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Nostalgia - Sehnsucht nach Vergessenem
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eBook732 Seiten9 Stunden

Nostalgia - Sehnsucht nach Vergessenem

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Über dieses E-Book

Mitten in der Nacht wacht Ben im Krankenhaus auf und ist verwirrt, denn er hat keinerlei Erinnerungen an das, was passiert ist.
Als seine aufgebrachten Eltern ihn wieder einmal besuchen, belauscht er ihre Unterhaltung und erfährt dabei, dass er und sein bester Freund Frank seit einem Jahr vermisst werden.
Als Ben langsam sein Gedächtnis wiedererlangt, versteht er die Welt nicht mehr, denn das Letzte an was er sich erinnert, stimmt mit der heutigen Zeit nicht überein.

Eine Geschichte, die durch die Zeit reist
… über Familie und Freundschaft
… über Liebe und Verrat
… über Abenteuer und Geheimnisse.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum11. Nov. 2019
ISBN9783749755493
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    Buchvorschau

    Nostalgia - Sehnsucht nach Vergessenem - Maria Besgans

    1

    Ben kniff die Augen zusammen. »Mein Kopf, der tut so weh.« Er stöhnte leise vor Schmerz. Nur langsam öffnete er die Augen. »Wo bin ich? Was ist denn passiert?« Er runzelte verstört die Stirn und ließ seinen verwirrten Blick um sich wandern.

    Es war Nacht. Nur die Lichtstrahlen des Mondes drangen durch die großen Fenster und erhellten ein wenig seine Umgebung. Erst danach wurde ihm bewusst, dass er sich in einem Zimmer befand.

    Sein Blick traf auf zwei Betten, das eine links und das andere rechts von ihm, wie auch ein großer heller Schrank, der sich links von einer Tür befand. Auf einmal bemerkte er, dass an der ihm gegenüberliegenden Wand, weit oben, etwas hing. Er kniff seine Augenlider zusammen, um es besser zu erkennen.

    »Ja genau. Es … es ist ein Fernseher! Bin ich etwa im Krankenhaus?«, wurde ihm schnell deutlich und er drehte hastig seinen Kopf hin und her, um nochmals den gesamten Raum zu erfassen. Es überkam ihn ein unwohles Gefühl von Fremdheit, als wäre er falsch an diesem Ort.

    Er war durcheinander. Seine Mimik verwandelte sich in Entsetzen. Ben verstand nichts. Noch bevor er sich an den Kopf fassen konnte, bemerkte er plötzlich dunkle Schatten an seinen Unterarmen.

    »Was ist das?« Er streckte seine Arme zum Mondlicht, das seine Bettdecke erhellte. »Sind das etwa blaue Flecken?«, stellte er schockiert fest. »Tatsächlich.«

    Er schaute auf seine Finger, dabei entdeckte er ein wenig Dreck zwischen seinen kurzen Nägeln. Es verwirrte ihn nur noch mehr. Er hob die Decke an. Ein knielanges Nachthemd umhüllte seinen Körper. Er erkannte die Farbe als hellblau, dann senkte er die Decke wieder.

    »Bin ich etwa gestürzt, dass ich mich so verletzt habe?«, fragte er sich. Er stützte seinen Nacken auf das Kissen und versuchte, sich mit aller Kraft zu erinnern, sich erinnern an etwas, was er als Letztes getan hatte und an welchem Ort er in dem Augenblick, wo es geschehen sollte, gewesen war. »Was ist nur passiert? Das verstehe ich nicht«, fragte er sich immer wieder. Doch trotz der Anstrengung hatte er keinerlei Erinnerungen. Es verging eine Weile, doch immer noch tat sich nichts. Bis auf einmal ein Gong ertönte und ihn aus seinen verzweifelten Bemühungen, sich an irgendwas zu erinnern, entriss. Reflexartig horchte er auf.

    Darauf folgte ein zweiter Gong. Er beschloss aufzustehen, um nachzuschauen, woher das kommen könnte, doch alles tat ihm weh bei dem Versuch, sich aufzurichten. Er fühlte sich angeschlagen und schwach, als hätte er einen brutalen Kampf hinter sich. Tief und schwer waren seine Atemzüge. Seine Beine zitterten leicht, als seine nackten Füße den kalten Boden berührten. Ein lähmendes Kribbeln zog sich durch seine Zehen. Als seien es fremde Füße, doch der kühlende Boden bereitete ihm zugleich eine wohltuende Entspannung. Er spürte, wie das Blut in seinen Beinen zu zirkulieren begann.

    Er stützte sich an der Kommode rechts von ihm ab, dabei versuchte er, den unangenehmen, stechenden Schmerz zu unterdrücken, um nicht gleich zu fallen. Langsam aber hatte er sein Gleichgewicht wiedergefunden und begab sich mit schlurfender Bewegung auf das Fenster zu.

    Angekommen lehnte er sich mit den Handflächen auf die kalte Fensterbank aus Marmor und schaute hinaus. »Das … ist doch die Kirche. Zwei Uhr ist es.«

    Es war der Gong einer Kirchenuhr, ordnete er zu. Eine, die sich am Marktplatz im Zentrum einer Stadt befand.

    Seine Blicke überflogen die Dächer der Häuser sowie die Straßen. Er projizierte in Gedanken den Umriss dieser Stadt. Bis er erkannte, es war seine. Jetzt wusste er ganz genau, in welchem Krankenhaus er sich aufhielt, dem Drakmore-Evans-Hospital. Er war zu Hause in seiner Heimatstadt Downton Hill, England.

    Gedankenverloren blickte er hinauf zum hellen, großen Vollmond. »Hmm … wie lange ich wohl hier bin?« Er drehte sich mit dem Rücken zum Fenster und wie hypnotisiert lief er auf die Zimmertür zu. Vorsichtig drückte er den silbernen Türgriff hinunter, zog leise die Tür auf und streckte seinen Kopf hinaus.

    Im Flur war es so unerwartet hell, dass Ben sogar die Augen schmerzten. Er blinzelte schnell und presste abwechselnd fest die Lider zusammen, bis sich endlich seine Augen an das grelle Licht gewöhnten.

    Links am Ende des Ganges fielen ihm zwei Krankenschwestern auf. Er hielt für einen Moment inne, überlegte, was er jetzt tun wollte. »Soll ich rausgehen und sagen, dass ich wach bin? Hmm … nein, lieber nicht. Die schicken mich garantiert, ohne irgendeine Antwort ins Bett zurück. Die Wahrscheinlichkeit ist gering, dass der mir zugeteilte Doktor da ist. Ob meine Eltern wissen, dass ich hier bin? Und was passiert ist? Natürlich wissen sie das …«, noch bevor er sich darüber, was passiert sein könnte, den Kopf zerbrechen konnte, gähnte er im selben Augenblick. »Ich denke mal, das kann ich auch morgen regeln. Ich bin viel zu müde, um jetzt noch etwas aufzuklären. Ob ich in einen Unfall geraten bin? Na ja, schließlich lebe ich noch, dann muss es wohl nicht so schlimm gewesen sein«, flüsterte er, dann drückte er leise die Tür wieder zu und schlurfte müde ins Bett zurück.

    ***

    Die Stunden verflogen und mittlerweile war es draußen hell geworden. Auch das Krankenzimmer erstrahlte im neuen Licht und wirkte weitaus freundlicher als in der Nacht zuvor.

    Die warmen Sonnenstrahlen verteilten sich auf Bens Gesicht und er wurde nach und nach wach. Als er seine Augen öffnete, sah er direkt auf das große Fenster.

    »Da muss wohl jemand schon im Zimmer gewesen sein.« Er bemerkte, dass es auf kipp geöffnet war. Und auf einmal spürte er, wie ein sanfter Windzug der frischen, sommerlichen Luft sein Gesicht streifte. Er sog tief den Duft der grünen Bäume ein und lauschte dem herrlichen Gesang der Vögel. Alles schien so friedlich zu sein, wäre er nur nicht gerade aus ihm immer noch unerklärlichen Gründen im Krankenhaus, mit einigen Kopfschmerzen und Prellungen.

