSTER TEIL

    LICHTSTEINE IM DUNKELN

    DER WALD DER SCHATTEN

    chon wieder ein Stein weniger.«

    »Ja, schon wieder ein Stein weniger. Schlafen tun wir bereits zehn Fuß höher. Zehn Fuß höher als vor zwanzig Nächten.«

    »Und leuchten tut es auch nicht mehr so hell. Es hat mal heller geleuchtet, stimmt’s?«

    »Ja, das hat es. Ja, das hat es!«

    »Wir müssen sie schicken, schon bald. Am besten gleich morgen früh! Sie müssen ihre Holschuld tilgen.«

    »Nein! Kein Manderbärfell ist auf Vorrat. Wir müssen erst eines beschaffen!«

    »Du hast recht, sonst wird’s kalt draußen im Wald, besonders bei Nacht. Die Klinge dürfen wir nicht vergessen. Einen Lichtsteindolch muss einer tragen, wie es die Tradition verlangt.«

    »Welche Tradition?«

    »Die alte. Schon lange ist’s her, wir mussten …, wir mussten die Jungen nicht mehr schicken. Aber der Handel, kein Leuchten ohne den Handel mit Lichtsteinen. Wir müssen die Tilgung der Holschuld wieder einführen.«

    »Ja, schicken wir sie. Der Lichtsteindolch wird sie schützen, das Bärenfell wärmen. So Salen will, werden sie uns das Leuchten zurückbringen!«

    Unterhaltungen dieser Art hört man in letzter Zeit viele auf der kleinen Lichtung mitten im Schattwald.

    In den Stuben der Hompelhäuser schlafen die Kinder bei Nacht unruhig und die Eltern halten ängstlich Wache am Feuer.

    Seit geraumer Zeit erlöschen von Tag zu Tag mehr der übrigen Lichtsteine.

    Diese hängen in einem Netz über der Dorfmitte, welches wiederum an einem riesigen mit Luftknollen gefüllten Ballon baumelt.

    Nur die schweren Lichtsteine und mehrere dicke Leinen halten den Ballon am Boden und verhindern, dass er in die Weite des Äthers über dem Landteller entfliegt. So schwebt der Halteballon seit der Dorfgründung hoch über der Lichtung und trägt neben den Lichtsteinen auch die Hompelhäuser der Bat’ma, die wie Perlen an den Halteleinen aufgefädelt sind.

    Würden die Lichtsteine ihren Schein nicht über die Lichtung verteilen, würde das ganze Dorf bei Nacht von den hungrigen, lichtscheuen Kreaturen des Schattwalds heimgesucht.

    In diesem Wald tummeln sich schreckliche Wanderluren, Homsratten, Kundnymphen, Horngryphen und viele weitere, teils bekannte, teils unbekannte Wesen und Tiere. Sie sind immerfort hungrig und auf der Jagd nach ihrem nächsten Opfer.

    Deshalb befürchten die Bewohner der kleinen Lichtung bei völliger Dunkelheit gejagt, gefressen oder am Boden und in der Luft zerrissen zu werden.

    Die Geschichte des Volkes kann auf den alten Glimmsteintafeln abgelesen werden, welche unübersehbar die Grenze zwischen dem Wald und der Lichtung markieren.

    Von den Steinen vorgelesen wird den jungen Bat’ma nur bei Tag, nach Anbruch der Finsternis traut sich keiner mehr so nahe an den Waldrand heran. Zu schrecklich muss das sein, was dort in der Dunkelheit zwischen den dicken Bäumen und Ranken lauert, kauert, schreit und rumort.

    Seit Wochen rückt die Dunkelheit mit ihren Gefahren unaufhaltsam näher an den Dorfkern heran.

    Zum guten Glück wachen die Netzwächter über die Lichtsteine. Sie befreien die erloschenen aus dem Haltenetz, wodurch der Halteballon jedes Mal ein Stück höher steigt, die Hompelhäuser näher zu sich zieht und sie auf diese Weise von der näherkommenden Dunkelheit fernhält.

    Aber den Dorfbewohnern stellt sich eine Frage: Wie lange noch? Es kommt die Zeit, da wird der letzte Lichtstein zu leuchten aufhören und das Dorf bei Nacht der Dunkelheit preisgegeben. In diesem Moment der Finsternis werden die Kreaturen des Schattwalds über die Bat’ma herfallen. Im Dorf ist man sich einig: Diesem Schicksal gilt es zu entfliehen – koste es, was es wolle.

    Bis vor einigen Jahren hat sich niemand gesorgt, denn zum Ende jeder Dekade haben die Hollanduinen, ein fliegendes Händlervolk, den Weg über den Wald bis zur Lichtung gefunden und die Bat’ma mit den frischen und dringend benötigten Lichtsteinen versorgt.

    Trotz ihrer gut ausgestatteten und schnellen Luftschiffe ist auch für sie die Reise zeitlebens keine leichte gewesen. Abertausende Schiffslängen müssen zurückgelegt werden, um von Altstadt, der größten und versifftesten Siedlung des Landtellers, bis zur großen Lichtung der Bat’ma zu gelangen.

    Auch die peitschenden Nebelwinde, die von der Negridebene kommend an den Talhängen herabwehen, und die orkanartigen Gewitter, welche häufig über dem Schattwald toben, machen diese Reise zu einer lebensgefährlichen Angelegenheit.

    Ja, man kann sich wohl keinen kälteren, nässeren und wilderen Ort als den Schattwald mehr vorstellen, nachdem man ihn einmal überflogen hat.

