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Die weiße Leber
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eBook321 Seiten

Die weiße Leber

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Über dieses E-Book

In der Wörthersee-Gemeinde Klein Eggen wird die nymphomanisch veranlagte Kellnerin Ramona Opfer eines bestialischen Messermörders. Als Ludwig Melischnig unter Mordverdacht verhaftet wird, kommt ihm Herbert Pogatschnig zu Hilfe, der Bruder seines verstorbenen Freundes.
Über Umwege findet Pogatschnig eine Reihe von Verdächtigen, doch als er die Zusammenhänge erkennt, ist der Mörder schneller.

In Kärnten wird wieder gemordet

Mit dem Kriminalroman "Die weiße Leber" setzt Roland Zingerle seine Groschenroman-Kultserie "Klagenfurter Kneipen-Krimi" fort.
Voyeurismus, Erpressung, Mord – in Kärnten ging's schon einmal ruhiger zu.

Zur Serie

Über die Einhaltung von Gesetzen wacht die Polizei – aber nicht nur. In Klagenfurt am Wörthersee haben sich der Großhandelsvertreter und spätere Bierführer Hubert Pogatschnig und der Bierführer-Assistent Ludwig Melischnig die Aufklärung von Kapitalverbrechen zur Aufgabe gemacht. Dabei besteht der besondere Reiz für die beiden darin, schneller zu ermitteln als die Polizei.
Von den Medien als "Zwei für die Gerechtigkeit" gefeiert und von der Kripo unter dem Kommando von Chefinspektor Leopold Ogris als "Deppen-Duo" verachtet, machen sich die beiden Hobby-Detektive die Vorteile des Tratsches zunutze: Sie suchen dort nach Hinweisen, wo Informationen ausgetauscht werden, nämlich in Gaststätten oder Gewerbebetrieben, Vereinen oder Nachbarschaften, beim täglichen Herumkommen oder auf gelegentlichen Extratouren an Originalschauplätzen in und um Klagenfurt am Wörthersee.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Z
Erscheinungsdatum10. Mai 2019
ISBN9783966103183
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    Buchvorschau

    Die weiße Leber - Roland Zingerle

    Roland Zingerle

    Die weiße Leber

    Ein Kneipen-Krimi

    Ich widme dieses Buch allen Freunden des „Klagenfurter Kneipen-Krimis".

    Eurer Begeisterung ist es zu verdanken, dass die Saga weitergeht.

    Prolog

    Gesetz und Verbrechen unterliegen dem Henne-Ei-Prinzip. Zwar scheint das Verbrechen älter zu sein, da Gesetze ansonsten nicht nötig geworden wären, doch hätte man schwerlich je ein Verbrechen erkannt, wäre damit nicht irgendein Gesetz gebrochen worden.

    Gesetze regeln das menschliche Zusammenleben und über ihre Einhaltung wacht die Polizei. Aber nicht nur: In Klagenfurt haben sich der Bierführer Hubert Pogatschnig und sein Assistent Ludwig Melischnig die Aufklärung von Kapitalverbrechen zur Aufgabe gemacht. Dabei besteht der besondere Reiz für die beiden darin, schneller zu ermitteln als die Polizei. Von den Medien als „Zwei für die Gerechtigkeit gefeiert und von der Polizei unter dem Kommando von Chefinspektor Leopold Ogris als „Deppen-Duo verachtet, machen sich die beiden Hobby-Detektive die Vorteile des Tratsches zunutze: Sie suchen dort nach Hinweisen, wo Informationen ausgetauscht werden, nämlich in den Gaststätten in und um Klagenfurt …

    1

    Sonntag, 23. Juni, 9.50 Uhr

    Klein Eggen, Kärnten

    Die Sonne lachte von einem nahezu wolkenlosen Himmel, als das Kirchentor sich öffnete und die Einwohner von Klein Eggen aus der Sonntagsmesse entließ. Sie waren festlich gekleidet, die meisten von ihnen in Tracht und bester Sonntagslaune. Während die einen das Areal verließen, blieben andere im Freien stehen, um miteinander zu plaudern. Wieder andere verteilten sich auf dem Friedhof, der die Kirche umgab, um ihre verstorbenen Verwandten zu besuchen.

