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Das Kyot-Problem: Kärnten Krimi
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eBook365 Seiten

Das Kyot-Problem: Kärnten Krimi

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Über dieses E-Book

Seit neun Jahrhunderten gilt das Parzival-Manuskript des provenzalischen Sängers Kyot als verschollen. Jetzt tauchen Hinweise auf, dass es in einem geheimen Kellerraum einer alten Wörtherseevilla liegt. Der Klagenfurter Detektiv Heinz Sablatnig, der diesen Raum vor fünfundzwanzig Jahren entdeckt hat, zeigt einer Handvoll Leuten den Zugang doch jeder, der den Raum betritt, wird danach ermordet.Sablatnig kann die Hintergründe der Morde nicht aufdecken, da jegliches Motiv zu fehlen scheint. Er ermittelt in der Vergangenheit des Kyot-Manuskripts, der Villa und ihrer Vorbesitzer. Doch der Mörder hat nicht vergessen, dass auch Sablatnig den geheimen Raum betreten hat.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Z
Erscheinungsdatum1. Juli 2022
ISBN9783985100101
Das Kyot-Problem: Kärnten Krimi

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    Buchvorschau

    Das Kyot-Problem - Roland Zingerle

    rolandzingerle.at

    Für Elke

    SEPTEMBER 1997

    Kapitel 1

    Dienstag, 8 Uhr

    Das Maria Saaler G’läut hört man bis Sankt Veit ...

    Heinz Sablatnig musste an dieses Kärntnerlied denken, als er von der Bushaltestelle zum Detektivbüro eilte. Was kein Wunder war, immerhin pulsierte die Luft in Maria Saal vom Glockenklang der Doppeltürme der Marienkirche. Nie hätte er gedacht, dass er einmal in Maria Saal arbeiten würde – und schon gar nicht als Detektiv. Sein Lebensplan hatte vorgesehen, nach der Matura Betriebswirtschaft zu studieren, doch das hatte sich als Fehler erwiesen.

    Heinz erreichte den Wohnblock und eilte die Stiege hinauf.

    Nach ein paar Semestern und dem katastrophalen Ende einer längeren Beziehung hatte er sich, um Abstand von allem zu bekommen, zu den UNO-Truppen gemeldet und war acht Monate lang Wachsoldat an der Grenze zwischen Israel und Syrien gewesen. Danach hatte er weiterstudieren wollen, doch das Studium hatte keinen Sinn mehr für ihn ergeben.

    Er öffnete die Wohnungstür mit dem Schild Slama Investigations und ging schnellen Schrittes zum Büro von Pepo Slama, dem Inhaber der Agentur. „Guten Morgen Chef", sagte er und sah, dass dieser gerade telefonierte.

    Slama warf ihm einen stechenden Blick zu und deutete vorwurfsvoll auf die dicke, runde Uhr an seinem Handgelenk.

    Heinz hob entschuldigend die Hand und flüsterte: „Der Bus hat sich verspätet. Ein Unfall in Rattendorf."

    Der Chef machte eine wegwerfende Geste und bedeutete Heinz mit derselben Bewegung, er solle das Büro verlassen.

    Heinz ging, ließ die Bürotür aber offen, wie Slama es immer wollte.

    Jetzt im Nachhinein konnte Heinz gar nicht mehr sagen, was den Ausschlag für seine Entscheidung gegeben hatte, es als Detektiv zu versuchen, doch es hatte sich von Anfang an richtig angefühlt. Auch wenn Pepo Slama ein schwieriger Mensch war, den die meisten wegen seiner ruppigen Art mieden, Heinz kam gut mit ihm zurecht.

    Er ging in sein eigenes Büro, das im Bauplan sicherlich als „Abstellkammer ausgewiesen war, und zwängte sich hinter seinen Schreibtisch, der eher einem Beistelltisch ähnelte. Trotzdem, wenn er einmal saß, konnte Heinz gut hier arbeiten – zumindest, solange er nicht versuchte, die Beine auszustrecken, denn die Wand gegenüber schloss mit der Vorderkante des Tisches ab. Aber Heinz war ohnehin nicht hier, um die Beine auszustrecken. „Lehrjahre sind keine Herrenjahre, sagte sein Vater immer, und spätestens nach seiner Zeit beim Militär war Heinz ohnehin anspruchslos, was Komfort anging.