    Die beschwerliche Reise muss sich für das fliegende Händlervolk zweifelsfrei lohnen und das tut sie, denn nirgendwo sonst gibt es ätherische Öle in solcher Reinheit und Variation zu kaufen wie bei den Bat’ma.

    Zwischen dem Dorf und den Glimmsteintafeln am Waldrand wachsen auf der großen Zwischenwiese der Lichtung die am besten riechenden Pflanzen der Niederungen.

    Viele der anderswo selten gewordenen Gewächse wie die Needichen, die Jardenien oder das Aileemakraut, werden gar nur an diesem abgelegenen Ort kultiviert. Andernorts hat man sie bereits allesamt in Öl aufgelöst und das Wissen um deren Zucht ist im Laufe der Zeit verloren gegangen.

    Ätherische Öle sind beliebt bei den vermögenden Bewohnern von Altstadt. Nur mithilfe der gut riechenden Tinkturen können sich die Nasen der Oberschicht vom Mief dieser Kloakenstadt, wie sie sie nennen, erholen. An den immerwährenden Gestank der Stadt gewöhnen können und wollen sie sich nicht. Man will sich nicht zum gemeinen Fußvolk degradieren lassen. Deshalb werden hohe Preise für die immer rarer werdende Ware bezahlt.

    Im Gegensatz dazu verlangen die Bat’ma als Tauschware nur die besagten Lichtsteine, und diese können die Hollanduinen auf einfache Weise beschaffen. Es gibt sie nahe der Stadt zu Tausenden in einem Steinbruch.

    Das andauernde Leuchten der Steine ist unter den Stadtbewohnern wenig beliebt. Vor allem die näher am Lichtsteinschlag gelegenen Wohnungen Altstadts sind ständig dem gleißenden Licht ausgesetzt und ihre faulen Bewohner schließen nur ungern jede Nacht all die kleinen Läden der unzähligen Fensterchen ihrer Behausungen.

    So haben die Hollanduinen mit dem Abbau der Steine der Stadt Gutes getan, was sich wiederum vorteilhaft auf ihr Ansehen ausgewirkt und ihre Geldtaschen einfacher gefüllt hat.

    Der letzte Besuch der Hollanduinen bei den Bat’ma liegt jedoch schon lange zurück. Man munkelt, dass eines Nachts, während eines ungestümen Großgewitters, besonders starke Nebelwinde den Lärm berstender Planken und Masten von Luftschiffen über den Schattwald bis hin zur Lichtung getragen haben.

    Niemand weiß genau, was mit dem Schiffszug in dieser schrecklichen Nacht geschehen ist und welches Schicksal die Handelsleute erlitten haben.

    »Neeein …!«

    »Halt das Großfall fest, schnell! Wir müssen das Großsegel einholen, sonst zerreißt es!«, schreit Daar durch den Sturm.

    Zu diesem Zeitpunkt sind die hinteren und vorderen Kleinsegel des Luftschiffs bereits gerissen.

    Im nächsten Moment ist ein weiteres ohrenbetäubendes Krachen zu hören und das mächtige Flaggschiff des hollanduinschen Schiffzugs erbebt. Es droht entzweizubrechen.

    Die gesamte Besatzung duckt sich instinktiv und hält sich krampfhaft irgendwo fest, denn niemand von ihnen will über dem Schattwald abgeworfen werden. Wobei weniger die Flughöhe den Schiffsleuten Sorge bereitet, sondern vielmehr das, was nach dem Sturz unten auf sie wartet.

    Bereits zu viele Hollanduinen sind vom Wald verschluckt und nie wieder ausgespuckt worden. Nur ihre verzweifelten Schreie meint man ab und zu vom Waldrand her zu hören, wenn man in der Altstadter Kneipe ›Zum Schutzwall‹ gemütlich bei einem Blaakyale Bier sitzt.

    »Wir sind verloren! Verloren! Landen als nette Beigabe in der Suppe der Wanderluren!«, schreit ein Reisebegleiter, der sich vor lauter Angst in eines der Lichtsteinnetze des unteren Decks geflüchtet hat.

    »Nicht zwischen die Netze, sonst …«, weiter kommt Daar nicht. Schnell dreht er dem Mann den Rücken zu, als kurz darauf die mit den schweren Lichtsteinen prall gefüllten Netze unter gewaltigem Druck zusammenkrachen.

    Während es hinter ihm poltert, bemerkt Daar im selben Augenblick, wie eine unangenehme Wärme seinen Rücken hinunterkriecht. Als er sich wieder umdreht, strahlt ihm von den Lichtsteinen her durch den Nebel ein roter Schein entgegen. Bis hoch zu ihm auf das oberste Deck hat sich die Blutfontäne verteilt, mit einer solch gewaltigen Wucht sind die schweren Gesteinsbrocken zusammengestoßen. Dieser Reisebegleiter ist als menschlicher Blutballon zwischen den mit Steinen gefüllten Netzen krepiert.

    Die verbleibenden Männer, schätzungsweise eine gute Handvoll, blicken starr vor Schreck in die Richtung des Unglücks.

    »Hört auf zu gaffen!«, ruft Daar, so laut er kann, durch den tobenden Nebelwind. »Bewegt euch! Sein Leiden ist vorbei, unseres beginnt erst, wenn wir Pech haben!«

    Mehr muss der groß gewachsene Daar seinen Leidensgenossen nicht zurufen, diese verstehen ihn sofort. Mit vereinten Kräften können sie schließlich das Großsegel einholen.