    Einer dieser Friedhofsbesucher war Lisl Berger. Obwohl erst Mitte dreißig, waren ihr Gang gebückt und ihr Schritt unsicher. Sie hatte nicht weit zu gehen, denn das Grab ihres Mannes lag nur wenige Meter vom Kircheneingang entfernt.

    »Servus, Matthias«, sagte sie leise, während ihre Hand zärtlich über den Grabstein strich. »Es war wieder eine gute Woche.« Sie hockte sich hin und begann, die verdorrten Blumen aus dem Grabschmuck zu zupfen. »Michael wird ein bisschen anstrengend, aber sonst passt alles. Er träumt noch immer davon, dass wir den Chorwettbewerb gewinnen werden, das macht das Proben momentan schwierig, aber er wird auch noch gescheiter werden.«

    Lisl Berger öffnete die kleine Tür der Grablaterne, entnahm ihr die abgebrannte Kerze und stellte sie an den Rand der Grabplatte, wohin sie auch die verdorrten Blumen gelegt hatte. Dann holte sie eine neue Kerze aus ihrer Handtasche, stellte sie in die Laterne und schloss diese, nachdem sie die Kerze entzündet hatte. Sie spürte, wie eine Träne ihren Nasenflügel entlangrann. Schnell wischte sie sie weg, und als gehörte es zu dieser Bewegung, wisperte sie kaum hörbar: »Du fehlst mir so!«

    Doch schnell räusperte sie sich und begann, die frischen Unkrauttriebe auszureißen, die schon wieder aus dem Kies lugten, der das Grab bedeckte.

    Eine Kirchenglocke erklang. In hellem Ton schlug sie viermal, das Zeichen für die volle Stunde. Dann ertönte eine andere Glocke mit tieferem Klang, die die Anzahl der Stunden schlug: zehn Uhr.

    Lisl Bergers Bewegung erstarb, und ihr Blick ging ins Leere.

    »Heute Nachmittag bringe ich dir frische Blumen«, murmelte sie.

    Zehn Uhr. Zehn. Zehn Jahre.

    »Gestern waren es genau zehn Jahre«, sagte sie dumpf. »Tut mir leid, wenn ich dich daran erinnere, ich weiß, ich muss es nicht, aber … es … wird nicht leichter, weißt du?«

    Diesmal blieb es nicht bei einer Träne, doch diesmal beachtete Lisl Berger sie nicht.

    »Alles«, sagte sie mit erstickter Stimme, »alles würde ich dafür geben, wenn ich euch beide noch einmal umarmen dürfte. Dich und Tanja. Mein Kind. Unser Kind. Unser einziges, liebes Kind.«

    Sie schwankte und setzte ein Knie auf den Boden, um nicht umzukippen. Mit einer Hand stützte sie sich am Grabstein ab. Zwischen ihrem Schluchzen zog sie keuchend die Luft ein, das erschien ihr der einzige Weg zu sein, um ihren Schmerz ertragen zu können.

    So verharrte sie geraume Zeit, bis ihr Schluchzen langsam abklang. Dann fühlte sie sich leichter. Sie trocknete ihre Tränen mit einem Taschentuch und seufzte tief, hob den Kopf und ließ ihre Augen über den Himmel wandern, als suche sie dort nach Erlösung. Doch Erlösung war nichts, was der Himmel einem zu Lebzeiten gab, das wusste sie.

    Bürgermeister Christian Werzer stand vor der Kirchentür und unterhielt sich gut gelaunt mit ein paar Dörflern.

    »Wie sieht’s aus, gehen wir noch auf ein Glas Wein zum Kirchenwirt?«, fragte er Mario Sucher, einen der Vizebürgermeister. Dieser duckte leicht den Kopf zwischen die Schultern und antwortete: »Tut mir leid, Christian, ich habe den Kindern versprochen, dass wir heute zum See hinunterfahren.«

    Christian Werzer lachte.

    »Jede Minute wird zum Baden ausgenützt, stimmt’s?«

    Er schlug Sucher herzhafter auf die Schulter, als es diesem recht war. Dennoch ließ er es sich mit einem bescheidenen Lächeln gefallen.