    Slama hatte ein großes, braunes Kuvert auf seinen Tisch gelegt, die Schnappschüsse der aktuellen Observierung, die Heinz auswerten musste. Er zog die Fotos heraus und sah sie durch.

    Heinz war dreiundzwanzig Jahre alt und arbeitete seit einem knappen Jahr hier. Als er damals nach einer Detektei gesucht hatte, bei der er das Handwerk des Berufsdetektivs erlernen konnte, war Slama Investigations die einzige in Mittelkärnten gewesen, die einen Assistenten aufgenommen hatte. Eigentlich hatte Pepo Slama gar keinen Mitarbeiter gesucht, doch zu Heinz‘ Glück hatte er zu diesem Zeitpunkt so viel um die Ohren gehabt, dass ihm der Gedanke gefallen hatte, etwas Hilfe zu bekommen. Heinz war sich nach wie vor unsicher, ob sein Chef ihn auf Dauer behalten wollte, immerhin hatte dieser bis jetzt keine Notwendigkeit gesehen, den Firmensitz seiner Agentur aus dieser Sechzig-Quadratmeter-Wohnung weg und in echte Büroräume zu verlegen – mit einem echten Büro für Heinz. Vielleicht, doch das war nur eine Mutmaßung von Heinz, wartete Slama tatsächlich auf den Anruf aus den Vereinigten Staaten, der ihm einen Job in Chicago anbot. Der Chef sprach zwar immer davon, auch, dass er gute Kontakte dorthin habe, doch Heinz sah nichts in seiner alltäglichen Arbeit, das darauf hindeutete, dass Slama über besondere Fähigkeiten verfügte, die man in den USA dringend brauchte. Vermutlich war das einer dieser lebenslang gehegten Wunschträume, die man nicht aufgab, um nicht vor sich selbst zugeben zu müssen, dass man gescheitert war.

    Die Fotos waren so nichtssagend, wie Heinz es erwartet hatte. Er und sein Chef arbeiteten an einer Observierung, die sich als kompliziert erwies. Die Ehefrau eines Holzindustriellen verdächtigte ihren Mann der ehelichen Untreue und hatte Slama Investigations beauftragt, Beweise dafür zu liefern, damit sie beim anstehenden Scheidungsverfahren besser ausstieg. Das war nicht so einfach, denn der Mann ging ungewöhnlich gerissen vor: Wann immer er die Privatwohnung einer Frau betrat – und derer gab es mehrere – hatte er auch einen geschäftlichen Grund dazu. Außerhalb von geschlossenen Räumen verhielt er sich gegenüber diesen Frauen nie so, wie es ein verheirateter Mann nicht sollte, und Beobachtungen durch die Fenster führten zu keinem Ergebnis.

    Doch Slama hatte sich an dem Mann festgebissen wie eine Zecke. „Ich spüre es beim Brunzen (Pinkeln, Pissen), dass der Loter (kärntnerisch für „Typ, Kerl) fremdgeht, hatte er gesagt. Er meinte, es sei nur eine Frage der Zeit, bis der zu Überwachende sich die Blöße gab, die es brauchte, um ihn zu überführen.

    Auf den Fotos, die Slama am Vortag geschossen hatte und die Heinz nun in Händen hielt, war jedoch nichts zu sehen außer Wohn- und Bürohäuser. Heinz nahm seine Lupe und suchte damit langsam die Fassaden ab. Auch wenn es nicht sehr wahrscheinlich war, so bestand doch die Möglichkeit, dass der Industrielle in einem der Fenster zu sehen war, idealerweise in einer kompromittierenden Situation. Heinz schmunzelte regelmäßig bei dieser Tätigkeit, das Bild des Detektivs, der mit einem Vergrößerungsglas nach Spuren suchte, war schließlich längst nicht mehr zeitgemäß.

    Als er das dritte Foto in Arbeit hatte, rief der Chef nach ihm. Heinz ging wieder in dessen Büro und setzte sich auf den knarrenden Holzstuhl vor dem Schreibtisch.