    »Das wäre geschafft, jetzt gilt es nur …«

    »… zu hoffen«, hat einer der schwer atmenden Männer rufen wollen, aber dazu kommt er nicht. Wieder ist ein Grollen auf dem Schiff zu hören. Diesmal jedoch weniger dumpf und auch der Schmerzensschrei bleibt aus. Was ist geschehen?

    Daars Blick wandert hektisch über das Schiff. Es ist äußerst schwierig, bei all dem Nebel klar sehen zu können.

    »Die Knollen, die Luftknollen …«, hört Daar jemanden schwach rufen.

    Kurz darauf sieht er, wie sich die braunen Luftknollen an der Seite des Schiffs entlang schrammend ihren Weg zum Himmel suchen. Der Sturm muss ein Loch in die Schiffswand beim Schwebelager gerissen haben.

    »Haltet euch gut fest, wir werden abstürzen!«, ruft Daar in die Nacht hinaus, kurz bevor das Schiff für die übrigen Luftknollen zu schwer wird, nach unten wegkippt und in die dunkle, nassfeuchte Tiefe der Nacht gerissen wird.

    Der Schattwald wartet bereits auf die Unglücklichen. Die dicht an dicht stehenden Baumkronen wie Zähne gefletscht, verschluckt er das nur mehr aus geborstenem Holz und gerissenem Tuch bestehende Schiff mit nur einem Bissen.

    ALT HERGEHOLTE TRADITION

    einahe wäre die alte Tradition der Tilgung der Holschuld in Vergessenheit geraten. Sie ist nach dem Abschluss des Handelsabkommens zwischen den Bat’ma und den Hollanduinen auch nicht mehr länger von Bedeutung gewesen, denn Lichtsteine hat es seither zur Genüge gegeben und alle zukünftigen Bat’ma haben sich glücklich geschätzt, dieser Marter entkommen zu sein.

    Für Eltern hat sich die unausweichliche Trennung von ihren Sprösslingen durch die Tilgung ebenso schlimm zugetragen wie für die entrissenen Jugendlichen selbst. Nachwuchs gibt es bei den Bat’ma im Überfluss, dieser muss ernährt werden und die Nahrung ist in schlechten Zeiten zuweilen knapp.

    So ist in der Vergangenheit jede neue Generation auf die Probe gestellt worden. »Lichtsteine besorgen …« hat es damals geheißen. »… seinen Teil dazu beitragen …« muss im Volk der Bat’ma seit jeher jeder.

    Die beschwerliche Reise haben stets nur die Stärksten, Intelligentesten und Tapfersten überlebt. Diese Jugendlichen haben im fernen Altstadt gearbeitet, von ihrem Lohn Lasttiere erstanden und sie schwer mit Lichtsteinen beladen als Waldkarawane zurück zur Lichtung geführt. Sie haben das Leuchten erneut ins Dorf zurückgebracht und das Volk durch ihr Tun am Leben erhalten.

    Indem sie die nahende Dunkelheit aufs Neue vertrieben haben, sind sie Teil der verschworenen Dorfgemeinschaft geworden, was bis heute bedeutet, an allen Festlichkeiten teilzunehmen, Yulandersaft zu trinken, in der großen Stammeshalle dem Gericht beizuwohnen, mit den Ältesten zu diskutieren und sich eine Frau oder einen Mann an die Seite zu nehmen. Ja, den Rückkehrern ist es gut ergangen.

    »Nun ist es also an der Zeit«, wendet sich der Gerichtssprecher an die Anwesenden. »Die Zeit ist gekommen, um die alte Tradition wieder aufleben zu lassen!«

    Ein Raunen geht durch die Reihen und man merkt deutlich, dass es dem Gerichtssprecher heute besonders schwerfällt, seines Amtes zu walten. Er hat den Mitbürgern in der Vergangenheit viele Entscheidungen Salens überbracht und diese auch durchgesetzt; dieses Mal ist es anders. Viele im Raum wissen genau, was es heißt, durch den Schattwald zu streifen, den Blick vor Angst starr nach vorne in Richtung Altstadt gerichtet.

    Einige sehen an ihren Körpern herab auf die beinahe, aber nie ganz vergessenen Bisswunden und Brandverletzungen. Manche vermissen an der einen oder anderen Körperstelle gar ganze Gliedmaße.

    »Er will die jugendliche Tilgung der Holschuld erneut einführen«, flüstert ein alter Kauz.

    »Es muss sein! Wir benötigen die unverbrauchten Lichtsteine aus Altstadt! Ich hatte gestern Homsratten hinterm Haus! Diese Biester!«, meint ein Jüngerer aus den hinteren Reihen des Saals.

    »Ruhe!«, ruft der Gerichtssprecher. »Ja, wir müssen es tun. Die Viecher des Schattwalds rücken an, als hätte sich unser Lichtverlust unter ihnen herumgesprochen! Die Dunkelheit wird uns bald mit Urviechern bewerfen, wenn wir uns weitere dreißig Monde lang nicht entscheiden!« Er zieht einen kleinen Hebel am Rednerpult nach hinten und lässt so eine zusätzliche Luftknolle unter das Podium rollen. Kaum ist dies geschehen, erhebt sich seine Bühne um zwei Dutzend Fuß in die Höhe und kommt über den Köpfen der Lichtungsbewohner zu stehen. Eine höhere Position entspricht weniger Revolte, muss sich der Gerichtssprecher gedacht haben.