    Während der Bürgermeister sich nach einer anderen Gesellschaft für sein vormittägliches Glas Wein umsah, fiel Mario Suchers Blick auf Lisl Berger, die dort am Grab ihres Mannes kauerte. Er beschloss, sie an die bevorstehende Gemeindeausschusssitzung zu erinnern. Zwar war Lisl als zweite Vizebürgermeisterin wahrscheinlich das zuverlässigste Mitglied des Gemeinderates, doch der Inhalt der Sitzung war zu wichtig, als dass Sucher ihre Abwesenheit riskiert hätte.

    »Hallo, Lisl!« Ein heftiges Zucken ging durch die Vizebürgermeisterin. »Nicht erschrecken«, lachte Mario Sucher, »ich bin’s nur.«

    Als Lisl Berger zu ihm hochsah, war er es, der erschrak, denn ihr Make-up war tränenverschmiert.

    »Entschuldige«, murmelte er, »ich habe nicht gewusst …«

    »Ist schon in Ordnung«, unterbrach sie ihn mit gewohnt fester Stimme und stand auf.

    Mario Sucher blickte auf das Grab ihres Mannes.

    »Ein Jahr ist das schon her, oder?«, fragte er.

    »Vierzehn Monate«, korrigierte Lisl Berger knapp.

    »Vierzehn Monate?«, fragte Sucher überrascht.

    Sie nickte.

    »Von einer Sekunde auf die andere. Er ist vom Frühstück aufgestanden, hat einen Schritt gemacht und ist umgefallen. Einfach so.«

    Mario Sucher nickte stumm. Er hörte die Geschichte nicht zum ersten Mal, doch Lisl Berger tat es gut, sie zu erzählen, daher unterbrach er sie auch nicht.

    »Er hat keinen Ton von sich gegeben«, fuhr sie fort. »Zuerst habe ich gedacht, er ist gestolpert, aber dann …«

    Sie schüttelte kurz und heftig den Kopf, als könnte sie damit die Erinnerung abwerfen, und sah ihrem Vizebürgermeister-Kollegen gerade in die Augen.

    »Aber das weißt du ja schon alles, bitte entschuldige.«

    »Du musst dich nicht entschuldigen, Lisl«, erwiderte Sucher aufrichtig. »Wir sind alle tief betroffen darüber, dass das Schicksal dich so hart hernimmt.«

    »Ich weiß«, sagte sie beschwichtigend, »ich weiß. Aber reden wir von etwas anderem. Was kann ich für dich tun?«

    »Ach, das ist nicht so wichtig.« Mario Sucher empfand sein Anliegen nun als klein und peinlich. »Ich wollte dich nur an die Gemeindeausschusssitzung am Dienstag erinnern, aber …«

    »Die lass ich mir nicht entgehen«, erwiderte Lisl Berger. In ihrer Stimme schwang wieder jene kraftvolle Ruhe, die jedem im Gemeinderat das Gefühl gab, sie wüsste unbeirrbar, was gut für Klein Eggen sei. »Wenn unsere Landesregierung eine neue Eisenbahn haben will, dann müssen die Schienen einen Bogen um unsere Gemeinde machen.«

    2

    Montag, 24. Juni, 9.30 Uhr

    Donauinsel, Wien

    Ein heißer Strahl mitten ins Gesicht. Das war das Erste, was Herbert Pogatschnig an diesem Morgen wahrnahm. Eine stinkende Brühe. Und noch ehe er richtig zu sich gekommen war, ein zweiter. Alles Weitere kam dann: Zunächst wurde Pogatschnig seine Präsenz in seinem Körper bewusst, dann, noch ehe er die Lider öffnete, schalteten die Augäpfel sich schmerzhaft zu, seine Sinne fuhren hoch.

    »Ja, brav, Mandi!«

    Auch sein Gehör funktionierte. Überhaupt registrierte sein Gehirn einen alle Regionen umfassenden Schmerz, Herbert Pogatschnig stöhnte. Auf das Erste, was seine Augen an diesem Tag sahen, hätte er ebenso gut verzichten können wie auf das nasse Gewecktwerden: Direkt vor ihm wackelte der Hintern eines kleinen Hundes, dessen Hinterpfoten Gras und Erde in Pogatschnigs Gesicht schleuderten, offenbar, um die Rückstände seiner soeben verrichteten Notdurft vor der Umwelt zu verbergen.