    Er musste grübeln, darüber, dass er immer noch keinerlei Erinnerungen hatte. Zugleich machten ihm wieder einmal seine Kopfschmerzen zu schaffen. Eine ganze Weile lag er so da und dachte nach. Darüber, was er in den letzten Tagen gemacht haben könnte. Doch seine Gedanken schweiften ständig zu seinem letzten Traum. Ein Traum, der so prägend und realistisch wirkte.

    Auf einmal wurde er seinen Gedanken entrissen, als er Stimmen im Flur hörte. Vor Schreck zog Ben sich die Decke bis zum Nacken hoch, drehte sich wieder zur Fensterseite und tat so, als schliefe er noch.

    Plötzlich öffnete sich die Tür. Vorsichtige und zaghafte Schritte, begleitet von leisem Getuschel, näherten sich ihm.

    »Er schläft immer noch«, flüsterte eine leise weibliche Stimme. Zärtlich streichelte eine Person über Bens unter der Decke versteckten Füße und mit einem Mal erhörte er ein wimmerndes Schluchzen. Sich umzudrehen traute er sich jedoch nicht.

    »Abigail, mach dir bitte keine Sorgen. Wir haben doch unseren Sohn wieder zurück und zum Glück trägt er keine so großen Verletzungen«, beruhigte eine andere, diesmal männliche Stimme, die Person.

    Sofort erkannte Ben die Stimmen. »Das sind ja Mum und Dad.« Sein Körper wollte sich sofort zu ihnen umdrehen, doch aus irgendeinem Grund blieb er regungslos weiter liegen. Sein Verstand widersetzte sich, vielleicht war es auch das Gefühl, als hätte er seine Eltern lange nicht mehr gesehen. Also lauschte er weiter.

    »Keine großen Verletzungen?« Sie wurde abrupt wütend. »Wie kannst du das sagen? Er war fast ein Jahr verschwunden!« Und wieder musste sie in Tränen ausbrechen, wie schon am Tag zuvor. »Wer weiß, was er sonst für Verletzungen mit sich trägt. Ja, körperlich sieht das vielleicht nicht so schlimm aus, aber was ist mit seinem seelischen Befinden? Wir haben ihn erst seit gestern wieder. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was unser Junge durchmachen musste. Und was ist mit …«, übertönte ihr erneutes Schluchzen die nächsten Sätze und Ben konnte nichts mehr verstehen.

    »Verzeih Schatz, so meinte ich das nicht. Natürlich mache ich mir ebenfalls große Sorgen. Wären wir nicht zufällig spazieren und an der Brücke am Fluss vorbeigegangen …« Er musste bei dem Gedanken, seinen Sohn nie wieder sehen zu können, schlucken. Dieses Gefühl machte seinen Kummer erneut noch unerträglicher.

    Und plötzlich traf es Ben wie ein Blitzschlag, tausend Gedanken schossen ihm in dem Moment durch den Kopf. »Aber natürlich … die Brücke!« Genau dies war das Letzte, an das er sich erinnerte. Dort hatte er sich zuletzt befunden, an der Wheatstone Bridge.

    »Christopher, aber wenn Ben wieder aufwacht …« Sie versuchte, Hoffnung zu schöpfen. »Dann sagt er uns bestimmt, was genau passiert ist. Ben und Frank waren ja damals zusammen unterwegs. Mein Gott, ich will mir das gar nicht ausmalen … außerdem ist Frank doch …«

    Ihr Mann packte sie an den Oberarmen. »Fang mit so etwas nicht an! Daran darfst du nicht einmal denken. Wir und die Familie Burton müssen uns weiterhin gegenseitig unterstützen, genauso, wie wir uns auch das letzte Jahr, als beide verschwunden sind, unterstützt haben. Es wird wieder alles gut werden! Hast du das verstanden?«

    Sie nickte widerwillig, während ihr erneut die Tränen über die Wangen liefen.

    Nachdem Ben ihre Unterhaltung belauscht hatte, beschloss er, sich nicht umzudrehen, zumindest nicht im Augenblick. Er war verwirrt und geschockt zugleich darüber, was er erfahren hatte. Zuerst musste er sich selbst vergewissern, woran er sich überhaupt noch erinnerte.

    So viele Fragen stauten sich in seinem Kopf am, jedoch merkte er, dass auch seine Eltern keine Antwort wussten. »Nein, ich darf ihnen noch nicht sagen, dass ich wach bin. Nicht bevor ich herausgefunden habe, was genau mit mir passiert ist«, überlegte Ben. Erzürnt ballte er seine Hände zu einer Faust. »Erinnere dich!«

    Unerwartet öffnete sich erneut die Tür. »Guten Morgen, Mr. und Mrs. Dorek«, begrüßte eine männliche Stimme seine Eltern.

    »Guten Morgen, Dr. Burns«, ertönten die Stimmen der beiden im Einklang.

    Der Doktor war in Begleitung einer jungen, dunkelhaarigen Krankenschwester, die ein Tablett mit Frühstück in den Händen hielt. Sie stellte es auf Bens Kommode ab.

    »Vielen Dank. Sie dürfen gehen«, sagte der Arzt zu seiner Gehilfin, und während er dies tat, lief sie auf einmal um Bens Bett herum.

    »Soll ich den Jungen wecken?«, fragte sie und beugte sich neugierig über ihn, sodass Ben ihren Atem an seinen Haarsträhnen spürte und er beinahe vor Schreck fast zusammengezuckt wäre.

    Sie streckte ihre Hände aus und wollte gerade seine Decke, die sein Gesicht versteckte, wegziehen.

    »Nein! Haben Sie mir nicht zugehört? Ich sagte, Sie dürfen gehen!«, ermahnte der Doktor sie in einem strengeren Befehlston. Widerwillig nickte sie und verließ anschließend das Krankenzimmer.

    »Ist die penetrant, einfach schlafende Leute wecken«, dachte Ben und hätte am liebsten entsetzt den Kopf geschüttelt.

    »Ich bitte um Entschuldigung, Mr. und Mrs. Dorek, die junge Dame hat heute ihr Praktikum bei uns angefangen und ist ziemlich neugierig geworden, als sie das mit Ben hörte.«

    »Ich verstehe … sie ist nicht die Einzige, die neugierig ist«, äußerte Mr. Dorek.

    »Vielleicht hätte der Arzt sich mal lieber vorher informieren sollen, ob sie nicht vorbestrafte Stalkerin ist«, ärgerte sich Ben und rollte mit den Augen. Er hörte weiter zu.

    »Wie geht es Ihnen beiden? Wie fühlen Sie sich, Mrs. Dorek?«, wollte der Doktor wissen und tätschelte sie dabei mitfühlend am Oberarm.

    »Den Umständen entsprechend«, antwortete sie traurig und hielt dabei ihre Hände vor die Brust und zupfte gestresst am Knopf ihrer Bluse. »Doktor, wann wacht denn unser Sohn wieder auf? Er schläft so lange. Vielleicht sollten wir ihn aufwecken.«

    »Mrs. Dorek, Sie müssen Ihrem Sohn etwas Zeit geben. Er ist vermutlich so erschöpft, dass er sich einfach mal ausschlafen muss. Er ist ja jetzt in Sicherheit.«

    »In Sicherheit?«, wiederholte Ben seine Worte in Gedanken.

    »Außer den blauen Flecken und einer leichten Gehirnerschütterung fehlt ihm weiter nichts. Er könnte jederzeit aufwachen. Daher bringen wir ihm vorsichtshalber jeden Tag etwas zu essen, falls er hungrig sein sollte, und das wird er auf jeden Fall«, erklärte der Doktor und trat näher zu Bens Eltern. Seine Stimme wurde noch ruhiger und ernster. »Was aber seine psychischen Erlebnisse angeht, dazu können wir nur dann etwas sagen, sobald er wieder aufgewacht ist und uns selbst davon berichten kann. Ich möchte ehrlich zu Ihnen sein, ich weiß nicht, wo er sich dieses eine Jahr aufgehalten hat, aber dort, wo er war, ging es ihm körperlich gut. Er ist gesund und alle seine Werte sind so, wie sie bei einem zwanzigjährigen Erwachsenen sein sollten.«

    »Er wird zwanzig in zwei Tagen«, korrigierte Mrs. Dorek den Doktor. »Wo warst du bloß, Benny?«, fragte sie besorgt zu ihrem Sohn gerichtet. Sie legte behutsam die Hand auf seine Decke.