    Pepo Slama war ein bulliger, kleiner Kerl mit Vollglatze und Stiernacken, ein Vollblut-Detektiv im schlimmsten Sinn des Wortes. Er war jähzornig und auf eine rücksichtslose Art unbesiegbar, denn auch wenn er einmal den Kürzeren zog, ließ er nicht locker, bis er aus seiner Niederlage zumindest einen kleinen Erfolg herausgekämpft hatte. Das machte Slama zu einem erfolgreichen und daher auch gefragten Detektiv, menschlich hingegen war der Mann eine Katastrophe. Heinz hatte nie herausgefunden, ob er tatsächlich so ein harter Einzelkämpfer war oder ob er diesen Eindruck nur vorschob, um seine große Einsamkeit zu verbergen. Denn was Frauen betraf, so hatte sich während der Zeit, in der Heinz für ihn arbeitete, eine gescheiterte Beziehung an die nächste gereiht, Slama schien da einen Dreimonatstakt zu haben. Und es waren durchwegs tolle Frauen, um die Heinz ihn beneidete.

    Slama hatte das Telefonat beendet und lehnte nun entspannt in seinem wuchtigen Sessel, wobei er seine kleine Pfeife anzündete. Wenn er an dem geschwungenen Stiel sog, beugte sich die Flamme des Feuerzeugs in den Pfeifenkopf hinein, Heinz fand das jedes Mal wieder originell. Pepo Slama war kein Mensch, der besonderes Augenmerk auf Äußerlichkeiten legte, doch seinen Pfeifentabak ließ er sich etwas kosten, das roch man. Geld hatte er immerhin, die Detektei lief gut.

    „Wir haben einen neuen Auftrag, sagte Slama zwischen zwei Zügen, ohne von einem Bündel zusammengehefteter Papierblätter aufzusehen, das auf seinem Schoß lag. „Ein Ehepaar sucht nach einem geheimen Raum im Keller seines Hauses. Nun linste er doch kurz zu Heinz herüber. „Interessiert?"

    Heinz kicherte. „Ein geheimer Raum im Keller des eigenen Hauses?"

    Der Chef nickte.

    „Was ist mit der Observierung?"

    Jetzt schenkte er Heinz einen harten Blick unter seinen buschigen Augenbrauen hervor und sagte: „Erledige ich solo. Dem picke (kärntnerisch für „kleben) ich so lange an den Fersen, bis ich ihn erwische!

    Heinz stutzte. „Du meinst ... der neue Fall gehört mir? Allein?"

    Slama riss einen vollgekritzelten Zettel vom Notizblock neben dem Telefon und reichte ihn Heinz. „Du bist lange genug in der zweiten Reihe gestanden, sagte er, „wird Zeit, dass du zeigst, was du bei mir gelernt hast.

    Heinz spürte, wie eine Gänsehaut seinen Körper überzog. „Danke, Chef, wisperte er im Aufstehen, „ich werde dich nicht enttäuschen. Er nahm den Zettel und ging zurück in seine Abstellkammer.

    „Das hoffe ich schwer", rief Slama ihm hinterher.

    Dienstag, 9 Uhr

    Eine Dreiviertelstunde später lenkte Heinz den schwarzen Chevrolet Camaro seines Chefs durch den Ort und musste sich beherrschen, um die Geschwindigkeitsbeschränkung einzuhalten. Der Sportwagen war sicher schon zehn oder zwölf Jahre alt, doch er war cool. Außerdem war dieses Modell in Kärnten selten zu sehen, und es hatte mehr Pferdestärken unter der Haube als alle Autos, die Heinz jemals gefahren hatte. Für Slama war es kein Problem, Heinz den Wagen zu leihen. Für die Observierung war er zu auffällig, da griff Slama auf seinen Zweitwagen, einen VW Golf 2 zurück, und abgesehen davon war Slama recht locker, was diese Dinge anging.

    Endlich kam die Ortstafel. Heinz schaltete einen Gang zurück und trat aufs Gaspedal. Der Motor röhrte auf, und die Beschleunigung presste ihn in den Fahrersitz, Heinz‘ Grinsen wurde breiter.