    »Brav, Mandi«, wiederholte die Besitzerin des Hundes, eine ältliche, pummelige Frau, mit breitem Wiener Dialekt. »Brauchen wir gar kein Sackerl für dein Gackerl.« Sie kicherte, als sie ihrem davontrippelnden Hund folgte. »Kriegst daheim ein Keksi.«

    Herbert Pogatschnig schloss wieder die Augen. Mit jedem Schlag pumpte sein Herz einen schmerzhaften Stich in die Schläfen und Augäpfel. Der Kopfschmerz schien jeden Moment ins Unerträgliche zu kippen. Er erhob seinen Oberkörper und drehte sich ächzend auf die Knie. Der Schmerz in seinem Kopf schwoll kurz vehement an, Herbert Pogatschnig musste sich zusammennehmen, um seinen Mageninhalt für sich zu behalten.

    Wie um den Schlaf abzuziehen, wischte er mit der Hand über sein Gesicht. Die ölige, mit Grashalmen und Erdkrümeln durchsetzte Substanz, die er dabei in der Handfläche spürte, erinnerte ihn wieder an die Umstände, unter denen er vorhin erwacht war. Er ekelte sich, wischte die Hand in der Wiese ab, so gut es ging, und fingerte umständlich ein Taschentuch aus seiner Hose, um sein Gesicht wenigstens notdürftig zu reinigen. Als er damit fertig und das Taschentuch nur noch ein stinkender Fetzen war, sah er sich gewohnheitsmäßig nach einem Papierkorb um. Dabei stellte er fest, dass die Wiese, in der er lag, einer Müllhalde glich. Doch das verwunderte ihn nicht, es erinnerte ihn nur an die vergangene Nacht. Das Donauinselfest – gestern war der letzte Tag gewesen, und er hatte ihn bis zu Neige ausgekostet! Er konnte sich nicht daran erinnern, um welche Uhrzeit er im Rausch das Bewusstsein verloren hatte.

    Er warf das zusammengeknüllte Taschentuch auf eine freie Stelle zwischen einem Plastikbecher, einer senfbeschmierten Papierserviette und einem gründlich ausgetretenen Zigarettenstummel. Dann rappelte er sich auf.

    Es war jedes Mal wieder erstaunlich, wie unterschiedlich Pogatschnig sein Körpergewicht spüren konnte, je nachdem, in welchem seelischen Zustand er war. Andererseits hätte er auch gewusst, dass seine Seele in einer erbarmungswürdigen Verfassung war, wenn sein Körper heute nicht gefühlte eins Komma fünf Tonnen gewogen hätte. An sich selbst hinabblickend, nahm er nicht wirklich etwas wahr, zu sehr war er damit beschäftigt, seinem Schwindelgefühl entgegenzusteuern. Er klopfte notdürftig den gröbsten Schmutz von seiner Kleidung ab und spürte dabei, dass ihm das Hemd aus der Hose hing. Er stopfte es rundum unter den Hosenbund, wobei er feststellte, dass seine Brieftasche fehlte. Ein Gefühl von Panik beschleunigte seinen Herzschlag, rasch sah er sich um, konnte die Brieftasche jedoch nirgendwo in der Umgebung seines Schlafplatzes ausmachen.

    Verdammt!

    Unverrichteter Dinge machte er sich auf den Weg. Er taumelte die paar Meter bis zum asphaltierten Fuß- und Radweg und machte sich dann, langsam und immer sein Schwanken ausgleichend, auf den Weg zur Brigittenauer Brücke.

    Ein älterer, hagerer Herr auf einem Fahrrad kam ihm entgegen. Als er Pogatschnig passierte, blieb sein Gesicht auf diesen gerichtet, ein Gesicht, das in einem Ausdruck ablehnender Missbilligung eingefroren zu sein schien. Die Dicke der Brillengläser gab seinen Augen einen Fischblick.

    Nun war es schon so weit gekommen, dass sein innerer Zustand so stark nach außen durchschien, dass er anderen Menschen auffiel. Das hieß etwas, denn in dieser Stadt musste man schon sehr auffallen, bevor Leute auf einen aufmerksam wurden, die man nicht kannte. Das schaffte man im Normalfall nur, wenn man in einer voll besetzten U-Bahn tot zusammenbrach, und das auch nur, weil man damit andere beim Stehen störte.

