Anna der Indianer: Roman
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Buchvorschau
Anna der Indianer - Livia Anne Richard
www.cosmosverlag.ch
Jetzt steht Anna am offenen Grab und lacht.
Sie hat an Beerdigungen schon immer lachen müssen. Das ist ihr zuwider, weil es falsch interpretiert wird. Oft hat sie deshalb gehofft, dass sich das eines Tages auswachsen würde, aber die Dinge wachsen sich schwer aus bei Anna.
Dass eine Beerdigung und somit das Einzige, wovon man verbindlich weiss, dass es in jedem Fall irgendwann nach der Geburt eintreten wird, eine so rein ernsthafte Angelegenheit sein soll, bei der sich niemand zu lächeln traut, bei der sich alle viel länger als gewöhnlich die Hände schütteln und sich dabei mit Tiefgangblick in die Augen schauen, dass auch diejenigen tiefgängig schauen, welche den Verstorbenen gelinde gesagt nicht zum engsten Freundeskreis gezählt haben, dass es dann welche gibt, die zwar pietätvoll gucken und leise reden, sich dabei aber über das unpassende Wetter oder fehlende Parkplätze bei der Kirche ärgern – das alles erhellt Annas Gemüt durch sämtliche Finsternisse hindurch.
Es braucht dann jeweils nur noch eine homöopathische Dosis an Situationskomik.
Heute ist es die Amsel. Die Friedhofsamsel. Sie sitzt zuoberst auf der mächtigsten Tanne der ewigen Ruhe und balanciert stur auf deren Spitze. Weit unter ihr liegt das frisch ausgehobene Grab. Darin der Sarg. Man sieht es sofort: Diese Amsel ist die Königin des Totenreichs, und sie tut und lässt hier, was sie will. Denn gerade als der Pfarrer dazu auffordert, des lieben Verstorbenen in einem Moment der Stille zu gedenken, gerade als alle ihr Haupt senken und viele ihre Hände falten, gerade als diese seltene Ruhe eingetreten ist, die etwas Heiliges haben sollte, setzt die Amsel zum fröhlichsten Crescendo an.
Der Pfarrer hört die Amsel. Alle hören die Amsel. Der Pfarrer tut so, als würde er die Amsel nicht hören. Alle tun so, als würden sie die Amsel nicht hören. Fast alle.
Anna sieht langsam am Stamm der riesigen Tanne zur Königin empor. Sie sieht, wie die Amsel da oben in vollendeter Selbstüberschätzung den Kopf gen Himmel streckt, begeistert zu ihren eigenen Klängen wippt und von sich weiss: I’m the one, westlich des Urals pfeift kein verdammter Vogel besser als ich, Baby.
Der Kontrast dieser federleichten Lebensfreude auf der Tanne zur bleiernen Schwermut darunter ist umwerfend. Das Lachen befreit sich aus Annas Innerem wie ein Vulkanausbruch. Nichts zu machen.
Beim Menschen im Sarg handelt es sich um Annas vor drei Tagen verstorbenen Lieblingsmenschen Nico. Diese Tatsache hilft dem Verständnis für Annas Fröhlichkeit auch nicht auf die Sprünge. Schemenhaft, durch einen Schleier von Lachtränen und verflüssigter Wimperntusche hindurch sieht Anna die zu ihr hinschielenden Blicke der Trauergäste. Nur deren Augen bewegen sich angestrengt, isoliert von den Köpfen, welche weiterhin Richtung Boden und stillem Gedenken halten. Der Ausdruck dieser Augen, von denen man fast nur noch das Weisse sieht, schwankt zwischen Besorgnis und Entsetzen.
Wegen der schielenden Augen sehen die Trauernden alle aus wie nicht ganz durchgebacken. Anna schüttelt sich vor Lachen, sie ringt nach Atem. Die Königin auf der Tanne ihrerseits fühlt sich durch die ungewohnte Heiterkeit bestärkt und pfeift, als würde es kein Morgen geben. Langsam, aber sicher wirkt das Duett ansteckend. Die Trauergäste, knapp fünfzig an der Zahl, versuchen irgendwie mit dieser unerwarteten Herausforderung umzugehen. Einige starren weiterhin auf die Grube mit dem Sarg, andere starren ein Loch durch die Gemeinschaft hindurch zu einem unbekannten, mit Sicherheit aber unverfänglicheren Ort, doch starren tun sie alle, ausser Marc, der das mit Anna anlässlich anderer Beerdigungen schon erlebt hat. Auffällig viel wird auf Lippen herumgekaut, und ein paar Mutige schauen sich stumm fragend um, suchen den Geistlichen, suchen andere Mittrauernde auf der Jagd nach einer brauchbaren Idee, wie man sich angesichts der skurrilen Momentaufnahme wohl zu verhalten haben möge.