    Maria Saal war nur wenige Kilometer von der Kärntner Landeshauptstadt Klagenfurt entfernt, über die Schnellstraße brauchte Heinz keine fünf Minuten. Vor der Stadtgrenze führte die anderthalb Jahre zuvor eröffnete Nordumfahrung weg, die Heinz binnen weniger Minuten in den Westen der Stadt und damit nahe an sein Ziel gebracht hätte, doch er wählte die längere Route durch das Stadtgebiet. Nicht nur das, er fuhr sogar bis ins Zentrum und machte ein paar Umwege, um durch die am meisten frequentierten Straßen zu kommen. Der Himmel war zwar etwas bedeckt, doch es war hell genug, um die Verwendung einer Sonnenbrille zu rechtfertigen. Heinz setzte die Ray Ban General mit den goldenen Gläsern auf, die er bei seinem UNO-Auslandseinsatz für zweitausendsechshundert Schilling erstanden hatte. Und das war noch eine Okkasion gewesen, weil er sie steuer- und zollfrei bekommen hatte.

    Heinz drehte die Musik lauter, die gerade im Radio gespielt wurde, und öffnete die Scheibe auf der Fahrerseite. So kutschierte er durch die Straßen, wobei er zwischendurch immer wieder einmal den Motor im Leerlauf aufbrüllen ließ. Mit geheucheltem Desinteresse an seiner Umwelt hielt er den Kopf etwas schräg an die Nackenstütze gelehnt, verrenkte sich aber hinter den verspiegelten Gläsern seiner Sonnenbrille fast die Augäpfel, um zu beobachten, wie die Leute auf ihn reagierten. Er genoss die neidischen Blicke der Männer, und noch mehr genoss er das angetörnte Staunen der jungen Frauen, auch wenn sie so taten, als fänden sie sein Verhalten peinlich und unreif.

    Schließlich fuhr Heinz die Villacher Straße stadtauswärts und fühlte sich sauwohl. Er war ein waschechter Detektiv, der mit einer geilen Kutsche zur Arbeit fuhr – wie viele Menschen auf diesem Planeten konnten das von sich behaupten?

    Nach der Bahnunterführung bog er rechts ab und überquerte die Steinerne Brücke, dann fuhr er geradeaus weiter bis zur Kreuzung mit der Sterneckstraße, in die er links einbog.

    Vorhin im Büro hatte er noch mit seinem Auftraggeber telefoniert, ein Mann namens Adi Kröger, der eine seltsame Art zu sprechen hatte, welche Heinz nicht zuordnen konnte. Kröger hatte ihn zur Besprechung des Auftrags und zu einem Lokalaugenschein in sein Haus eingeladen, die Villa Elisabeth. Heinz hatte schon von dieser Villa gehört, wie er von vielen Villen am Wörthersee gehört hatte. Er war in Pörtschach aufgewachsen, wo er noch immer bei seinen Eltern wohnte, da kannte man sich am Wörthersee aus. Doch wie bei vielen anderen Villen hätte er weder sagen können, wo genau sie sich befand, noch wie sie aussah. Deshalb hatte er sich von Herrn Kröger eine Wegbeschreibung geben lassen, die er sich genau notiert hatte. Nach dem Telefonat hatte er den Stadtplan von Klagenfurt aus seinem Schreibtisch hervorgeholt.

    Heinz hatte immer geglaubt, er kenne sich in der Kärntner Landeshauptstadt gut aus, immerhin war er schon als Kind mit seinen Eltern immer wieder hier gewesen, und seit seiner Jugend gehörte die Stadt zu dem Revier, das er mit seinen Kumpels an jedem Wochenende durchstreifte, um nach den feschesten Mädels Ausschau zu halten. Doch seit er für Slama Investigations arbeitete, hatte er den Unterschied zwischen Ich-weiß-wo-das-ist und Da-finde-ich-hin kennengelernt. Abgesehen davon gab es Straßen, von denen er nie zuvor gehört hatte. Mit dem Finger auf der Karte war er dem Straßenverlauf von Adi Krögers Beschreibung gefolgt und erstaunt gewesen, im Stadtteil Sankt Martin einen Weg zu entdecken, der in den Wald des Kreuzbergls hinauf und zur Villa Elisabeth führte.