    Wie hatte der gestrige Abend geendet, verdammt noch einmal? Herbert Pogatschnig war bester Stimmung gewesen, so ausgelassen wie schon lange nicht mehr. Er war von Bühne zu Bühne gezogen und hatte mit den Jugendlichen mitgegrölt, sogar bei Liedern, die er weder kannte, noch deren Texte er verstand. Er hatte sich mit der Menschenmasse treiben lassen, wie sich ein einsames Stück Treibholz im Ozean eben treiben lässt. Irgendwann zwischen seinem geschätzt zehnten Bier und 1 Uhr morgens riss der Film. Seine Brieftasche hatte ihm möglicherweise ein nächtlicher Heimkehrer aus der Hose gestohlen, der Pogatschnigs Bewusstlosigkeit mehr als Chance zur Selbstbereicherung sah denn als Auftrag, die Rettung zu verständigen.

    Wenigstens sein Mobiltelefon war nicht gestohlen worden, er hatte es nämlich zu Hause gelassen. Es gab niemanden, den er hätte anrufen, und niemanden, von dem er hätte angerufen werden wollen. Außer einer und die hatte er gestern bewusst nicht gefragt, ob sie ihn begleiten wollte.

    Als er die Brücke überquert hatte, sah Pogatschnig sich nach seinem Wegweiser um, die »goldene Zwiebel«, wie er ihn nannte. Dabei handelte es sich um eine kugelförmige goldfarbene Ausbuchtung im oberen Drittel des Schornsteins der Müllverbrennungsanlage Spittelau. Er überquerte den Donaukanal über die Fußgängerbrücke Spittelau und schleppte sich zwischen dem Gebäudekomplex der Müllverbrennungsanlage und jenem des Verkehrsamtes hindurch. Dann wurde es haarig, denn auch wenn Herbert Pogatschnig sich nun von hinten an das Administrationsgebäude der Wirtschaftsuniversität annäherte, so traf er auch hier auf viele Studenten. Freilich, es war nichts im Vergleich zu dem, was sich vorne am Haupteingang abspielte, dennoch war auch der Durchgang zwischen dem Administrationstrakt und dem Pharmazie-Zentrum, den Herbert Pogatschnig gewählt hatte, sehr belebt. Die einen pendelten zwischen den Gebäudekomplexen hin und her, andere unterhielten sich zigarettenrauchend, und wieder andere saßen in der jetzt schon heißen vormittäglichen Sommersonne.

    Konnte es nicht schon ein Semester später sein? Da wären die Wirtschaftsstudenten schon alle auf den neuen Campus am Prater übersiedelt! Eine Woche später hätte auch schon gereicht, da wäre der überwiegende Großteil von ihnen schon in den Sommerferien gewesen …

    Auch wenn Herbert Pogatschnig sich gerne einredete, dass ihm längst alles egal war, so stimmte das doch nicht ganz. Sein Sinn für Ordnung war ein stabiler Pfeiler seiner Persönlichkeit, und so war es nur natürlich, dass er sich schämte, in seinem Aufzug universitären Boden zu betreten. Doch es half nichts: Wollte er zur Fakultät für Lebenswissenschaften gelangen, der sein Department angehörte, musste er hier durchgehen.

    Pogatschnig straffte also seine Haltung und versteifte ein wenig seine Beine. Dadurch stolzierte er fast, doch das war ihm lieber, als mit weichen Knien und seitwärts ausweichenden Schritten dahinzuschleichen wie der Besoffene, der er ja war. Das veränderte freilich nicht sein verlottertes Erscheinungsbild, und so musste Pogatschnig es hinnehmen, dass einige Studenten ihn belustigt und geschockt-ungehalten anstarrten.

    Zunächst tröstete er sich damit, dass wohl kaum einer der jungen Leute wusste, dass er hier zum lehrenden und forschenden Personal gehörte, doch das änderte sich, als zwei Studentinnen ihn überholten. Eine von diesen wedelte angeekelt mit der Hand vor ihrer Nase, nachdem sie offensichtlich einen Schwall von Pogatschnigs Ausdünstung in dieselbe bekommen hatte. Sie raunte ihrer Begleiterin einen entsprechenden Kommentar zu, woraufhin diese sich kurz zu Pogatschnig umdrehte, um sich den Penner anzusehen, der sich auf den Uni-Campus verirrt hatte. Offensichtlich erkannte sie Herbert Pogatschnig, denn sie riss die Augen überrascht auf, steckte dann ihren Kopf schnell zu jenem der anderen Studentin, um ihr etwas zuzutuscheln – welche wiederum mit einem entsetzt-ungläubigen Gesichtsausdruck antwortete.