Der Pfarrer seinerseits, der in seinen sechsundvierzig Amtsjahren mit fast allem schon, noch nie aber mit solchem konfrontiert worden ist, wirft seinen Erfahrungsgenerator an und entschliesst sich dann, nach kurzer Rücksprache mit seinem Vorgesetzten, das Ereignis wie ein vorüberziehendes Gewitter zu behandeln. Also gar nicht.
Doch es wird nicht besser. Anna prustet, hechelt, brüllt. Und als des Pfarrers Gewitterstrategie nach weiteren langen zwei Minuten den erhofften Erfolg noch immer nicht bringt, beendet er die sowieso gar nie eingetretene Stille, indem er sich räuspert und trocken meint:
So soll es sein. Der Tod ist ja nicht nur traurig.
Die Toleranz des Klerikers hilft.
Noch ein paar Nachbeben, und es stellt sich auch bei Anna wieder ein angemessenes Verhalten ein. Alle sind froh, dass man die Sache doch noch zu einem guten Ende bringen kann, denn man hat langsam Durst an diesem heissen Junidonnerstag – für die Überlebenden geht der Stoffwechsel schliesslich weiter. Auch der Pfarrer will die Gunst der wiederhergestellten Ordnung nutzen und das Wort ergreifen, da erklingt ein weltlicher Ton, weltlich und sehr rockig, alle schauen sich mit strafendem Blick um, doch es ist der Pfarrer himself, der leicht verstört in seine linke Brusttasche greift, das Corpus Delicti mit spitzen Fingern herausklaubt, konsterniert in die Runde schaut, vermutlich eine Entschuldigung murmelt, sich dann abwendet, um etwas von «total ungünstig» in sein Handy zu zischen, das störende Element auf stumm stellt, es wieder in seiner Brusttasche versenkt und sofort zum Vaterunser ansetzen will.
Doch einer der Trauergäste kommt ihm zuvor. Er erachtet es als seine Pflicht, das ramponierte innere Gleichgewicht des Geistlichen wiederherzustellen. Lässt verlauten, dass das überhaupt nicht schlimm sei – überhaupt nicht, auch ein Pfarrer – also gerade ein Pfarrer müsse ja erreichbar sein, also noch mehr als jeder andere etc. etc. Der Pfarrer beginnt, dankbar für das aufbauende Geblöke seines Schafes und dieses Mal nach angemessener Zäsur, mit dem Vaterunser, alles erhält nun doch noch eine feierliche Note und hätte fortan eine Trauerfeier sein können, die den Namen verdient, wenn nicht, ungefähr bei Dein Wille geschehe, die Amsel ihren Schnabel wieder pfeifenderweise in die Angelegenheit gesteckt hätte, und zwar unter exakter Wiedergabe des pfarrerschen Handyklingeltons.
Was zu viel ist, ist zu viel. Den Atem anhalten. Schielen. Verzerrte, immer röter werdende Gesichter, dicke Hälse, aufgepumpte Backen, unterdrückte Grunzer, ersticktes Prusten, krampfartige Zuckungen und dann ein kollektiver Lachkrampf.
Die wenigen Besucher, die gerade bei den Gebeinen ihrer Verstorbenen weilen, halten ein zweites Mal in ihrem Ritual inne. Eine ältere Dame, die gebückt und schwitzend frische Dipladenia setzt, steht jetzt da mit ihrer erdverdreckten Schaufel in der Gummihandschuhhand, den Mund weit geöffnet. Alle glotzen empört zur ausgelassenen Trauergemeinschaft hinüber. Der Pfarrer merkt es und beschliesst, diese Beerdigung kraft seines Amtes auf der Stelle zu beenden. Man verstummt beschämt, und erst jetzt wird bemerkt, dass Annas Lachen längst in ein Weinen übergegangen ist.
Man wirft rote Rosen auf den schwarzen Sarg und bewegt sich alsdann Richtung Südportal des grossen Friedhofs, einige wollen auf Anna warten, wollen trösten, aber sie schickt sie alle weg, ich will einen Abschied unter vier Augen, schluchzt sie leise. Man versucht, Annas emotionalen Wellengang innerlich einzuordnen, und zieht angemessenen Schrittes von dannen, der Pfarrer steht als Einziger noch da, gehen Sie bitte, sagt Anna, der Pfarrer sagt nichts mehr und umschliesst Annas Hand mit seinen knöchernen Fingern. Dann macht er einen Abgang Richtung Nordportal.