    Nun war er hier und fuhr zwischen dem Gasthof Müller und der Kirche Sankt Martin bergauf. An der Waldgrenze fand er tatsächlich eine schmale Straße, die zwischen den Bäumen verschwand. Heinz folgte ihr und holperte über ein paar Kilometer und Kurven bergauf, denn der Asphalt war bucklig und brüchig und immer wieder drang Gras aus seinen Rissen. Plötzlich, nach einer Biegung, stand die Villa Elisabeth direkt vor ihm. Der Weg endete bei dem vierstöckigen, schlossartigen Bau, der mit seinem großen, ummauerten Vorgarten raumgreifend mitten im Wald thronte. Wie für die Wörthersee-Architektur an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert üblich, hatte die Villa einen offenen und lebensfrohen Charakter. Die sandfarbene Fassade war von zahlreichen Fenstern durchbrochen, die unterschiedlich breit, ein- oder mehrflügelig, eckig oder oben rund waren. Sie waren weiß gerahmt und ihre grünen Läden geöffnet. Auch das ziegelrote Giebeldach bildete keine durchgängige Fläche. Zum einen, weil es von Türmchen, Kaminen und Dachfenstern durchsetzt war, und zum anderen, weil es auf jedem der zweieinhalb Stockwerke, über die es verteilt war, unterschiedliche Neigungswinkel besaß. Die einzige ästhetische Ordnung, die der Architekt bei der Planung dieses bunten Durcheinanders von Bauelementen eingehalten zu haben schien, war die Symmetrie gewesen, doch die reichte aus, um dem Ganzen eine spielerische Harmonie zu geben.

    Doch alle architektonische Schönheit und Leichtigkeit konnte nicht darüber hinwegtäuschen, wie sehr der Zahn der Zeit an dem Gebäude genagt hatte. Die Fassade hatte großflächige, dunkle Flecken, der Lack von Fensterrahmen und -läden war sichtlich abgeblättert, und auf dem Dach hatten sich Flechten angesiedelt. Als Heinz genauer hinsah, bemerkte er, dass auch ein paar Dachziegel fehlten, ebenso wie vereinzelte Brettchen in den Fensterläden.

    Die beiden Flügel des riesigen, schmiedeeisernen Tores, das den einzigen Durchgang in der Gartenmauer bildete, standen offen und gaben den Blick auf ein großes Kiesbett frei, das die Auffahrt zur Villa bildete und in dem eine mächtige, hoffnungslos überwucherte Blumeninsel vor dem Eingang eine Art geräumigen Kreisverkehr schuf. Links an der Gartenmauer stand ein mächtiger Anbau, der ursprünglich ein Pferdestall oder eine Kutschenremise gewesen war, vermutlich beides. Heute diente er offenbar als Garage, zumindest der Teil, dessen Tore offenstanden, denn darin sah Heinz das Heck eines silbernen Mercedes‘ einer modernen Baureihe und, als ginge es darum, einen möglichst großen Kontrast herzustellen, das eines hellroten Fiat Cinquecentos.

    Selbstbewusst parkte Heinz den Camaro direkt vor der Tür und stieg aus. Er hatte seine Schuhe gerade auf den mit Grünalgen beschlagenen Kies gesetzt, als mit einem krächzenden Quietschen die massive, hölzerne Eingangstür geöffnet wurde und ein Ehepaar mittleren Alters daraus hervorkam.

    „Grüß Gott, Herr Sablatnig, schön dass Sie es so rasch einrichten konnten!" Adi Kröger kam mit ausgebreiteten Armen auf Heinz zu, dabei schien es, als würden sich seine Beine nur durch die Gewichtsverlagerung seines runden Körpers abwechselnd nach vorne setzen. Mit seiner Größe von wenig mehr als einem Meter sechzig erinnerte er Heinz an den US-amerikanischen Schauspieler Danny DeVito, nur mit dem Unterschied, dass Krögers Rundlichkeit fest wirkte, als bestünde sie aus Muskelmasse. Den einzigen Kontrapunkt zu seinem drolligen Aussehen bildete ein Monokel, das in seinem rechten Auge klemmte und dessen Kette am Knopfloch im Revers des Sakkos seines sichtlich teuren Anzugs befestigt war. Er drückte Heinz die Hand, und dieser spürte die ungewöhnlich ausgeprägten Rundungen der Ballen, die so fest waren, wie Krögers Bauch aussah.

    Ähnlich fühlte sich der Händedruck von Frau Kröger an. Sie schien überhaupt das weibliche Gegenstück ihres Mannes zu sein, denn sie hatte annähernd dieselbe Größe und dieselbe Kopf- und Körperrundlichkeit. Sogar ihr Lächeln glich seinem, es war, als stammten beide von einer anderen, gartenzwergartigen Menschen-Spezies ab. Der größte Unterschied zwischen ihnen war die Haartracht. Denn während er eine Glatze trug, hatte sie ihre schwarzen Haare zu einem Turm hochtoupiert, der Heinz an die charakteristische Frisur von Audrey Hepburn erinnerte. Das passte zwar nicht zu ihrem Typ, dafür aber zu ihrem schrulligen Äußeren.