    »Ich weiß es nicht, Mum. Ich weiß es nicht …«

    »Bitte machen Sie sich keine allzu großen Sorgen, er wird bald aufwachen. Am besten wir lassen Ben weiterschlafen. Wir werden Sie anrufen, sobald sich etwas ändert.« Dr. Burns strich Mrs. Dorek tröstend über die Schulter und warf ihr, als auch ihrem Mann, einen zuversichtlichen Blick auf Besserung zu.

    »Der Doktor hat recht, Abi. Wir sollten Ben weiterschlafen lassen«, stimmte Mr. Dorek dem Doktor zu und wandte sich zu seiner Frau. Er wischte ihr die letzten Tränen von der Wange und zog ihre Hand von der Bluse. »Nicht, du reißt nachher wieder den Knopf aus. Wir sollten jetzt gehen«, beschloss er.

    Sie nickte und warf ihrem Sohn noch einen letzten liebevollen Blick zu.

    Als dann die drei schon fast aus der Tür waren, sagte der Doktor: »Mir fällt gerade ein. Ihr Sohn hatte bei der Einlieferung Dinge erwähnt, beziehungsweise Namen. Bestimmt sind das Familienangehörige oder Freunde. Kommen Ihnen die Namen Eliya und Billy bekannt vor?«

    Mrs. Dorek erzitterte vor erneutem Schreck und krallte sich am Hemd ihres Mannes fest. Sie schaute zu ihm auf, dann zum Doktor. »Nein … diese Namen sind uns unbekannt! Könnten das die Entführer gewesen sein? Was hat er noch gesagt?«, fragte sie plötzlich wieder ganz aufgeregt. Dabei schaute sie Doktor Burns und ihren Mann im Wechsel an. Mr. Doreks Ausdruck im Gesicht war ebenso schockiert, wie das seiner Frau.

    »Ich bin mir sicher, dass wir das bald herausfinden werden. Wir können uns gern draußen weiter unterhalten«, schlug Dr. Burns vor und öffnete die Tür, dann verließen sie gemeinsam das Zimmer.

    Als Ben niemanden mehr hörte, schob er die Bettdecke vom Gesicht und drehte sich auf den Rücken. Er setzte sich aufrecht. Jetzt verstand er nichts mehr. Er dachte nach.

    »Also, wie es scheint, haben meine Eltern keine Ahnung, was genau passiert ist. Und wer sind überhaupt Billy und Eliya? Meine Entführer?«, fragte er sich, denn nichts ergab für ihn Sinn.

    Ben bemühte, sich an irgendetwas, egal was es war, zu erinnern. »Was haben die noch erzählt … ich soll ein Jahr weg gewesen sein? Aber ich muss mich doch daran erinnern können.« Er atmete schwer, stützte seinen Ellbogen auf dem anderen Arm ab und fasste sich gedankenverloren ans Kinn.

    Und da traf es ihn schlagartig. Seine Augen weiteten sich vor lauter Aufregung.

    »FRANK!« Sein Herz raste. Adrenalin schoss durch seine Brust. Ein Schauer lief ihm über den Rücken und mit einem Mal wurde ihm alles klar. Er schaute entsetzt, denn plötzlich spielten sich scheinbare Erinnerungen vor seinem geistigen Auge ab. »Kann das sein?«, zweifelte er im selben Moment. »Kann das denn wirklich passiert sein? Vielleicht war das alles doch kein Traum … und das an der Brücke …« Er griff hastig nach der Flasche Wasser auf dem Tablett, schraubte den Deckel ab und nahm einen großen, wohltuenden Schluck davon, dann griff er nach einem der kleinen verpackten Brötchen, riss energisch die Tüte auf und verschlang es. Erst jetzt merkte er, wie ausgehungert er sich fühlte.

    Während er bereits das dritte Brötchen verputzte, untersuchte er noch einmal seine Arme. »Wow! Solche blauen Flecken hatte ich noch nie gehabt. Woher können die stammen?«, überlegte er laut und drückte mit dem Zeigefinger auf einen davon drauf, um zu testen, ob es wehtat. Er zuckte zusammen. »Aua! Ja, das tut weh.«

    Neugierig untersuchte er seinen Körper nach weiteren Auffälligkeiten, dabei entdeckte er weitere Kratzer und Blutergüsse an den Beinen. »Da vielleicht auch?« Er warf die Bettdecke beiseite und lief ins kleine Badezimmer, stellte sich vor den Spiegel, zog das Hemd aus und starrte voller Entsetzen seinen Oberkörper an. Blutergüsse in allen möglichen Farben zeichneten sich, wie neu entdeckte Galaxien auf seinem Bauch und an den Rippen ab. Er zog das Hemd wieder an und legte sich zurück ins Bett.

    Beim Verschränken der Arme fiel ihm erneut der Schmutz zwischen seinen Fingernägeln auf. Er versuchte diesen mit seinen Nägeln herauszupulen und nebenbei bemerkte er in seinen Handflächen sowie auf den Fingerspitzen mehrere Schwielen. Beim gegeneinander Reiben fühlte er die Trockenheit und wie unangenehm rau sie waren. Er tippte mit seinen Daumen gegen die Fingerspitzen der anderen Finger, doch den Druck spürte er kaum, so stark war die Haut verhärtet. »Merkwürdig.«

    Schlagartig schmerzte sein Kopf aufs Neue, wie kurze Blitzeinschläge pochte es. Er runzelte die Stirn, unwillkürlich schloss er die Augen. Er fasste sich an die Stirn. Sein Herz raste. Da tauchten sie wieder auf: Bilder, Erinnerungen, Gefühle.

    Er ahnte Schreckliches, als er an seinen Traum dachte. Unvorstellbar, und doch versuchte er, all seine Zweifel zu verdrängen und das Unmögliche zuzulassen, dass ein solcher Traum in Wirklichkeit gar kein Traum war. Es schauderte ihm bei dem Gedanken. Er wurde nervös, fast schon hibbelig.

    Er hatte nichts vergessen. Nein, er hatte gedacht, dass das alles nur ein bedeutungsloser und definitiv verrückter Traum gewesen war. Doch im Gegenteil, alles war real. So real wie seine Existenz.

    »Es war keine Entführung, nicht einmal annähernd.« Er hielt inne, musste schmunzeln, bis seine Mimik wieder ernst wurde.

    Er atmete schwer aus, nahm einen weiteren Schluck Wasser und lehnte seinen Kopf zurück auf das Kissen.

    Um alles zu verstehen, musste er an den Anfang zurück, dort, wo alles begonnen hatte. Denn jetzt könnte alles einen Sinn ergeben, ahnte er.

    Er schloss seine Augen, um noch einmal alles Revue passieren zu lassen.

    2

    Ben schloss die Terrassentür hinter sich. Durch seine Bewegung reagierten die Sensoren über dem Türrahmen und das Licht draußen auf der Veranda brannte auf. Reflexartig blickte er kurz ins Licht, warf seine weißen Sneaker zu Boden, setzte sich auf die Holztreppe, welche in den Garten führte, zog einen Schuh nach dem anderen an und schnürte sie fest. Er lehnte sich zurück und betrachtete die Felder im Sonnenuntergang.