    Als er endlich das Department für Ernährungswissenschaften erreicht hatte, stieß Pogatschnig mit dem Atem auch die Anspannung aus. Er war zu Hause.

    Zwar besserte sein körperlicher Zustand sich nicht, doch hatte er hier ein Gefühl des Heimvorteils, eine vertrauensgebende Kraft, die ihm draußen vor der Tür gänzlich fehlte. Auf dem Gang vor der Tür zu seinem Büro stand Herr Magister Travnicek in typisch leicht gebückter Haltung und blätterte umständlich in einem Stapel von Mappen, die er auf dem Unterarm hielt.

    Travnicek, dachte Herbert Pogatschnig, wozu du ein Büro hast, werde ich nie begreifen!

    Als hätte der Herr Magister seine Gedanken gehört, blickte er auf, mit dem Ergebnis, dass der Stapel auf seinem Unterarm ins Rutschen geriet. Es bedurfte einer raschen Bewegung und eines unbeholfenen Schrittes vorwärts, doch Herr Magister Travnicek konnte das Schlimmste verhindern: Nur die oberste Mappe fiel zu Boden und entblätterte sich nach dem Aufschlag vollständig in alle Richtungen.

    »Herr Professor!«, stammelte er.

    Pogatschnig konnte nicht feststellen, ob der entgeisterte Blick seines Assistenten daher rührte, dass Pogatschnig ihn aus seinen Gedanken gerissen hatte, oder daher, dass er von seinem Aussehen schockiert war. Pogatschnig tippte auf Ersteres, denn sein desolates Erscheinungsbild war im Department schon lange kein Grund mehr für Aufregungen irgendwelcher Art.

    »Entschuldigen Sie«, ächzte er, als Professor Pogatschnig näher kam.

    »Wofür, Travnicek?«, fragte dieser und erschrak über den feucht-kehligen Klang seiner Stimme.

    »Na, für den Pallawatsch, der mir da passiert ist.« Sein Lachen war ebenso peinlich wie peinlich berührt.

    Pogatschnig sann kurz nach einer spitzen Antwort, doch als sein Gehirn nichts Passendes auswarf, entschied er, lieber eisig zu schweigen. Da er seine Schlüssel noch hatte, sperrte er sein Büro auf, betrat dieses und lehnte sich mit dem Rücken an die Tür, die er hinter sich wieder zugedrückt hatte. Er atmete mit geschlossenen Augen einige Male tief durch. Von draußen drang gedämpft das Geräusch von zu Boden fallenden Mappen zu ihm herein.

    Als er seine Lider wieder öffnete, bot sich ihm ein Anblick, der eigentlich erschütternd gewesen wäre, wäre er nicht längst schon vertraut. Der kleine Raum quoll über mit Büchern, Schnellheftern, Manuskripten und Papieren. Sie lagen auf seinem Schreibtisch, verstopften die Wandregale, besetzten den kleinen Besuchertisch und einen der beiden Besuchersessel. Als er das letzte Mal Besuch gehabt hatte, hatte er den zweiten Sessel frei gemacht und die dort gelagerten Bücher auf den Boden gelegt, wo sie nun immer noch waren.

    Pogatschnig konnte nicht sagen, wann er zum letzten Mal eines dieser Bücher oder Papiere angegriffen hatte oder sonst einen Gegenstand hier drin, mit Ausnahme seines Bürosessels, einiger Inhalte seiner Schreibtischschubladen und der Bedienelemente seines Computers. Er konnte auch nicht sagen, wie lange es her war, dass jener Besuch bei ihm gewesen war, der ihn zum Umschichten der Bücher veranlasst hatte, er konnte ja nicht einmal sagen, wann zum letzten Mal ein anderer Mensch außer ihm oder einer der Reinigungskräfte dieses Büro betreten hatte! Herr Magister Travnicek war seit geraumer Zeit der Einzige, mit dem er noch regelmäßig zu tun hatte, und der schien eine Phobie gegen Büros zu haben, denn abgesehen davon, dass er anscheinend nicht einmal sein eigenes Büro benutzte, blieb er hier immer vor der Türschwelle stehen, wenn er etwas von Pogatschnig brauchte.