    „Willkommen auf Schloss Elisabeth", sagte Frau Kröger getragen, machte eine ausladende Geste und lachte dann über sich selbst.

    Heinz fand die beiden sympathisch. Wie um der Artikulation von Frau Kröger zu folgen, sah er zuerst zur Villa und dann in die entgegengesetzte Richtung – wo sein Blick überwältigt hängen blieb. Er war selbstverständlich davon ausgegangen, hier nur Wald vorzufinden, stattdessen tat sich ein unerwartetes Panorama auf. Am Horizont zerschnitt die gezackte Silhouette der Karawankengipfel den Himmel, darunter lag der bewaldete Sattnitz-Hügelzug. Rechts schob sich der Ostteil des türkisfarbenen Wörthersees in das Blickfeld, Heinz konnte bis Sekirn sehen.

    „Die Bäume da vorne müssen wir noch stutzen, meinte Frau Kröger, die Heinz‘ Reaktion richtig deutete, „dann sehen wir vielleicht die ganze Stadt.

    „Und wenn wir die paar Bäume da drüben abholzen, kriegen wir einen Blick bis nach Velden." Herr Kröger lachte über seine Übertreibung, und seine Frau stimmte mit ein.

    Heinz sah die beiden schmunzelnd an. Sie waren einander sogar in ihrer eigenartigen Sprechweise ähnlich, die ihm schon am Telefon aufgefallen war. Sie redeten schriftdeutsch, mit dem Hauch eines norddeutschen Dialekts, doch es war, als begannen sie jedes Wort gehetzt und beendeten es langsam, außerdem nuschelten sie die S-Laute.

    Frau Kröger – Heinz wusste von Slamas Aufzeichnungen, dass ihr Vorname Else lautete – bat ihn nach drinnen und ging voran.

    Das Innere der Villa erwies sich als das krasse Gegenteil des Äußeren. Hier war alles blitzblank gereinigt und poliert, die Wände frisch verputzt, Heinz glaubte sogar, noch feuchte Wandfarbe zu riechen. Das Mobiliar in dem Vorzimmer, das gleichzeitig auch das Treppenhaus war, nahm sich hingegen etwas spärlich aus, in einem Eck sah Heinz halb ausgepackte Transportkartons stehen. „Sie sind gerade erst eingezogen?", fragte er das Offensichtliche, um das Gespräch am Laufen zu halten.

    „Vor zwei Wochen", erwiderte Herr Kröger eifrig.

    Seine Frau ergänzte: „Eigentlich wollten wir ja schon vor einem halben Jahr einziehen, aber wir wussten nicht, dass die Villa so renovierungsbedürftig war. Die Außenfassade – nun gut, das kann man machen, wenn man schon hier wohnt, aber innen! Das muss ordentlich sein, sonst fühle ich mich nicht wohl."

    Heinz schnitt offenbar ein verständnisloses Gesicht, denn Herr Kröger erklärte: „Sie müssen wissen, dass wir aus Argentinien eingewandert sind."

    Heinz zog die Augenbrauen hoch. „Aus Argentinien? Dafür sprechen Sie aber hervorragend deutsch."

    „Wir hatten eine starke deutsche Gemeinschaft dort", erklärte Frau Kröger.

    Und offenbar auch deutsche Vorfahren, dachte Heinz, Kröger war schließlich kaum ein lateinamerikanischer Name. Das erklärte die seltsame Sprechweise der beiden.