    Es war Mitte Juli, gerade hatten die Sommerferien begonnen und Ben hatte seinen Abschluss in der Tasche. Zudem wollte er im September Agrarwissenschaften studieren, um irgendwann die Farm seiner Eltern zu übernehmen. Da sie bereits seit einigen Generationen im Familienbetrieb lag, wollte auch Ben seine Eltern nicht enttäuschen und die Farm weiterführen, wenn sein Vater irgendwann mal nicht mehr könnte, doch bis dahin würden sie als Vater und Sohn Seite an Seite den Betrieb leiten. Sich um den Ackerbau kümmern, die Viehhaltung, die Mitarbeiter und die Ernte.

    Genau genommen hatte Ben keine andere Wahl, sobald seine Eltern erfahren hatten, dass sie einen Sohn bekämen, stand seine Zukunft fest. Später sollte Ben alles übernehmen, zwar hatte er eine jüngere Schwester namens Liliana, die erst vor kurzem sechzehn geworden war, aber „Für eine Frau wäre das zu anstrengend", stellte sein Vater klar, da ihm oft auffiel, wie erschöpft seine Frau Abigail immer gewesen war. Also kümmerte sie sich um den Haushalt, hielt wichtige Kontakte aufrecht und erledigte den Papierkram der Mitarbeiter.

    Eigentlich hatte Ben auch nichts dagegen. Er war froh und geehrt, in die Fußstapfen seiner Familie zu treten, jedoch wäre er glücklicher gewesen, hätte man ihm die Freiheit gegeben, seine Berufswahl selbst zu treffen. Einfach eine eigene und freie Meinung zu haben, schließlich war es sein Leben, dachte er.

    Und manchmal gab es Tage, da regte es ihn sogar auf, dass er keine Wahl hatte, doch nur dann, wenn seine eigene Freizeit darunter litt. Trotzdem war er sehr stolz darauf und schätzte sehr, was seine Vorfahren über Generationen erreicht und aufgebaut hatten. Er gestand sich ein, so etwas Großes dürfte man nicht aufgeben, also beugte er sich seinem Schicksal.

    Ben liebte das Landleben, auch wenn er deswegen in der Schule oft gehänselt wurde, er sei ein typischer Bauernjunge und ein Freak. Ihm aber war das egal, weil er von seinem besten Freund Frank unterstützt wurde, der im Gegensatz zu ihm in der Stadt lebte. Wieso auch nicht? Es war der perfekte Ort, die Freiheit auszunutzen, um Abenteuer zu erleben, mit dem Traktor zu fahren und sich im Wald oder in den Maisfeldern verstecken zu können oder aus altem Holz ein Baumhaus zu bauen.

    Eine lustige Kindheit, erinnerte Ben sich gern daran und musste dabei schmunzeln. All das erleichterte wohl auch die Freundschaft zwischen Franks und seinen Eltern.

    Da es schon seit über einer Woche ununterbrochen heiß und zugleich schwül war, hielt die Wärme auch zur Abenddämmerung noch an, selbst um 22 Uhr, als Ben gerade loswollte, um sich mit Frank zu treffen.

    Wegen der angenehmen Wärme hatte er daher nur ein dünnes, hellblaues Hemd an, die Ärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, dazu eine beige Jeans, da er Shorts nicht mochte, selbst bei der Hitze. Seine dunkelbraunen, kurzen Haare hatte er mit Wasser etwas zerzaust und die Seiten locker nach hinten gestrichen. Sich Gel in die Haare zu schmieren wie andere fand er unnatürlich, allerdings sah das bei Frank gar nicht so schlecht aus.

    Damals in der Schule hielten alle Ben und Frank für Brüder. Anscheinend lag es daran, dass die beiden ständig zusammen unterwegs waren und den gleichen Kleidungsstil trugen. Sie waren unzertrennlich, einfach die besten Freunde.

    Doch jetzt begann ein anderer Abschnitt ihres Lebens, beide mussten sich entscheiden, wie ihr Leben weiter verlaufen sollte, denn nun kam die Berufswahl, geht man arbeiten oder studieren? Diese Frage stand jetzt im Mittelpunkt.

    Natürlich war für Ben schon seit Jahren alles entschieden, doch wie würde Franks Entscheidung ausfallen? Würden die beiden Freunde sich noch so oft sehen können oder vielleicht nur ein paar Mal im Jahr, an Feiertagen und in den Ferien?

    Immer wieder musste Ben darüber nachdenken. Dabei war seine Angst, sich auseinanderzuleben, neue Freunde finden zu müssen, sehr groß. Schließlich war Frank doch für ihn wie ein Bruder.

    Oft versuchte er, diesem unangenehmen Thema auszuweichen, doch jetzt war die Zeit gekommen. Die Schule war zu Ende und weitere Türen öffneten sich ihnen.

    Ben seufzte. »Jetzt aber los.«

    Er durchquerte den Garten und lief zum Hinterhof in Richtung Schweinestall, dort, wo sein Vater wie jeden Abend seine beiden Praktikanten George und Steven verabschiedete. Ben reichte beiden schnell die Hand, nickte dankend.

    »Dann bis morgen«, sagte er freundlich und schaute ihnen nach, bis sie nicht mehr zu sehen waren. »Ich wollte Bescheid sagen, dass ich jetzt weg bin«, informierte er seinen Vater und kehrte ihm gleich den Rücken zu.

    »Wann kommst du wieder? Du wolltest noch die Bestellungen zusammenfassen.«

    »Ich hab jetzt Ferien, lass mir eine Minute Freizeit. Ich mach das Morgen und übrigens, die Bestellung geht vor Montag nicht raus«, antwortete er genervt, da heute Freitag war. »Wo ist eigentlich Mum?« Er wechselte das Thema.

    »Sie ist immer noch bei der Ratsversammlung wegen der Planung für das Gründerfest in einigen Monaten.«

    Das Fest fand jedes Jahr am 1. November statt. Sie feierten die Gründung ihrer Stadt, dazu musste sich jeder so verkleiden wie früher zu der Zeit im 17. Jahrhundert. Denn an jenem Tag war der Ort als eigene Stadt akzeptiert und abgesegnet worden.

    »Nachher wollte sie noch einen Frauenabend machen. Da deine Schwester heute bei ihrer Freundin übernachtet.«

    »Okay, ich geh jetzt«, sagte Ben und klopfte seinem Vater auf die Schulter, bis er ihn verließ.

    Er lief quer über den Hof, um das Haus herum, den Feldweg entlang zur Waldeinfahrt. Es war ein relativ kleiner Wald und wirkte eher wie eine Grenze um den gesamten Hof.

    Es wurde im Minutentakt immer dunkler, bis die bunten, warmen Farben am Horizont komplett verblassten und ein bläulicher Nachtschleier den Platz einnahm.

    Als er von dort aus zurückblickte, konnte er die großen angebauten Felder erkennen sowie die Ställe rechts vom Haus.

    »Ein wunderschöner Anblick und ein bisschen gruselig«, schmunzelte er und ließ seiner Fantasie keine Grenzen. Einige Sekunden stand er so da und genoss die ruhige Landschaft um ihn herum.

    Nun aber musste Ben sich sputen, schließlich wartete Frank bestimmt schon an der Kreuzung zwischen der Stadt und der Farm auf ihn.

    Eiligst lief er durch das dunkle Waldstück. Nur mühsam drangen wenige Mondstrahlen durch die Blätter und Äste der Bäume, was aber nicht ausreichte, um den Weg erkennbar zu erhellen, also zog Ben sein Smartphone hervor und machte sich die Funktion der Taschenlampe zunutze, um Steinen und Ästen ausweichen zu können.

    Als er kurz zum hellen Mond hinaufblickte, beobachtete er die wenigen Sterne, die sich am Himmel zeigten. Die Blätter raschelten, als eine leichte, angenehme Brise warmen Windes vorbeizog.

    Mittlerweile waren die Gesänge der Vögel verstummt und andere Insekten traten zum Vorschein sowie Grillen, die als einzige noch zu hören waren.

    »So fühlt sich ein richtiger Sommer an«, genoss Ben und steckte das Smartphone wieder ein, als er das kurze Waldstück wieder verließ.

    Er riss sich aus seinen vielen Gedanken und rannte los, entlang des Feldweges. Inzwischen waren die Laternen angegangen und von Weitem konnte er bereits Frank erkennen.