    »Wir werden die Tage bis zur Warmzeit abwarten, so lange wirds nicht mehr dauern – dies wird die Chancen der Jugend erhöhen. Mit warmen Knochen lässt es sich leichter rennen und kämpfen.«

    »Mit warmen Knochen, pah«, werden Rufe im Saal laut. »Noch nie war es warm in diesem Wald, wird es auch nie sein. Keine Sonne lässt er durch, nur Nebel und kaltes Nass.«

    »So haben wir die nötige Zeit, um den Lichtsteindolch herzustellen und die Manderbärfelle zu besorgen! Näheres zum Aufbruch der Jugend und zur Tilgung der Holschuld wird folgen.« Mit diesen Worten beendet der Gerichtssprecher seine eher spärlich ausfallende Informationsrunde. Er klettert seitlich an einer Strickleiter vom erhöhten Podium herunter und verschwindet, ohne den üblichen Abschiedsgruß zu tun, hinter dem schweren Samtvorhang des Rednerausgangs.

    Die Anwesenden treten teils wild diskutierend, teils vor sich hin murrend, aber allesamt mit besorgter Miene und einem Kloß im Hals in die nicht mehr so helle Nacht hinaus.

    WIDER WILLEN WĪSANBALG

    at da ein Dalsbaat geknurrt oder ein Schrommper gerufen? Meah liebt es, vor dem Einschlafen den Geräuschen der Nacht zu lauschen, die pausenlos vom Schattwald her über die Lichtung getragen werden. Sie liegt da und ordnet jeden Laut der richtigen Kreatur zu.

    Jäh zerreißt ein gellender Schrei die Nacht.

    »Eine Wanderlure!«, flüstert Meah erregt in die Richtung ihres kleinen Bruders. »Das muss eine gewesen sein!«

    »Wanderluren gibt es nicht, Meah!«, meint Danbourg mit zitternder Stimme. Mit ihren bald sechzehn Jahren weiß seine Schwester viel über die Pflanzen und Urviecher des Waldes. Sie ist der Meinung, man müsse die Feinde des Waldes kennen, um sich angemessen vor ihnen schützen zu können. Also hat er sich fest vorgenommen, bis zu seinem zwölften Geburtstag den Wissensrückstand aufzuholen. Bis dahin hat er noch länger als ein halbes Jahr Zeit. Seither merkt er sich alles Neue und sämtliche Weisheiten, die ihm zu Ohren kommen, aufs Penibelste.

    »Nur, weil wir nie eine gesehen haben, heißt das nicht, dass es sie nicht gibt. So was Schreckliches erfindet man nicht!«

    Wie recht Meah hat. Sie ist für ihr Alter ein kräftiges und sehr aufgewecktes Mädchen, auch wenn ihr Äußeres Letzteres nicht unbedingt vermuten lässt. Ihr krauses schwarzes Haar hängt ihr wild und struppig ins Gesicht und an manchen Stellen hat sich diese eigensinnige Mähne zu dicken Klumpen verfilzt.

    »Zerlumpte wilde Meah, zerlumpte wilde Meah …«, rufen ihr die anderen Jugendlichen ständig nach. Mit ihrem Bruder gehen sie nicht minder zimperlich um. Meah hat gelernt, für sich und ihren Bruder einzustehen, was ihr unvermeidbaren Ärger einbringt.

    »Du mieser Wïse. Du und deine Schwester werden nie zu uns gehören!«

    Quarn, der stämmige Junge des Dorftrottels, springt, seine Faust durch die Luft schwingend, zwischen den groß gewachsenen Gräsern hervor. Sein kräftiger Hieb trifft Danbourg knapp unter dem Brustbein und raubt ihm in den ersten Schrecksekunden die Luft. Die Beine des schmächtigen Jungen knicken ein und er schlägt mit den Knien auf den schlammbedeckten Steinen auf.

    »Verdammt! Du hast meine Hose mit dieser Sauerei besudelt!«, schreit der grobe Junge und versetzt seinem wehrlosen Opfer einen weiteren Tritt in die Seite.

    »Entschuldige.« Danbourg hält seine Augen geschlossen, um seine Tränen zurückzuhalten.

    Kurz darauf hört er einen weiteren dumpfen Schlag, doch anstelle der erwarteten Schmerzen fühlt er kalten Schlamm auf seinem Gesicht. Als er vorsichtig blinzelt, erkennt er durch den wässrigen Schleier seiner Tränen Quarn, der regungslos neben ihm liegt.

    »Das hast du davon, du fieser Wicht. Vergreif dich nicht an Schwächeren und lass uns in Ruhe! Danbourg, los auf die Beine. Lauf!« Als Danbourg nicht reagiert, fasst Meah ihn am Arm und zerrt ihn mit sich.

    Aus mehreren Richtungen preschen Quarns Kumpane zwischen den Gräsern hervor, um die beiden weiter über die Lichtung zu hetzen. Quarn spukt Schlamm aus und lallt benommen: »Wir werden euch kriegen.«

    Meah dreht sich auf die andere Körperseite. Sofort machen sich die Schrammen und schmerzhaften Beulen des letzten Kampfes bemerkbar. Sie erinnern die Jugendliche daran, dass sie und ihr Bruder niemals ganz zur Dorfgemeinschaft der Bat’ma gehören werden. Der Grund ihres zweisamen und doch einsamen Daseins ist ihre Herkunft: Meah und ihr Bruder wachsen elternlos auf, als Wīsanbälge, was auf der Lichtung so viel wie ›gemiedenes Kind‹ bedeutet. Wieso das so ist, kann weder sie noch ihr Bruder mit Sicherheit sagen, sie sind sehr klein gewesen, als ihre Mutter damals im Schattwald verschwunden ist.