    Die Krögers führten Heinz in den zweiten Stock, wo sie einen netten, kleinen Salon betraten, dessen breites Fenster einen noch schöneren Ausblick offenbarte als den vor der Tür. Heinz schätzte, dass die Villa Elisabeth etwa auf halber Höhe des Kreuzbergls lag. Frau Kröger bot ihm einen Platz an einem kleinen, runden, mit Spitzen gedeckten Biedermeiertischchen an. Der stilgleiche Sessel, auf den er sich setzen sollte, wirkte so filigran, dass Heinz befürchtete, er würde unter ihm zusammenbrechen – überraschenderweise knarrte er aber nicht einmal. Gleich darauf hörte er lauter werdendes Geklapper, und dann rumpelte ein uralter Servierwagen aus einem Nebenraum herein. Geschoben wurde er von einer jungen Frau, bei deren Anblick Heinz die Kinnlade nach unten sank. Sie war in seinem Alter, vielleicht etwas jünger, trug einen dunkelbraunen, etwas längeren Bob, und ihr entwaffnend hübsches Gesicht wurde von einem Lächeln verzaubert, als ihr Blick seinen traf. Ihr schlanker, soweit Heinz sehen konnte, perfekt proportionierter Körper steckte in einer schwarzen Zimmermädchen-Uniform mit weißer Schürze und kurzem Rock. Als Heinz ihren Beinen entlangblickte, die dunkle Strümpfe trugen, hatte er das Gefühl, irgendetwas in seinem Gehirn würde aushaken.

    „Bekki, du Liebe, du hast ja schon alles vorbereitet", flötete Frau Kröger, während sie sich links von Heinz niederließ. Ihr Mann setzte sich rechts von ihm.

    „Grüß Gott", sagte Bekki mit einer weichen Stimme und einem niedlichen Augenaufschlag.

    „Kannst gerne Heinz zu mir sagen." Er schenkte ihr ein Lächeln, von dem er hoffte, dass es nicht zu dämlich ausfiel.

    Bekki schlug die Augen nieder und leckte kurz über ihre Lippen, dabei schüttelte sie eigenwillig den Kopf. Dann fragte sie professionell: „Was darf‘s sein? Tee? Kaffee? Sie konnte offenbar nicht verhindern, dass ihre Stimme einen kecken Unterton bekam. „Zucker? Milch?

    Dich mit allem, hätte Heinz am liebsten erwidert, doch er nahm sich zusammen. Er war immerhin hier, um zu arbeiten, nicht um zu flirten. Leider. „Kaffee, bitte, sagte er deshalb, konnte jedoch nicht anders, als hinzuzufügen: „schwarz wie meine Seele – und bitter wie mein Leben.

    „Oje, du Armer", spöttelte Bekki.

    Wie das Tischchen war auch der Servierwagen mit Spitzen gedeckt. Auf ihm standen schlanke, silberne Kannen und Tabletts mit einer Auswahl kleiner Brötchen und Kuchenstücke. Aus dem Fach darunter nahm die hübsche Serviererin nun eine Tasse und eine Untertasse aus feiner Keramik, das mit einem blauen Blumenmuster verziert war, sowie ein winziges, silbernes Löffelchen. Oben, auf einer dafür freigehaltenen Fläche, stellte sie die drei Gegenstände zu einer Einheit zusammen und goss Kaffee aus einer der Kannen in die Tasse.

    „Darf es auch ein Brötchen sein, fragte Frau Kröger indessen, „oder ein Stück Kuchen?

    Heinz ertappte sich, wie er darüber grübelte, welche Wahl Bekki am meisten imponieren würde, doch dann lehnte er dankend ab.

    Bekki versorgte noch das Ehepaar Kröger mit Kaffee und Tee und verschwand wieder in den Nebenraum, aus dem sie gekommen war, den Servierwagen ließ sie stehen.

    Heinz sah ihr hinterher und versuchte, sie per Gedankenübertragung dazu zu bringen, sich noch einmal zu ihm umzudrehen, doch sie widerstand seiner telepathischen Eingebung. Seufzend wandte er sich wieder dem Kaffeetisch zu und zuckte zusammen, als er Herrn Krögers Blick auf sich gerichtet sah.

    „Sie sagen uns, wenn Sie bereit für uns sind?" Er lächelte, doch Heinz verstand die Botschaft.

    „Ja, selbstverständlich, murmelte er, „bitte, jederzeit. Er spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg.