Anna klaubt ein Papiertaschentuch aus der Handtasche, putzt die Tränen, die letzten Trauergäste verlassen das Südportal, sie nimmt einen kleinen Handspiegel hervor, putzt sich die Lavaspuren der Wimperntusche aus dem Gesicht, versenkt den Spiegel und das Papiertaschentuch wieder in ihrer Tasche und wartet, bis auch der Pfarrer ausser Reichweite ist. Dann stellt sie sich, so nahe es geht, an das offene Grab.
Und wieder musste ich lachen – sogar auf deiner Beerdigung. Nicht übel nehmen, Nico. Du weisst es ja, ich kann einfach nichts dagegen tun, es wird mir zum Theater.
Da liegst du jetzt. Nein, du nicht, nur dein Gehäuse. Du bist an einem anderen – Ort? Gib mir bitte ein Zeichen, wo das ist. Vielleicht bist du ja noch auf der Reise. Gar nicht angekommen.
Anna schluchzt auf. Die Dame mit den Dipladenia hört es, schüttelt den Kopf, streift sich die Gummihandschuhe ab und giesst die frisch gesetzten Blumen.
Anna öffnet ihre Handtasche erneut. In einem Seitenfach liegt ein kleines Paket aus Haushaltpapier. Darin eingewickelt sind drei schwarze Scherben, darauf gelbe Buchstaben, die keinen Sinn ergeben. Sie küsst eine Scherbe und wirft sie auf den Sarg. Dann die zweite und die dritte.
Leb wohl, Nico.
Vor ihrem geistigen Auge sieht sie, wie Nico jetzt den Kopf leicht schräg stellen würde. Er würde sagen: Bist du sicher mit dem «Leb wohl»? Sie würde sagen: Natürlich! Irgendetwas wird ja sein, es gibt kein Nichts ohne ein Etwas. Und er würde stumm nicken. Die Bewegung übertrieben gross, langsam, unter Zuhilfenahme des ganzen eindrücklichen Schädels, so, wie er es immer getan hat, wenn er auf den Stockzähnen schmunzeln musste wegen Anna, die, wie er fand, meist schneller sprach, als sie denken konnte. Wenn er aber glaubte, dass er nur auf den Stockzähnen schmunzelte und sich mimisch in keiner Weise verriet, war er auf dem Holzweg: Seine tiefen Grübchen beidseits seines vollen Mundes, die sich gerade dann, wenn er nicht lachen wollte, vertieften, und die Falten, die dann von den Grübchen ausgehend sich ausbreiteten, waren für Anna immer ein untrügliches Zeichen, dass er sie nicht ganz ernst nahm. Das hatte zuweilen Eruptionen zur Folge, und gerade diese beschwörte Nico herauf. Anna, fand er, war am liebenswertesten, wenn sie vor Wut überschäumte.
Die Amsel singt jetzt wieder. Anna schaut nochmals zu ihr hoch und fühlt einen Moment lang Frieden.
Ich gehe jetzt, Nico. Ich werde nicht hierher zurückkommen. Ich finde dich dann schon. Ciao ciao ciao ciao ciao.
Sie gibt sich einen Ruck, dreht sich auf den Stilettoabsätzen um und geht Richtung Südportal über den nun menschenleeren Friedhof. Sie schaut nochmals zu Nico zurück, beschleunigt dann ihren Schritt auf dem langen, schnurgeraden Weg zwischen all den Grabsteinen hindurch. Dazu durchkämmt sie ihre Handtasche nach Zigarettenschachtel und Feuerzeug. Ihre Finger differenzieren geschickt zwischen all den unglaublich vielen Gegenständen, die sie Tag für Tag durchs Leben schleppt. Da, die Zigarettenschachtel. Sie fingert in vollem Lauf eine Zigarette heraus, steckt sie sich in den Mund, sucht weiter nach einem Feuerzeug, das gibt es doch nicht, wo sich die Dinger nur immer verkriechen, also doch kurz stehenbleiben. Zweihändig maulwurfen.
Da hört sie ein kleines Geräusch. Das kleine Geräusch, wenn jemand den Daumen über die Rädchen eines Feuerzeugs bewegt. Anna schaut auf. Da steht einer. Genau vor ihr. Mit brennendem Feuerzeug. Sie hat ihn weder kommen sehen noch kommen hören.
Immer noch hat sie die Zigarette im Mund und überlegt im Moment gerade, was zu tun ist, und wenn der nicht näher kommt, dann gehe ich