    Ihr Vater hat als Yulander gelebt. Man könnte meinen, er habe sein gesamtes Blut durch diesen Yulandersaft ersetzt, so entsetzlich hat er nach dem Gebräu gestunken. Er war selten bei Sinnen, denn er hat den Morgen begonnen, wie er den Vorabend abgeschlossen hat: als Dauersäufer. Dieses Spiel hat er so lange getrieben, bis er schließlich dem Gebräu und einem schmerzhaften Herztod erlegen ist.

    Fortan sind die zwei Wīsanbälge auf sich selbst gestellt durchs Leben gegangen, denn eine Fürsorge gibt es bei den Bat’ma nicht. Die gemiedenen Kinder werden sich selbst überlassen.

    Oft vegetieren sie einem tragischen Schicksal entgegen, viele überleben kaum ein paar Jahre in dieser harschen Umgebung.

    Nicht Meah und Danbourg. Sie hat für sich und ihren Bruder ein kleines, aber feines und bis heute komfortabel hergerichtetes Quartier für die langen Nächte und eisigen Tage der Kaltzeit gefunden.

    Am äußersten Rand der Lichtung ist vor geraumer Zeit ein kleines Hompelhaus leer gestanden. Die ehemaligen Bewohner des Hauses haben die direkte Nähe zum Schattwald zunehmend so sehr gefürchtet, dass sie es Hals über Kopf verlassen haben.

    Für Meah und ihren Bruder hat diese kleine Behausung die Rettung bedeutet. Mit viel Fleiß und Schweiß haben sich die beiden eine lauschige Unterkunft zurechtgeschustert. In ihrem Zuhause entgehen sie der unerbittlichen Kälte der Kaltzeit, die schon so manches Bat’ma-Opfer gefordert hat, und können sich dort verstecken, wenn sie wieder einmal Nahrung stehlen müssen, um ihren Hunger zu stillen.

    »Leg dich hin, Dan. Morgen können wir uns auch noch Sorgen machen!«, sagt Meah leise, aber bestimmt zu ihrem Bruder.

    »Gute Nacht, Meah.« Er bemüht sich, tapfer zu klingen, doch in seiner Stimme schwingt die Angst vor der unbekannten Wanderlure mit. Dan schlägt sich nicht so kräftig und ungestüm wie seine Schwester durchs Leben, seine Welt ist die Welt der Geschichten. Anstatt prügelnd seine Kräfte zu messen, bevorzugt er es, den Erzählungen der Ältesten zu lauschen und sich nebenbei um deren Behausungen zu kümmern.

    Zitternd vergräbt er sich tiefer unter dem Manderbärfell, welches ihnen als einziges Erbstück von ihrer Mutter geblieben ist und sie auch in der Kaltzeit als gute Bettdecke warmhält.

    Am nächsten Morgen werden sie vor der Morgendämmerung geweckt.

    Nicht wie üblich durch die lauten Bewohner der vorderen Häuserreihen, nein, diesmal werden sie unsanft gute zehn Fuß in die Höhe geschleudert, und zwar so stark, dass sie vom Bett abheben und gegen die Decke des Hompelhauses knallen.

    Was zum …! Meah bringt den Gedanken nicht zu Ende. Zeitgleich erklingt ein paar Behausungen weiter ein fieser Schrei. Er muss von einer Frau stammen, so grell und markdurchdringend hört er sich an. Ein zweiter folgt kurz darauf in abgeschwächter Form.

    »Wo liegst du? Danbourg?« Sie tastet mit ihren Fingern nach ihrem Bruder, es ist zu dunkel, um etwas zu erkennen.

    »Mein Arm schmerzt. Was war das? Die Wanderlure?«

    »Ich weiß es nicht. Kannst du ihn bewegen?« Während sie Danbourg die Frage stellt, untersucht sie sich selbst. Ihr Körper schmerzt an denselben Stellen, es sind keine neuen Blessuren hinzugekommen.

    »Ja, ich kann ihn beugen. Was tun wir jetzt?«

    Meah überlebt fieberhaft. Danbourgs Gedanke an einen Angriff aus dem Schattwald liegt nah, was sonst könnte ihren Hüpfer verursacht haben. Sollte ein gefräßiges Tier durch die Tür in das Haus eindringen, sitzen sie ohne eine Möglichkeit zur Flucht in der Falle. Aber nach draußen zu stürmen, ohne zu wissen, mit wem oder was genau sie es zu tun haben, ist ebenso unklug.

    Plötzlich werden männliche Stimmen laut, in verschiedenen Tonhöhen rufen sie wirr durcheinander: mal panisch, dann wieder kriegslüstern.

    Das sind Orils Männer!, schießt es Meah durch den Kopf.

    »Töte das Faulmaul, Edwar!«

    »Achtung, ein zweites! Hinter dir!«

    »Was ist ein Faulmaul?«, hört Meah ihren Bruder vom anderen Ende des Fells fragen.

    »Ich weiß nur, dass es eine lautlose Kreatur ist.«

    Faulmäuler sind tatsächlich nicht zu hören. Diese lautlosen, fleischfressenden Urviecher wachsen zu einer beachtlichen Größe heran und sind ausgewachsen so lang wie zwei oder gar drei erwachsene Bat’ma.