    Das kleine Büro von Professor Herbert Pogatschnig mochte mit all seinen Büchern im warm beim Fenster hereinscheinenden Licht aussehen wie die romantische Vorstellung einer Studierstube, doch es war nicht mehr als ein letzter Rückzugsort. Es war eine Zufluchtsstätte, verbarrikadiert mit Büchern, die ihrerseits nichts weiter waren als ein Papier gewordenes Alibi für all die Arbeit, die Pogatschnig in den vergangenen Jahren nicht erledigt hatte. Das Büro war die Ruine eines Arbeitslebens.

    Herbert Pogatschnig zog schnuppernd die Nase hoch. Ein Geruch, der nicht in die vertraute Tristesse seiner Kammer passte, hatte ihn aus seinen trüben Gedanken geholt. Er hob einen Arm und schnupperte an seiner Kleidung. Tatsächlich, er selbst war es, der diesen Geruch an sich haften hatte, diesen Gestank.

    Er ging zum Schreibtisch und entnahm einer der Schubladen seine Toiletten-Tasche. »Zu Hause sterben die Leute«, hatten er und seine Freunde in seiner Jugend immer gescherzt, wenn einer aus der Runde vorgeschlagen hatte, die Zechtour abzubrechen und nach Hause zu gehen. Pogatschnig erkannte erst jetzt, wie viel bittere Wahrheit auch in diesem Spruch steckte, eine Wahrheit, die er nie erkannt hatte, weil er immer dachte, der Spruch würde nur für Zechtouren gelten. Doch wenn er jetzt abends in seine Wohnung kam, dann beschlich ihn stets dieses Gefühl, dass er hier würde sterben müssen, hielte er sich zu lange in diesen Räumen auf. Er würde sich selbst töten, weil er es nicht aushalten würde, dort zu sein, allein zu sein, einsam.

    Deshalb war es sein Department, das er als »daheim« bezeichnete, und deshalb hatte er seine Toiletten-Tasche hier gelagert. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er hier auch sein Nachtlager aufgeschlagen, doch irgendwo hatte selbst er noch so etwas wie Stolz.

    Er verließ sein Büro in Richtung der Toiletten und stolperte dabei fast über den Herrn Magister Travnicek, der sich nun doch hingehockt hatte, um seine Papiere aufzusammeln. Als er ihn passiert hatte, erhob dieser sich umständlich und fragte laut und vorsichtig: »Herr Professor, was ist Ihnen denn zugestoßen, nichts Schlimmes, hoffe ich?«

    »Ein Hund hat mich angepinkelt und wollte mich dann verscharren «, antwortete Pogatschnig, ohne stehen zu bleiben oder sich umzudrehen. Er konnte förmlich hören, wie Travniceks Kinnlade aufklappte.

    Herbert Pogatschnig stellte die Toiletten-Tasche auf das Waschbecken und warf einen Blick in den Spiegel, seinen ersten am heutigen Tag. Er verharrte. Sein Anblick erstaunte ihn zwar ob dieses neuen Niveaus an Verwahrlosung, überraschte ihn aber nicht wirklich. Das Weiße in seinen Augen war rot geädert, dunkelblaue Halbmondformen gruben sich unter ihnen ein. Die Länge seiner harten Bartstoppeln verriet, dass seine letzte Rasur zumindest eine halbe Woche zurücklag, und ihre Ausbreitung brachte sein vom vielen Trinken aufgeschwemmtes Doppelkinn unvorteilhaft zur Geltung. Seine Falten – die waren mittlerweile so zahlreich, dass er sich nicht mehr die Mühe machte, ihre unterschiedlichen Verläufe mit seinen Blicken zu verfolgen. Jene Haare, die den Kampf gegen die immer mehr raumgreifende Halbglatze noch nicht verloren hatten, standen wirr durcheinander und waren auf der linken Kopfseite – jener, auf der er geschlafen hatte – platt gedrückt.

    Er drehte den Wasserhahn auf und begann, sich hygienisch

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