Behütet wie ein Augapfel: Sophienlust 320 – Familienroman
Von Marisa Frank
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Über dieses E-Book
Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren.
»Puh!« rief ein etwa neunjähriger Junge und ließ sein Fahrrad einfach fallen. Sein Gesicht war hochrot, er atmete schwer. »Das war eine Leistung«, sagte er zu sich selbst. Dann wurden seine Augen vor Enttäuschung groß. Er konnte keines der Kinder sehen. »Schwester Regine, Tante Ma«, brüllte der Junge und flitzte um die Ecke des großen, einstöckigen Gebäudes. Er spurtete die Freitreppe empor und durch das Portal hinein in die Halle. In der Halle, die der Mittelpunkt des Kinderheims Sophienlust war, saß die fünfjährige Heidi Holsten auf dem Bärenfell vor dem Kamin. Kopfschüttelnd sah sie dem Jungen entgegen. Dann stellte sie stirnrunzelnd fest: »Du schreist, als ob du uns alle aufwecken wolltest. Dabei schlafen wir gar nicht.« Der Junge, es war Henrik von Schoenecker, der jüngste Sohn Denise von Schoeneckers, verhielt seinen Schritt. Erleichterung stand in seinem Gesicht. Doch dann wurde er wieder mißtrauisch. »Bist du etwa allein?« Heidi stand auf. »Allein?
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Behütet wie ein Augapfel - Marisa Frank
Sophienlust
– 320 –
Behütet wie ein Augapfel
Marisa Frank
»Puh!« rief ein etwa neunjähriger Junge und ließ sein Fahrrad einfach fallen. Sein Gesicht war hochrot, er atmete schwer. »Das war eine Leistung«, sagte er zu sich selbst. Dann wurden seine Augen vor Enttäuschung groß. Er konnte keines der Kinder sehen.
»Schwester Regine, Tante Ma«, brüllte der Junge und flitzte um die Ecke des großen, einstöckigen Gebäudes. Er spurtete die Freitreppe empor und durch das Portal hinein in die Halle.
In der Halle, die der Mittelpunkt des Kinderheims Sophienlust war, saß die fünfjährige Heidi Holsten auf dem Bärenfell vor dem Kamin. Kopfschüttelnd sah sie dem Jungen entgegen. Dann stellte sie stirnrunzelnd fest: »Du schreist, als ob du uns alle aufwecken wolltest. Dabei schlafen wir gar nicht.«
Der Junge, es war Henrik von Schoenecker, der jüngste Sohn Denise von Schoeneckers, verhielt seinen Schritt. Erleichterung stand in seinem Gesicht. Doch dann wurde er wieder mißtrauisch.
»Bist du etwa allein?«
Heidi stand auf. »Allein? Wie meinst du das?« Sie drehte sich um die eigene Achse. Dann ging sie auf Henrik zu und sah ihm neugierig ins Gesicht.
»Was hast du denn? Deine Haare sind ganz naß.«
»Ich bin gefahren wie ein Rennfahrer. So schnell kann nicht einmal Nick fahren«, sagte Henrik stolz.
Heidi war nicht beeindruckt. »Warum bist du so schnell gefahren?« erkundigte sie sich.
»Weil ich mit euch mitkommen will. Mensch, habe ich mich beeilt.«
»Das wäre nicht nötig gewesen. Die sind noch nicht fertig.« Heidi seufzte und legte ihre Stirn in altkluge Falten. »Was glaubst du, was ich hier mache? Ich warte.« Sie drehte sich zu der teppichbespannten Treppe um, die hinauf in den ersten Stock führte.
»Ich dachte, ihr wolltet um vierzehn Uhr aufbrechen?« Endlich nahm Henrik sich die Zeit, sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Er versuchte auch seinen wilden Haarschopf zu glätten, doch dies wollte ihm nicht gelingen.
»Wollten wir auch.« Zutraulich näherte sich Heidi dem Jungen. »Aber Schwester Regine hat gesagt, daß zuerst die Aufgaben gemacht werden müssen, und das dauert.« Wieder verzog die Kleine das Gesicht und seufzte. »Ich weiß ganz genau, wenn ich in die Schule gehen werde, werde ich nie so lange zu den Aufgaben brauchen.«
»Darüber reden wir später. Du wirst noch deine blauen Wunder erleben.« Nun war es an Henrik zu seufzen. Auch er hatte zuerst seine Schularbeiten machen müssen, und das war ihm nicht gerade leichtgefallen. »Die Lehrer verlangen einfach zuviel von einem«, fügte er mißmutig hinzu.