    »Wartest du schon lange auf mich?«, rief Ben ihm zu und war aus der Puste. Nach wenigen Sekunden stand er vor ihm.

    »Nö, bin auch gerade angekommen.« Frank schaute ihn breit grinsend an.

    »Ich sehe schon, du warst wieder bei Sarah?« Eigentlich wusste Ben die Antwort und grinste zurück.

    »Nö, bei Jenny.« Sein Blick schweifte ab, sein Grinsen aber konnte er sich weiterhin nicht verkneifen.

    »Ey Mann … kommst du überhaupt selbst mit deinen Weibern klar? Wissen die eigentlich, was du da treibst? Jede Woche eine andere? Entscheide dich mal.« Ben runzelte die Stirn und schaute vorwurfsvoll.

    »Alter, du bist so verklemmt! Du hattest bis jetzt nur eine Freundin und mit der bist du auch nicht allzu weit gekommen. Wie hieß sie nochmal? Vanilla oder so? Du hast sie mir nicht einmal vorgestellt«, hielt Frank ihm vor. »Dabei sind wir die besten Freunde«, betonte er und stupste ihn mit seiner Faust gegen die Schulter und Ben erkannte sofort, dass er in Wirklichkeit gekränkt war, was er wie immer versuchte, zu überspielen.

    Dabei wusste Frank ganz genau, dass Ben schon immer von beiden der verschlossene Typ gewesen ist.

    Ben hatte die Einstellung: Bevor er nichts Sicheres hatte, wieso es jemandem erzählen? Sich unnötig hineinsteigern und sich umsonst freuen, um am Ende dann doch verletzt und ständig daran erinnert zu werden und das Thema tausendmal Durchkauen.

    Frank jedoch verstand es nie, denn er hatte Ben immer jede noch so unwichtige Kleinigkeit berichtet, selbst wenn er einen Pickel am Arsch hatte. Deshalb erwartete er von ihm dieselbe Offenheit.

    Aber Ben war halt so ein Typ, zwar ruhig und zurückhaltend, doch keineswegs schüchtern. Frank kannte ihn lange genug und akzeptierte es einfach. Er hatte den Versuch aufgegeben, aus ihm schlau zu werden.

    »Vanessa hieß sie«, korrigierte Ben ihn. »Wie denn auch? Sie und ihre Eltern sind zurück nach Deutschland gezogen. Eine Fernbeziehung hätte nie funktioniert. Außerdem waren wir nur zwei Monate zusammen. Ich wollte sie erst besser kennenlernen, bevor ich sie jemandem vorstelle. Und ich bin keineswegs verklemmt! Im Gegensatz zu dir habe ich keine Zeit, jeden Tag neue Mädels aufzureißen, da ich ja auf dem Hof arbeiten muss«, erklärte er und versuchte, sich damit zu rechtfertigen. Eine kurze Pause folgte. »Außerdem … hatten wir schon was miteinander«, erzählte Ben weiter und glaubte, Frank noch eine reindrücken zu müssen, damit er ihn endlich in Ruhe ließ.

    »Du hast mit ihr …«, starrte er ihn verdutzt an und konnte es nicht glauben. »Und du erzählst es nicht mal deinem besten Freund, deinem Bruder, deinem Saufkumpanen, deinem …«, spielte er sich auf.

    Ben zuckte schuldbewusst mit den Schultern und grinste. »Ja … es tut mir ja auch leid. Ich wollte es dir sagen, aber ich war nicht sicher, ob sie die Richtige ist.«

    »Ach, aber richtig genug, um mit ihr ins Bett zu gehen?«, fragte er vorwurfsvoll und lachte plötzlich los, als er sich Ben mit ihr vorstellte »Alter, sie hat dich entjungfert«, wurde Frank bewusst und er lachte umso mehr.

    Ben bemühte sich, verkrampft mitzulachen, um die peinliche Feststellung zu überspielen.

    Daraufhin klopfte Frank ihm gratulierend auf die Schulter. »Eigentlich hättest du noch mehr im Bett haben können, aber nein, du bist einfach zu vernünftig.«

    »Zumindest vernünftiger als du. Im Gegensatz zu dir nutze ich die Mädels nicht für mein Verlangen aus, wenn ich mal gerade Lust habe. Oh mein Gott, wenn ich mir vorstelle, die ganze Stadt würde mich als Hurenbock bezeichnen«, warf Ben ihm vor. Er versuchte, genauso etwas zu vermeiden, dass über ihn gesprochen werden würde. Und je weniger die Leute wussten, desto besser, schließlich ging es niemanden etwas an.

    »Okay. Übertreib mal nicht, oder willst du mir etwas sagen?«

    »Dass du vielleicht ein Hurenbock bist?«, lachte Ben laut. Denn er wusste, er konnte mit Frank so ehrlich sein, wie er wollte. Er konnte ihn beleidigen und Dinge an den Kopf werfen, es eskalierte ab und zu mal in einer harmlosen und nicht ernstzunehmenden Auseinandersetzung, aber nie in einem richtigen Streit, denn so etwas existierte in ihrer langjährigen Freundschaft nicht.

    »Und wenn schon, wenn die Mädels auf mich stehen … dann lasse ich sie auch und übrigens, ich nutze sie nicht aus … ich … verbringe Zeit mit ihnen. Ich weiß nämlich, was sie wollen. Die lieben mich, ich bin einfach unwiderstehlich.« Frank gab ihm zwinkernd zu verstehen. Denn ihm war es eigentlich egal, was die Leute über ihn dachten oder über ihn erzählten.

    »Wenn du meinst«, zischte Ben und verdrehte die Augen. »Triffst du jemals die Richtige, läufst du garantiert an ihr vorbei. So viele, wie du hast. Du würdest sie nicht einmal bemerken, würde sie vor deiner Nase stehen«, unterstellte er ihm und lachte dabei.

    »Musst du gerade sagen, du Frauenheld«, äußerte Frank sarkastisch und lachte ebenfalls.

    Während sich die beiden weiter neckten, machten sie sich auf den Weg zur Brücke. Nach etwa zehn Minuten waren sie an ihrem Lieblingsplatz angekommen, an der Wheatstone Bridge am Fluss. Die überdachte Holzbrücke war ziemlich alt und über die vielen Jahre morsch geworden, war jedoch stabiler, als es den Eindruck machte. Manchmal sogar versammelten sich die Männer aus der Nachbarschaft und reparierten sie. Denn immer hatte die Stadt andere Kosten zu decken, was bedauerlicherweise dazu führte, dass die Brücke dadurch in Vergessenheit geriet.

    Die Holzbrücke machte einen idyllischen Eindruck, erst recht im Mondschein.

    Der Fluss war nicht allzu breit, doch die Verbindung zwischen den beiden Ufern und somit zur nächsten Stadt Bringstontrip erlaubte den Farmern eine schnellere Abkürzung. Natürlich war es möglich, auch um den Fluss herumzufahren, doch der Weg würde viel zu lange dauern, da man gezwungen wäre, durch die Stadt zu fahren.

    Frank lehnte sich mit dem Rücken ans Brückengeländer und verschränkte die Arme. Er schaute gedankenverloren auf seine dunkelblaue Hose, runter zu den weißen Sportschuhen. Bis er auf einmal anfing, nervös an seinem weißen T-Shirt zu zupfen. Mit angespannter Mimik, als wollte etwas aus ihm herausplatzen, fuhr er mit gespreizten Fingern hastig durch seine dunkelblonden, welligen Haare.

    »Du hast dich also jetzt offiziell entschieden, die Farm deiner Eltern weiterzuführen?«, fragte Frank nach wenigen Sekunden.

    »Ja, das habe ich, aber erst muss ich studieren. Ich will doch nicht meine Familie in den Ruin treiben«, lachte Ben.

    Jetzt kam das unvermeidbare Thema zur Sprache, das Ben so lange versucht hatte zu verdrängen. Gleich würde er erfahren, wie es um ihre Freundschaft in der Zukunft stehen würde. Er atmete tief ein und stellte Frank endlich die Frage, die schon längst überfällig war.