    Die im Rudel jagenden Biester haben den erstbesten Zeitpunkt abgewartet, um endlich wieder an saftiges Bat’ma-Fleisch zu kommen. Als ein erloschener Lichtstein zu spät von den Netzwächtern bemerkt und nicht sofort aus dem Netz befreit worden ist, sind einige Häuserreihen des Dorfes im Dunkel der Nacht verschwunden.

    Eine solche Gelegenheit lassen sich diese Biester nicht entgehen. Eines der Faulmäuler ist auf das benachbarte vordere Hompelhaus gesprungen, wodurch es mitsamt der Halteleine und der dahinter angehängten Behausung der beiden Jugendlichen schlagartig in die Luft katapultiert worden ist.

    Meah tastet sich durch den Raum. Endlich bekommt ihre Hand den kleinen kalten Metallknauf in Form eines doppelten Schneckenhauses zu fassen. Eifrig drückt sie ihn nach oben, um so eine der kleinen runden Luftluken des Hompelhauses zu öffnen. Vergeblich, es gelingt ihr nicht.

    Durch die ruckartige Bewegung an der Halteleine hat sich die gesamte Tragstruktur des Hauses, in der die Fenster eingelassen sind, verzogen.

    »Hilf mir!«, keucht sie in den dunklen Raum. Zwei kleine warme Hände legen sich über die ihren. Gemeinsam gelingt es den beiden unter größter Anstrengung, den Knauf ein Stück nach oben zu bewegen, gerade so weit, dass sie durch einen schmalen Spalt nach draußen sehen können.

    Ängstlich versuchen sie, etwas in der Dunkelheit zu erkennen.

    Schreie sind indes keine mehr zu hören. Meah ist sich nicht sicher, ob sie darüber froh oder erst recht beunruhigt sein soll.

    »Da«, haucht ihr Bruder, bevor ihm die Stimme versagt.

    Er deutet mit der Hand zum Schattwald. Sie kneift die Augen zusammen, um in der nur schemenhaft wahrzunehmenden Umgebung sehen zu können.

    »Ja, dort liegt was im hohen Gras«, murmelt sie. Was es genau ist, kann sie nicht enträtseln. »Es ist zu dunkel«, sagt sie. »Danbourg, hilf mir, die Steinlampe zu suchen. Los, schnell!«

    Diese Steinlampe hat das kluge Mädchen selbst erfunden. Als sie eines Nachts durch das Dorf gestreift ist, hat sie im Gras etwas Leuchtendes entdeckt. Es hat sich um einen kleinen Lichtstein gehandelt, der von den großen schwebenden Steinen über ihr abgebrochen ist.

    Sie hat den Stein aufgehoben und in Wannerfolie gewickelt. So ist die Steinlampe entstanden. Durch die reflektierende Oberfläche der dünnen Folie, die aus den Schuppen eines kleinen Wannertiers hergestellt wird, kann Meah das Licht des Steins gerichtet in die Nacht entlassen. Ihr Lichtkegel reicht gut fünfzig Fuß in die pechschwarze Nacht hinaus und wird nur ab und zu vom Flackern des Steins unterbrochen.

    »Hier ist sie, ich habe sie gefunden!«, ruft Danbourg seiner Schwester euphorisch zu.

    »Still, Dan! Wir wissen nicht, ob es noch da draußen ist. Wir hören ein Faulmaul nicht, aber es kann sehr wohl uns hören!«

    Meah zwängt den schmalen Schaft der Lampe durch den Fensterspalt und richtet den Lichtkegel auf die besagte Stelle im Gras. Wären sie näher an den in dunkles Rot getauchten Grasspitzen gewesen, hätten sie sich bestimmt vor Angst in die Hosen gemacht. Aus dieser Distanz können sie das Blut unmöglich erkennen, aber das niedergedrückte Gras lässt den Schluss zu, dass dort etwas gelegen haben muss. Was auch immer es gewesen ist, es ist verschwunden. Eine Schleifspur, die bis hin zu den Glimmsteinen an der Grenze zum Schattwald führt, lässt Übles vermuten.

    Meah will sich eine eigene Geschichte für die vergangenen Ereignisse zurechtlegen, weit kommt sie damit nicht, denn kaum hat sie einen klaren Gedanken gefasst, bemerkt sie ein leises, kaum wahrzunehmendes Scharren auf dem Dach ihres Hompelhauses. Das Haus gerät in Bewegung.

    Anfänglich schaukelt es nur leicht, dann stürzt es, von den lauten Schreien der Jugendlichen begleitet, nach unten ab. Die beiden werden erneut unsanft durch die Luft geschleudert, dieses Mal in die entgegengesetzte Richtung.

    Ein Faulmaul sitzt auf unserem Dach, schießt es Meah durch den Kopf. Kaum gedacht, bestätigt sich ihre Annahme. Sie hält die Steinlampe immer noch fest umklammert in ihrer Hand und leuchtet zu der schmalen Fensteröffnung.

    Ihr stockt der Atem. Eine lange, bläulich gefärbte und Blasen werfende Zunge bahnt sich den Weg ins Innere ihres gemütlichen Heims. Die Blasen auf der Zunge dieser Kreatur bilden sich im Sekundentakt und zerplatzen kurz darauf wieder. Aus den so entstandenen Wunden trieft eine zäh-schwarze Flüssigkeit, die durch die unkontrollierten Bewegungen der Zunge in alle Richtungen verspritzt wird. Ein faulig-beißender Gestank, der sich schnell im Raum verteilt, lässt Danbourg und Meah würgen.

    Am anderen Ende des Dorfes bleibt der Tumult des altstadt-seitigen Lichtungsrands nicht unbemerkt.