Mit schräg geneigtem Köpfchen sah Heidi zu ihm empor. Sie schien zu überlegen. Nach einigen Minuten sagte sie: »Ich freue mich aber trotzdem auf die Schule. Dann kann ich selbst lesen. Wie die Großen werde ich dann am Abend, wenn Schwester Regine bereits das Licht ausgemacht hat, noch mit der Taschenlampe unter der Bettdecke lesen.«
»Wenn du erst einmal lesen kannst, dann ist es nicht mehr interessant«, widersprach Henrik ihr.
»Aber du liest doch gern«, wunderte sich Heidi.
»Schon«, gab Henrik zu, »aber es war auch sehr schön, als Mutti mir vorlas.«
Heidi zuckte die Achseln, dann gab sie zu bedenken: »Dann muß man immer so lange warten, bis jemand zum Vorlesen Zeit hat.«
»Hm, wir wollen darüber nicht streiten.« Henrik beugte sich etwas zu der Kleinen hinab. Seine grauen Augen blitzten. »Soll ich dir etwas verraten?« fragte er.
Heidi nickte so eifrig, daß ihre zwei Rattenschwänzchen flogen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um Henrik näher zu sein. »Und?«
»Ich weiß nicht, bist du nicht noch zu klein für ein Geheimnis?« Der Neunjährige trat einen Schritt zurück und musterte die fünfjährige Heidi aus zusammengekniffenen Augen. Er wollte sie nur necken. Als er jedoch sah, daß es um ihre Mundwinkel zu zucken begann, sagte er rasch: »Ich weiß wirklich etwas, was sonst niemand weiß. Es soll eine Überraschung werden. Andrea, meine große Schwester, hat für uns Speiseeis vorbereitet. Das bekommen wir, wenn wir bei ihr im Tierheim sind. Dazu gibt es Waffeln.«
Heidis Zungenspitze fuhr über die Lippen. Mit verklärten Augen flüsterte sie: »Ist das auch wahr?«
»Es ist wahr. Aber die anderen wissen es noch nicht.«
»Die werden Augen machen.« Vor Begeisterung schlug Heidi die Hände zusammen.
»Pst«, mahnte Henrik. »Du wirst doch nichts verraten? Ich habe es auch nur durch Zufall gehört.«
»Ganz sicher nicht.« Heidi legte ihre Hand aufs Herz. Diese Geste hatte sie von Fabian übernommen. »Ich schwöre«, sagte sie feierlich.
Henrik nickte. Vorsichtshalber legte er aber noch den Finger auf die Lippen. Er hatte das mit dem Eis nur erfahren, weil er gelauscht hatte. Es war besser, wenn seine Mutti und Andrea das nicht erfuhren.
Heidi nickte ebenfalls. »Gibt es Erdbeereis oder…« Sie unterbrach sich, denn im ersten Stock war es laut geworden. »Pst! Sie kommen!«
Heidi zwinkerte Henrik zu, dann lief sie zur Treppe. »Wo bleibt ihr denn?« rief sie laut nach oben.
Schwester Regine, so wurde die Kinderschwester von Sophienlust von allen genannt, erschien als erste auf der Treppe. »Wer schreit da so?« fragte sie lächelnd.
»Zuerst war es Henrik, jetzt bin ich es. Wir warten auf euch.«
»Ja«, pflichtete Henrik der kleinen Heidi bei, »wenn ihr euch nicht beeilt, bekommen wir noch graue Haare.«
»Das können wir natürlich nicht verantworten.« Die Kinderschwester schmunzelte.
Heidi rief dagegen prustend vor Lachen: »Henrik und graue Haare! Er würde dann wie der alte Oberförster aussehen.«
Hinter Schwester Regine tauchten jetzt Kinder auf. Sie liefen die Treppe herab und wollten alle wissen, was es zu lachen gebe.