    »Und? Weißt du jetzt, was du machen willst? Du warst dir doch unklar, ob du studierst oder eine Ausbildung machst. Hast du dich entschieden?«

    Frank wandte seinen Blick von Ben ab. Er griff mit der rechten Hand in seine hintere Hosentasche und holte ein zusammengefaltetes Stück Papier heraus. »Weißt du, was das hier ist?«, fragte er und drückte es Ben in die Hand. Er verzog keine Miene dabei.

    Zögernd faltete Ben das Papierstück auseinander, überflog es kurz und las sich die ersten Sätze durch. »Hier steht, dass du angenommen wurdest. Ich wusste gar nicht, dass du dich fürs Medizinstudium beworben hattest. Wow!« Er war überrascht und zugleich überrumpelt. Sein gestelltes Lächeln war deshalb nicht zu übersehen. »Aber wieso hast du mir nichts gesagt?«

    »Deine Freude hält sich aber in Grenzen. Na ja, bevor ich damit geprahlt hätte, wollte ich zuallererst die Gewissheit haben, dass ich auch wirklich angenommen werde, und außerdem weißt du doch, wie auch bei dir die Farm seit Generationen in der Familie ist, hat auch meine Familie sich einen Namen gemacht. Oder besser gesagt ein Ansehen. Und ich will das weiterführen. Mein Vater hat mir damals erzählt, der allererste Frank habe für seinen Traum gekämpft, um das Krankenhaus überhaupt leiten zu dürfen. „Wir sind Kämpfer und wenn wir uns etwas in den Kopf gesetzt haben, dann geben wir nicht so schnell auf ", sagt er immer. Wie du siehst, kann ich bei wichtigen Dingen ebenfalls schweigsam sein, wenn ich will«, grinste er stolz.

    Ben wunderte sich über seine Einstellung. Solch eine große Last zu tragen. Es überraschte ihn immer wieder. Auf der einen Seite war Frank der offene und lockere Typ, der, mit dem man sofort ins Gespräch kam und mit dem sich jeder verstand. Der klassische Frauenaufreißer und auf der anderen Seite war Frank verantwortungsbewusst. Er bewunderte ihn deswegen, wie er diese unterschiedlichen Charakterzüge unter einen Hut bekam und dabei immer so gelassen wirkte, so, als würden ihm jegliche Schwierigkeiten, die auf ihn zukamen, nichts ausmachen.

    Eigentlich unterschieden sich die beiden gewaltig. Frank nahm alles auf die leichte Schulter und trotzdem gelang ihm immer alles, auch wenn es nur knapp war, er kam immer in allem durch. Nicht so wie Ben. Er war ernster, sorgenvoller und nachdenklicher, ihm fiel nichts leicht. Er musste immer etwas für seine Noten tun. Selbst bei den Mädchen hatte er nicht so viel Glück wie Frank. Ben war nicht so offen wie er. Es fiel ihm schwer, jemanden kennenzulernen. Ben wollte jemanden, mit dem er sofort eine Verbindung aufbauen konnte, um sich gleich mit ihr über Gott und die Welt unterhalten zu können und nicht über banales und oberflächliches Zeug.

    Wahrscheinlich hielt deshalb ihre Freundschaft so gut, beide ergänzten sich, der eine beruhigte den anderen, wenn dieser aufgebracht war und der andere wiederum machte ihm Mut, etwas zu wagen. Ben gab Frank den Brief zurück und klopfte ihm gratulierend auf die Schulter.

    »Was ist los, Ben? Freust du dich nicht für mich?«

    »Doch … nur habe ich nicht erwartet, dass du direkt nach Oxford gehst, das ist so weit …« Er schaute enttäuscht.

    »Tja, das, was wir erlebt haben, wird mir auch fehlen«, sagte Frank. Auch er hatte Zweifel und fragte sich, was wohl aus ihrer Freundschaft werden würde, wenn beide erstmals studieren und hunderte von Kilometern sie trennen würden.

    Die Stimmung war trüb geworden.

    »Hey, Ben. Wir sind doch die besten Freunde und ganz ehrlich … mir steht dieser sentimentale Mist gerade nicht. Also hör auf damit! Und übrigens nach unserem Studium bin ich wieder zurück und arbeite bei meinem Vater im Krankenhaus in der Stadt und du wohnst dann auch wieder auf der Farm, dann … sind Batman und Robin wieder vereint«, sagte Frank und lachte laut, um die Stimmung zu lockern, dabei stupste er Ben an.

    »Weißt du schon, für welchen Bereich du dich spezialisieren möchtest, Doktor Frank Burton?«, grinste Ben.

    »Ich weiß noch nicht. Es ergibt sich später«, antwortete er ungewiss.

    »Wissen es deine Eltern schon?« Ben beobachtete ihn gespannt.

    »Ob sie es wissen? Spinnst du? Meine Ma hat den Brief als erste im Briefkasten gesehen. Mein Vater war gerade am Frühstücken und sie wollten unbedingt wissen, wieso wir denn einen Brief aus Oxford bekommen.« Er lachte. »Du hättest mal das Gesicht meiner Mutter sehen müssen. Sie fuchtelte mit dem Brief in der Küche herum und fragte immer wieder Ist es das, was ich glaube? Und mein Vater schaute nur entsetzt. So sprachlos, wie er war, habe ich ihn noch nie zuvor erlebt«, berichtete Frank. Er wurde rot dabei und war gerührt, als er sich erinnerte, wie stolz sein Vater auf ihn war. Und wie er den Brief für die Immatrikulation immer und immer wieder durchgelesen hatte. Frank schmunzelte, dann schüttelte er den Kopf.

    »Deine Eltern sind ja richtig stolz auf dich.«

    »Und wie! Mein Dad hatte schon fast die Hoffnung aufgegeben, ob aus mir jemals was werden würde. Und erst recht, dass ich auch Arzt werden könnte. Na ja … aber du weißt, dass ich mit Wissen nicht prahle, das kommt nämlich bei den Mädels nicht so gut an, so ein Klugscheißer«, zwinkerte er.

    »Ah … genau, die Mädels«, bejahte Ben. »Du verstellst dich und spielst lieber den coolen Macho. Dein Vater wusste nicht einmal, dass du so gut in der Schule bist.«

    »Ja, ich habe immer die Zeugnisse versteckt«, grinste Frank weiter.

    »Willst du später das Krankenhaus deines Vaters leiten?«, wollte Ben wissen.

    »Wow Bro, warte mal. So weit bin ich noch nicht, aber in den Ferien mache ich da erstmal wieder ein Praktikum in der Chirurgie, diesmal nicht gezwungenermaßen, um es mir schmackhaft zu machen, sondern freiwillig«, unterbrach Frank ihn.

    »Okay.« Ben ließ es darauf beruhen.

    »Gehen wir morgen auf Annas Party?«, wechselte Frank das Thema.

    Ben stieg auf das Brückengeländer, drehte sich in Richtung Fluss und ließ die Füße in der Luft baumeln. »Jaaa, ich habe ihr schon eine Kleinigkeit gekauft, das wird ihr sicherlich gefallen.«

    Frank lächelte hinterlistig. »Du stehst auf sie, stimmts?«, fragte er vorwurfsvoll und zuckte unaufhörlich mit den Augenbrauen, während er rückwärts auf das Geländer der Brücke sprang, um sich neben Ben zu setzen.

    »Nein … tue ich nicht«, stammelte Ben leicht und wurde ein wenig rot am Hals.

    Frank kicherte. »Du magst sie, gib’s doch zu. Vielleicht solltest du mit ihr erst schlafen und sie dann kennenlernen.«

    Ben warf ihm einen bösen Blick zu.

    »Nur leider will sie nichts von dir, du Frauenheld«, neckte Frank ihn weiter und hörte nicht auf zu lachen.

    Daraufhin stieß Ben ihn verärgert an der Schulter, sodass Frank ins Schwanken geriet.