    »Auf zur Gefechtskammer und an die Waffen, der Schattwald greift an!«, hört man Oril, den Obersten Verteidiger der Lichtung, brüllen.

    Kurz darauf haben sich gut dreißig Männer und Frauen in Windeseile vor der gut verschlossenen Gebäude versammelt.

    Oril kramt aus seinem Wams einen schweren Schlüssel hervor, steckt ihn ins grob geschlagene Schloss der hölzernen Tür und dreht in dreimal um. Dahinter sind mechanische Geräusche zu hören, viermal ein Klacken und zweimal ein Klicken, und schon beginnt sie sich langsam zu öffnen. Der Oberste Verteidiger zwängt sich durch die spaltbreite Öffnung und fängt eifrig damit an, die Waffen an die vor dem Tor wartenden Bat’ma zu verteilen.

    Auf dem Kriegsmaterial hat sich über die Jahre Staub angesammelt, sie mussten zum Glück seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr aus der Kammer geholt werden. Niesend verteilen die Anwesenden die Kampfgeräte untereinander.

    »Los!«, hallt es ungeduldig aus dem Innern der Gefechtskammer. Kurz darauf springt Oril zurück in die kalte Morgenluft.

    Für einen Bat’ma ist er außerordentlich groß gewachsen und von imposanter Statur. Mit seinem großen fellbeschlagenen Schulterpanzer und der mit Barkenstacheln besetzten Rückenpartie jagt er auch dem größten Feind eine Heidenangst ein.

    Selbst ein stattlicher Hollanduine würde sich ein Geplänkel mit Oril wohl zweimal überlegen. Im bevorstehenden Kampf wird er damit keinen Eindruck schinden können. Den Faulmäulern sind Statur und Ausdruck ihres Gegners kein Begriff. Sie sind zu dumm, um für sich selbst Sorge zu tragen, und greifen stets im Blutrausch an, blind vor Hunger und Wut.

    Der Oberste Verteidiger ist sich dessen bewusst, aber er lässt sich nichts anmerken, es steht zu viel auf dem Spiel. Können sie die ersten Faulmäuler nicht schnell zurückgeschlagen, werden weitere folgen und für den Fall, dass das Dorf von mehr als drei oder vier der Bestien heimgesucht werden sollte, kann er mit seinen dreißig mehr schlecht als recht trainierten Kampfgenossen kaum etwas ausrichten.

    Die Bewohner des Dorfes würden verwundet und in den Wald verschleppt, unter den Wurzeln von Hurdentannen zur Fäule abgelegt und dort einen langen und qualvollen Tod sterben.

    Erst nach etlichen Monaten fressen diese Viecher ihre Beute, wenn sie halb verfault und stinkend leicht zu schlucken ist.

    Mit diesen Gedanken im Hinterkopf läuft der Oberste entschlossen dem Gestank auf der anderen Seite des Dorfes entgegen. Seine Krieger folgen ihm nur zögernd.

    Meah hält den Mief nicht mehr aus, saures Wasser läuft in ihrem Mund zusammen.

    Der faulige Geruch brennt in ihrer Nase, als hätte sie sich zwei scharfe Flukswurzeln hineingestoßen. Sie kann keinen klaren Gedanken mehr fassen, so unausstehlich stinkt es im Raum. Meah muss sich übergeben: einmal, zweimal. Angeekelt wischt sie sich mit der Hand ihren Mund ab.

    Ich muss etwas tun, rauft sich ihr Hirn mühsam zusammen. Was mache ich nur?

    Nach draußen gehen und somit das Einzige aufgeben, was sie und ihren Bruder von dieser abscheulichen Kreatur trennt? Nein, dieses Risiko kann sie nicht eingehen.

    Bevor sie über weitere Möglichkeiten nachdenken kann, übernimmt ihr Körper für sie die Kontrolle. Ehe sie sich’s versieht, hat sie sich durch die Kissen und Stoffklumpen der durcheinanderliegenden Inneneinrichtung einen Weg gebahnt und drückt sich rechts neben dem Fenster gegen die Wand. Um nichts in der Welt will sie der wild um sich schlagenden Zunge des Faulmauls in die Quere kommen.

    Mit schwacher Hand und zittrigen Fingern will sie das Fenster schließen, was sich als gar nicht so einfach herausstellt, denn ihre Hand ist vom eigenen Magensaft rutschig geworden.

    Nach einigen weiteren erfolglosen Versuchen gelingt es ihr dennoch. Zumindest fast. Das Fenster rutscht durch die Scharniere mit einem ächzenden Laut nach unten, bis sein Fall durch die Zunge des Faulmauls gestoppt wird. Trotz eingeklemmter Zunge ist von dem stummen Faulmaul weiterhin kein Laut zu vernehmen. Meah aber vernimmt was anderes: Stimmen. Es kommen Leute näher, ohne Zweifel.

    Endlich Hilfe! Das Monster ist gefangen!, geht ihr als Nächstes durch den Kopf. Ihrem Bruder ruft sie zu: »Komm mit, wir können nach draußen!« Er hat Meah während des ganzen Tumults mit Licht aus der Steinlampe versorgt.

    »Das Faulmaul hängt fest!«, hören sie den Oberverteidiger klar und deutlich schreien. »Los, brennt das Hompelhaus nieder, vernichtet das Vieh!«

    Orils Gefolgsleute gehorchen seinem Befehl. Ohne nachzudenken, werfen sie ihre brennenden Fackeln auf das Hompelhaus von Meah und Danbourg. Nach wenigen Sekunden brennt die äußere Hülle der Hütte lichterloh, denn diese Häuser werden seit jeher aus gutem Zunder gebaut.