»Das wird nicht verraten«, entschied Henrik. Er machte sich stets gern wichtig. »Jetzt ist wichtiger, daß wir weiterkommen. Ich bin der erste.« Er riß die Hand hoch. »Wer mitkommen will, folge mir.«
Alle stürmten hinter ihm her. Schwester Regine und Angelina Dommin, eines der älteren Mädchen, waren die letzten.
Es war eine lustige Gesellschaft, die durch den großen Park mit dem alten Baumbestand, teils lief, teils ging. Ihr Ziel war das Tierheim Waldi und Co., am Rande von Bachenau, nicht allzuweit vom Kinderheim Sophienlust entfernt. Es wurde von dem jungen Tierarztehepaar von Lehn geführt und war ein Heim für herrenlose, kranke oder vernachlässigte Tiere. Die Kinder von Sophienlust waren gern und oft zu Besuch. Sie hatten auch das Schild mit den weithin sichtbaren grünen Buchstaben gemalt. Es hing über dem Tor zum Tierheim, und jeder konnte lesen:
Waldi und Co. – Das Heim der glücklichen Tiere.
»Was läufst du denn so?« wurde Heidi von Fabian gefragt, denn die Kleine war diesmal stets an der Spitze.
»Ich freue mich auf das Tierheim«, sagte Heidi und zwinkerte Henrik zu.
»Ich freue mich auch«, rief sofort ein anderes Kind, und alle anderen Kinder stimmten ein. Hätte Schwester Regine nicht ein Machtwort gesprochen, hätten sie das letzte Stück Weg im Laufschritt zurückgelegt.
Trotz der Mahnung der Kinderschwester eilte Heidi einige Schritte voraus, so daß sie den fremden Jungen zuerst sah. Er saß am Straßenrand und hatte ein junges schwarzes Kätzchen im Schoß.
Heidi blieb vor dem Jungen stehen und fragte: »Darf ich es streicheln?«
»Nein«, sagte der Junge heftig.
Erschrocken trat Heidi einen Schritt zurück. »Warum bist du so böse?« fragte Heidi. »Ich will deinem Kätzchen ja nichts tun.«
»Es ist nicht mein Kätzchen.« Der Junge hob den Kopf. »Aber ich will es beschützen. Es ist verletzt.«
»Oh!« Heidi ging vor dem Jungen in die Knie. »Da kann nur Onkel Hans-Joachim helfen.« Als sie die Abwehr des Jungen sah, fuhr sie eifrig fort: »Er macht alle Tiere wieder gesund.«
Erschrocken, die Katze fest an sich gedrückt, sprang der Junge auf, denn inzwischen waren die anderen Kinder herangekommen und hatten ihn umringt. Mehrere Hände streckten sich nach dem Kätzchen aus.
»Nein«, schrie der Junge. »Es ist doch verletzt. Sicher braucht es Ruhe.«
Nur vor Schwester Regine wich der Junge nicht zurück. Regine Nielsen war eine hübsche junge Frau und verstand es, mit Kindern umzugehen. Sorgfältig untersuchte sie das Kätzchen.
»Es muß zu Onkel Hans-Joachim«, plapperte Heidi eifrig dazwischen.
»Ja, du hast recht.« Die Kinderschwester sah den Jungen an und erläuterte: »Heidi meint einen Tierarzt. In dem Tierheim, dort hinten, hat er seine Praxis.«
»Tierheim?« Der Junge, er mochte etwa ein Jahr jünger sein als Henrik, machte große Augen. »Da ist doch ein Schild. Das habe ich schon gelesen.« Dann senkte er den Kopf. »Meine Mama hat gesagt, Tiere können nicht glücklich sein.«
»Wir nehmen ihn mit ins Tierheim«, schrie Henrik und überbrüllte damit die anderen. »Dann kann er selber sehen, daß die Tiere glücklich sind. Sie sind zufrieden und fühlen sich wohl. Der Affe Mogli genauso wie der Esel Fridolin.«
»Was, solche Tiere wohnen dort? Du lügst!« Verwirrt sah der Junge von einem zum anderen.
»Ich lüge nicht. Das heißt, nur ganz selten. Im Tierheim gibt es wirklich eine Menge interessanter Tiere.«
»Wie im Zoo«, rief jemand dazwischen.
»Und die kann man sehen?«
»Du kannst