    »Ey Mann, spinnst du? Wir wollen hier nicht gewalttätig werden.« Er verzog seine Augenbrauen und stieß Ben zurück.

    Dabei verlor Ben für einen Augenblick sein Gleichgewicht und erschrak. »Spinnst du! Fast wäre ich da runtergefallen!«, motzte er laut.

    Die Brücke hing ungefähr vier Meter über dem Wasser. Schroffe Steine berührten den Wasserspiegel, die am helllichten Tag wie Schatten auf der Oberfläche wirkten. Diese Steine nicht zu treffen wäre unmöglich.

    Denn auch der Fluss selbst war nicht gerade seicht. Nichtschwimmer könnten dort sogar ertrinken.

    »Lass uns in die Stadt gehen. Schauen wir mal, wer gerade ne Hausparty schmeißt«, schlug Frank vor und gab Ben einen leichten Stoß in den Rücken. Ohne zu bemerken, dass Ben sich gerade dabei umdrehte.

    Im selben Augenblick wollte Frank abspringen, als Ben ihn plötzlich von hinten am Shirt packte und ihn an sich zog. Für einen kurzen Moment verstand Frank nicht, was los war, bis er merkte, was gerade passierte.

    Nach dem Stoß konnte Ben sein Gleichgewicht nicht mehr halten. Langsam rutschte er nach hinten, dabei hielt er sich immer noch an Franks Shirt gekrallt. Es dauerte einen Wimpernschlag, bis sie gemeinsam in den Fluss stürzten.

    3

    Am folgenden Morgen hörte Ben eine stumpfe und leise Stimme, die immer lauter wurde und deutlicher zu hören war.

    »BEN! … BEN! … Ben, jetzt wach doch endlich auf!« Es war Frank, der wiederholt seinen Namen rief. Er rüttelte an seinem Körper und verpasste ihm eine Ohrfeige. »Verdammt … BEN!«

    Allmählich öffnete Ben seine Augen, schaute verwirrt und runzelte die Stirn. Er lag auf der Wiese vor dem Flussufer. Seine Füße waren dabei bis zu den Knöcheln noch im Wasser. Seine Kleidung war bereits trocken.

    »Waa … was … ist passiert?«, fragte er krächzend. Er stützte sich mit seinen Ellbogen vom Boden ab und rappelte sich mit Franks Hilfe auf.

    »BEN! … Durch den Sturz ins Wasser waren wir die ganze Nacht nicht bei Bewusstsein. Verstehst du, was ich dir sagen will? Wir waren die ganze Nacht weg!«, erklärte Frank und war dabei so panisch geworden, dass er kaum Luft holte.

    Plötzlich sprang Ben auf. Panik überkam nun auch ihn und vor lauter Aufregung merkte er nicht einmal die am rechten Bein aufgerissene Hose und die große Schnittwunde am Knie. Das Blut war schon trocken und nur eine dünne Kruste war an der Haut zu erkennen. Es fühlte sich zwar unangenehm an, aber ein Schmerz war nicht mehr zu spüren.

    »Mist! Die suchen uns bestimmt schon«, ahnte Ben.

    Als Frank sich gerade vom Boden erheben wollte, spürte er ein starkes Ziehen in der Wade und gleichzeitig einen pochenden Schmerz an der Fußsohle. Er ließ sich wieder fallen.

    »FRANK! Du bist verletzt!« Ben beugte sich zu ihm runter.

    »Musst du gerade sagen. Schau dir dein Knie an«, rief er und zeigte auf Bens Bein. Dabei versuchte er, seinen eigenen Schmerz zu unterdrücken. »Wir sind wohl an die Steine im Wasser gekommen.« Er schaute zum Fluss.

    »Komm, ich helfe dir, Frank. Ich begleite dich nach Hause.«

    »Nein, ich werde es schon allein schaffen. Du musst selbst zurück. Deine Eltern machen dir garantiert die Hölle heiß, so wie ich sie kenne. Meine haben bestimmt nicht gemerkt, dass ich überhaupt die ganze Nacht weg gewesen bin.«

    »Pscht! Sei kurz still. Hörst du das?«, unterbrach Ben ihn auf einmal.

    »Was denn?« Frank schaute sich um und bemerkte einige Bewegungen in den Sträuchern hinter ihnen. Er zeigte mit dem Finger dorthin und kniff dabei die Augen zusammen. »Ist dort jemand?«, nuschelte er und glaubte, jemanden zu erkennen. »Wehe einer hat alles auf Video aufgenommen und ins Internet reingestellt!«

    Ben drehte sich kurz in Franks Blickrichtung um. »Da ist nichts«, winkte er ab. »Ich meine etwas anderes, hörst …«

    Abrupt wurde ihre Unterhaltung durch ein leises, klappriges Geräusch unterbrochen. Das Klappern näherte sich ihnen und wurde zunehmend lauter.

    Sofort verstummten beide und standen wie erstarrt da, denn was sie dort zu Gesicht bekamen, entsprach nicht im Geringsten ihrer Erwartung.

    »Ist … das eine … Kutsche? Seit wann fahren hier Kutschen durch die Gegend?«, blickte Frank zu Ben.

    »Das ist ein Heuwagen«, korrigierte er ihn.

    »Er kommt aus deiner Richtung. Gehört er etwa zu euch?«, fragte Frank.

    »Nein, solche Heuwagen werden schon lange nicht mehr gefahren.« Ben wunderte sich ebenfalls.

    »Und wieso fährt das alte Ding hier herum?«, flüsterte Frank ihm zu.

    »Hey Burschen! Was macht ihr hier? Müsstet ihr nicht längst um diese Uhrzeit arbeiten? Los, springt auf! Ich nehme euch mit in die Stadt!«, rief ein älterer Mann den beiden zu. Er hielt die Zügel seines Pferdes fest und brachte den Wagen zum Stehen.

    Verwirrt schauten sich beide in die Augen und verzogen das Gesicht.

    Der Mann hatte von der Erde besudelte, schmutzige Hände und trug ein dreckiges Hemd, und wie er roch, war nicht gerade angenehm. Der strenge Geruch von Schweiß und Gülle zog in die Nasen der beiden, sodass sie gleichzeitig ihr Atem anhalten und schlucken mussten.

    Ben und Frank begutachteten das Äußere des Fremden, seine graue Hose war ebenso von Dreck besudelt. Sie sahen, dass ihm die Hälfte seiner Haare fehlten, denn seine haarlose Kopfspitze glänzte vom Schweiß im Licht der Sonne. Dabei tropften ihm ein paar Schweißperlen von der Stirn zur Nasenspitze, welche er gleich darauf mit seinem verschmutzten Ärmel abwischte. Der alte Mann trug einen langen, grauschwarzen Bart und hatte eine ziemlich faltige Stirn. Seine Stimme war rau und tief, welche bei beiden kein vertrauensvolles Gefühl erweckte, um mit ihm in seinem alten Heuwagen mitzufahren.

    »Na, was ist?«, wiederholte sich der alte Mann und strich sich erneut mit seinem dreckigen Ärmel die Stirn ab, was zwar den Schweiß aufsaugte, seinen Anblick jedoch nicht verbesserte.

    Wieder warfen sich die beiden, verunsicherte Blicke zu.

    »Nein, danke. Wir gehen zu Fuß«, antwortete Frank in der Hoffnung, dass der alte Mann wieder fahren würde.

    Der Alte räusperte und spuckte unerwartet zur Seite auf die Erde, schüttelte grimmig den Kopf, beschwerte sich über die respektlosen Jungen heutzutage und zog ein paar Mal an den Zügeln. Sein Pferd galoppierte los.

    »Na wie ihr wollt!«, rief er ein letztes Mal und entfernte sich langsam von ihnen, bis er nicht mehr zu sehen war.

    »Das war ja seltsam«, äußerte Ben.

    »Ja! Voll der Pädo, ey!«, verzog Frank die Augenbrauen. »Wer nimmt denn schon fremde Leute von der Straße mit?«, fragte er und fand es total absurd.