    Mählich dringt der Rauch durch unzählige kleine Ritzen in die innere Raumhülle. Die an den Wänden tanzenden Rauchteufel zergen Meah und Dan in ihrer Nase und ihrem Rachen. Die Geschwister kriechen in die Richtung, in der sie den Eingang vermuten. Auf allen vieren erreichen sie das Ende des Raums. Mit letzter Kraft ziehen sie wahllos Gegenstände zur Seite, um den rettenden Ausgang irgendwo zwischen dem wild verteilten Hausinventar zu finden.

    Meah sieht, wie durch eine kleine Lücke im Gerümpel eine Rauchsäule nach draußen gesogen wird und ruft: »Da!«

    Kurz darauf zwängen sie sich stöhnend durch das Loch, das zu ihrem Glück an der Außenseite nur teilweise im kühlnassen Erdreich vergraben liegt.

    Draußen angelangt, schlägt Ihnen die kalte Morgenluft entgegen. Nur ein paar Armlängen weiter, denkt Meah. Danach zieht sich ein schwarzer Schleier über ihr Sehfeld. Unweit vom Eingangsloch bleiben die beiden Jugendlichen regungslos im Gras liegen.

    EINE SCHWIERIGE ENTSCHEIDUNG

    ärme. Die wohlige Wärme kriecht langsam von Meahs Zehenspitzen zu ihren Fersen und schließlich über die Beine weiter zum Oberkörper. Das Leben bahnt sich seinen Weg zurück in ihren Körper.

    Anfangs wogen die warmen Wellen nur zögerlich durch sie hindurch, später folgen sie in immer kürzer werdenden Abständen und werden zunehmend intensiver, bis sie schlussendlich siedend heiß in ihren Kopf schießen. Meah überkommt das Gefühl, sie müsse die Hitze auf irgendeine Art aus ihrem Körper entlassen.

    Unter großer Anstrengung öffnet sie ihre schweren Lider. Siehe da, mit dem ersten Wimpernschlag verschwindet das Hitzegefühl genauso plötzlich, wie es gekommen ist. Sie ist ins Leben zurückgekehrt. Ein bitterer Geschmack hat sich in ihrem Mund breitgemacht, dieser ist typisch für die Medizin der Bat’ma.

    »Wir zählen einen wachen Geist mehr im Raum!«, vernimmt Meah eine vertraute, ruhige und nett klingende Stimme.

    »Wir dachten schon, Salen habe dich zu sich genommen. Er muss es sich anders überlegt haben!«

    Meah will ihren Kopf in die Richtung der Stimme drehen. Sie schafft es nicht. Es fühlt sich an, als besäße ihre Halsmuskulatur keine Kraft. Sie will ihre Hand heben, auch das gelingt ihr nicht. Erst jetzt fällt ihr auf, dass sie auch nur undeutlich sehen kann. Das Bild verschwimmt zu allen Seiten, als würde ihr ständig Wasser in die Augen geschüttet.

    »Ruhig, kleines Wīsanbalg, nur ruhig! Salen wird’s schon richten. Vertraue und lieg still, schone deine Kraft!«, hört Meah erneut die Stimme.

    Sie gehorcht, denn eine andere Wahl bleibt ihr nicht. Sie wird schläfrig und so unglaublich müde, dass die vielen Fragen, die sich in ihrem Kopf herumwälzen, langsam verblassen, eine nach der anderen.

    »Wo bin ich?« Weg ist der Gedanke. »Wie geht es Danbourg?« Weg ist der Gedanke. »Wo ist das Faulmaul?« Auch dieser Gedanke verblasst. Kurz darauf fällt Meah in einen tiefen und traumlosen Schlaf.

    Kurze Zeit später klopft es dreimal gegen die Holzbalken der Türfassung: Tock, tock, tock.

    Muena schlurft gemächlich über die alten Holzdielen zur dicken und schweren Tür des Versammlungshauses. Der dorfältesten Frau steht es zu, dieses wunderbare Haus zu bewohnen und zu behüten, und so finden sich immer mal wieder die Dorfältesten bei Muena zu Hause zu einem Yulandertee ein, um gesellig beisammenzusitzen.

    Dieses Mal geht es in der uralten und wohlig schummrigen Wohnstube nicht nur darum, sich am gut riechenden Tee und Muenas süßlichem Gebäck gütlich zu tun, nein, heute muss ein Beschluss gefasst werden.

    »… eine schwierige Entscheidung zu fällen«, hört Muena die Stimme des Gerichtssprechers von draußen dumpf durch die Tür. »Es sind trotz ihres Alters Kinder, nur Kinder! Nie hätte ich gedacht, während meiner Zeit als Sprecher die jugendliche Holschuld wieder einführen zu müssen.«

    »Aber sie haben das Faulmaul allein dingfest gemacht, ganz allein – die zwei Wīsanbälge!«, hört sie eine weitere ehrfurchtsvolle Stimme, die Oril gehört.

    Muena zieht am langen schnabelartigen Griff, der neben der Türangel von der Decke hängt. Mit einem leisen Knarren öffnet sich die Tür.

    Ohne auch nur ein Wort des Grußes zu verlieren, tadelt Muena die beiden mit ihrer mütterlichen Stimme: »Ach, ihr wollt sie schicken, die zwei Kleinen? Nur knapp dem Schattwald entgangen, wollt

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