    »Ja und vor allem, welche Leute lassen sich heutzutage von Fremden mitnehmen?«

    Beide schüttelten sich angewidert bei dieser Vorstellung.

    »Jetzt müssen wir aber los. Komm, leg deinen Arm um mich. Ich begleite dich bis zur Kreuzung«, zog Ben an Franks Arm.

    Frank tat, was er sagte.

    Gemeinsam liefen sie denn Feldweg entlang, so schnell sie nur konnten, denn sie wussten, Ärger erwartete sie zu Hause.

    An der Kreuzung trennten die beiden sich schließlich. Frank humpelte langsam Richtung Stadt, dort wohnte er in einer sehr attraktiven und vornehmen Wohngegend, in einer langen Straße mit vielen Ein- bis Zweifamilienhäusern. Er selbst wohnte mit seinen Eltern in einem prächtigen, zweistöckigen weißen Haus, mit hohen Decken und großen, weißen Sprossenfenstern und mit einem kleinen Vorgarten.

    Zudem besaß die Stadt genug Geld und legte viel Wert darauf, ihre historische Architektur ebenso wie ihre Denkmäler zu bewahren, und sorgten mehrmals im Monat für verschiedene Stadtfeste.

    Ben kehrte Frank den Rücken zu und machte sich ebenfalls zügig auf den Weg zur Farm.

    Nach fünfzehn Minuten erreichte Ben das Waldstück, durch den er immer hindurch musste, doch heute war etwas anders.

    »Merkwürdig«, flüsterte er und schaute stutzig.

    Der kleine Wald schien gar nicht mehr so klein zu sein, im Gegenteil, es waren überraschenderweise viel mehr Bäume und Sträucher da. Oder war es nur Einbildung?

    Schnell verdrängte er diesen Gedanken, als er gerade das Waldstück wieder verließ.

    Abrupt blieb Ben stehen. Fassungslos starrte er zu seinem Haus. Schockiert, erschrocken, sprachlos von dem, was er sah. Sein Blick schweifte von links nach rechts, unaufhörlich. Denn plötzlich erkannte er nichts mehr. Er setzte ein paar Schritte nach vorn und blieb erneut stehen.

    »WAS … WAS ist denn los?! WO … ist das Haus? WO ist der Rest der Farm … WAS ist mit unseren Feldern passiert?« Er wurde kreidebleich.

    Vor ihm stand nämlich nur ein kleines Farmhaus über zwei Stockwerke hoch. Zwar ähnelte es seinem Haus sehr, jedoch war es nicht identisch. Daneben befand sich ein Schuppen, gegenüber ein großer Stall für Vieh und ein Wasserrad, welches stillstand. Die Felder waren zwar bebaut, doch der größte Teil der Felder fehlte, dafür ersetzten Bäume den Platz.

    »Was ist passiert? Das kann doch nicht sein … ich kann doch nicht so gestürzt sein, dass ich auf einmal vergessen habe, wie unser Haus aussieht«, überlegte Ben. »Oder habe ich mich verlaufen?«, fragte er sich, doch er glaubte es nicht.

    Schließlich entschied er, wieder durch den Wald zum Feldweg zurückzulaufen, dabei schaute er sich noch einmal die Bäume und die Umgebung an. Dabei blickte er mehrmals zurück, um sich zu vergewissern, ob es auch wirklich der richtige Weg gewesen war, den er gestern genommen hatte.

    Allerdings gab es nur diesen einen Weg. Wieder einmal lief er durch den Wald zum Haus zurück.

    »Nein, ich bin hier richtig … aber … das Haus! Bin ich doof?« Sein Herz raste wie wild.

    Die ganze Situation verwirrte ihn. Er wurde panisch. Zitternd fasste er sich immer wieder an den Kopf. Angst machte sich in seinen ganzen Adern breit. Eine Angst, die er noch nie zuvor verspürt hatte. Er hörte sein Herz vibrieren, als würde es gleich aus dem Körper entspringen. Es schlug so heftig, dass er glaubte, aus Schweiß zu bestehen.

    »Scheiße! Ich bin tot. Ich bin auf jeden Fall tot. Ich kann nur tot sein! Bestimmt bin ich in irgendeiner Zwischenwelt gelandet. Scheißeee!« Er atmete so schnell, dass ihm fast schwarz vor Augen wurde. Er schnaufte laut. »Okay. Ganz ruhig … was mach ich jetzt? Wenn ich tot wäre, dann wäre Frank nicht bei mir.«

    Eine kurze Pause folgte.

    »Stimmt! FRANK!«

    Nach ein paar Runden der Überlegung konnte er sich ein wenig beruhigen, bis sich sein Herzschlag wieder normalisierte. Er wollte sich gerade umdrehen und gehen, als er auf einmal jemand Unbekanntes bemerkte, der das Haus verließ.

    Der ihm fremde Mann war größer als Bens Vater, war kräftiger gebaut als er und seine Haare waren viel heller. Ben verstand nicht, wer dieser Unbekannte sein könnte, genauso wenig konnte er begreifen, was mit seinem Haus und den ganzen Feldern passiert war.

    Unerwartet blieb der Mann stehen und drehte sich im selben Augenblick in Bens Richtung um. Beide waren voneinander gut entfernt, doch trotzdem konnte er erkennen, dass dieser Unbekannte ihn gerade beobachtete.

    Gleichzeitig nahm Ben eine weitere Person im Augenwinkel wahr, die an der Scheune aufgetaucht war. Sein Blick wanderte dorthin. Er erkannte ein junges Mädchen, das sich dahinter versteckte. Ihre dunkelblonden Haare zu einem langen Zopf geflochten, presste sie ihren Oberkörper gegen das Holz der Scheune und schaute hervor. Eindeutig, sie hatte ihn ebenfalls beobachtet.

    »Was geht hier vor?« Die Situation wurde skurriler, verspürte Ben.

    Schlagartig marschierte der Mann plötzlich los und lief direkt auf ihn zu. Ben wusste nicht, wie er handeln sollte, also entschied er sich, wegzulaufen. Denn das alles erschreckte ihn. Sofort rannte er los. Wieder durch den Wald. Der Fremde rief ihm hinterher, doch Ben hörte es nicht mehr. Er lief, so schnell er nur konnte, bis er wieder an der Kreuzung ankam, wo er sich von Frank zuvor getrennt hatte.

    »FRANK! Ich muss zu ihm!«

    ***

    In der Zwischenzeit hatte auch Frank die Stadt erreicht. Irritiert runzelte er die Stirn und verlangsamte sein Tempo, bis er perplex stehenblieb.

    »Was geht denn hier für ne Scheiße ab? Wieso ist hier alles so anders?« Frank wandte seinen Kopf nach hinten und schaute zurück. »Bin ich etwa in die falsche Richtung gelaufen?« Sein ratloser Blick wanderte wieder zur Stadt. Er schüttelte den Kopf. »Unmöglich! Die andere Stadt liegt acht Meilen von hier, so weit kann ich doch nicht mit meinem verletzen Bein gelaufen sein.«

    Ein paar Minuten stand er so da und begutachtete die Umgebung, die ihm total fremd erschien. Er erkannte nichts. Nur einige der Häuser ähnelten denen, die er kannte, glaubte er.

    Die Gebäude waren zwar genauso hoch wie immer, doch viele kleine Boutiquen fehlten einfach, fiel ihm auf. Die Straßen waren auf einmal schlecht gepflastert und mit grauen, ungleich großen Steinen gepflastert. Er schaute genauer hin.

    »Was zum Teufel geht hier vor?«, sprach er aus, als er einer Kutsche beim Verlassen der Stadt hinterherschaute. »Oh Mann, wahrscheinlich hab ich mir so stark den Kopf angeschlagen, dass ich nichts mehr wiedererkenne.«

    Er entdeckte am Rand des Bürgersteiges große, schwarze Straßenlaternen. Sie erinnerten ihn an die alten schwarz-weiß Kriminalfilme.

    Doch was ihm am allermeisten auffiel, war die verschwundene

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