    Else und Adi Kröger wechselten einen Blick, der alles verriet. Sie fragten sich, ob Heinz nicht zu jung, zu unreif sei, um ihr Problem zu lösen. Überhaupt wurde Heinz mit einem Mal bewusst, dass hinter dem skurrilen Äußeren der beiden eine ganze Menge stecken musste. Er brauchte nicht die Kombinationsgabe eines Detektivs, um zu wissen, dass diese argentinischen Einwanderer, die eine Villa am Wörthersee kaufen und renovieren und sich einen Mercedes und Personal leisten konnten, jede Menge Geld haben mussten. Und da Geld bekanntermaßen nicht auf Bäumen wuchs, verfügten sie über Fähigkeiten, die sehr gefragt waren. Freilich, das mochte interessant sein, ging ihn aber nichts an. Er war hier, um seinen ersten Auftrag alleine zu erledigen, und sich dabei nach Möglichkeit nicht zu blamieren. So, wie es im Moment aussah, war er jedoch auf dem besten Weg, genau das zu tun.

    Heinz räusperte sich. „Beim Telefonat mit meinem Chef haben Sie von einem geheimen Raum im Keller Ihrer Villa gesprochen", begann er, da hakte Adi Kröger auch schon ein:

    „Ja, stimmt genau. Er nahm die alte Mappe, die am Tischchen bereitlag, und öffnete sie, indem er eine um einen Knopf gewickelte Schnur löste. „Wissen Sie, unsere Vorgänger in der Villa Elisabeth haben ihren gesamten Hausstand zurückgelassen. Der Großteil war natürlich zu entsorgen, aber die Dokumente, die wir gefunden haben, waren zum Teil sehr interessant. Zum einen, was die Familie angeht, vor allem aber, was die Geschichte des Hauses betrifft. Schauen Sie. Er hatte die Mappe geöffnet und kletzelte nun einen Packen kleinformatiger, teilweise vergilbter Schwarz-Weiß-Fotos mit breiten, weißen Rändern heraus, die er Heinz reichte.

    Das erste Bild zeigte die Frontansicht der Villa, von der etwa ein Drittel auf der rechten Seite eingestürzt war. Auch die Gartenmauer war auf dieser Seite eingerissen, der Boden aufgewühlt. „Nanu, was ist denn da passiert, fragte Heinz, „ein Erdbeben?

    „Nicht so wichtig, Adi Kröger machte eine wegwerfende Handbewegung, „blättern Sie weiter.

    Auf den anderen Fotos waren mehrere Männer jungen und mittleren Alters in unterschiedlichen Gruppierungen zu sehen, die mit Aufräumarbeiten beschäftigt waren. Sie trugen alle Seitenscheitel und weite, schlabbrige Hosen, einer hatte anstelle von Schuhen Stoffbandagen um die Füße gewickelt. Heinz schloss aus der Kleidung und der Haarmode, dass die Fotos aus den 1930er- bis 50er-Jahren stammten, Zweiter Weltkrieg oder kurz danach. Möglicherweise hatte eine Fliegerbombe die Villa getroffen? Die Arbeiten waren aus mehreren Winkeln aufgenommen worden, das Hauptmotiv war jedoch ein Loch im Boden. Heinz sah Herrn Kröger fragend an.

    Dieser war jedoch auf die Fotos fixiert. Er schwitzte, und sein Monokel war angelaufen, das sichtbare Auge war plötzlich starr vor fanatischem Enthusiasmus. „Hier", stammelte er, nahm Heinz die Bilder weg und blätterte vor ihm ein paar zurück. Als er die gesuchte Aufnahme fand, tippte er hektisch darauf.

    Heinz sah sich das Foto nun genauer an: Ein Jugendlicher mit nacktem, verschwitztem Oberkörper stützte sich auf eine Schaufel und lachte offen in die Kamera. Vor ihm am Boden war dieses Loch zu sehen, hier recht groß, und als Heinz genauer hinschaute, stellte er fest, dass in dem Loch eine glatte Wand nach unten führte.

    Adi Kröger gab ein keuchendes Lachen von sich und sah Heinz begeistert an, dann blätterte er zum nächsten Foto. Hier war das Loch noch größer abgebildet und aus einer anderen Perspektive, wodurch erkennbar war, dass es zu einem Kellerraum hinabführte. Ein Abschnitt eines gefüllten Bücherregals war dort zu sehen. Auch die nächsten Fotos zeigten den Zugang zu dem Raum sowie Männer, die dabeistanden, in die Kamera lachten oder mit dem Daumen nach oben zeigten, offensichtlich begeistert über ihren Fund.

    „Der geheime Raum", flüsterte Herr Kröger.

    „Okay, meinte Heinz langsam, „wenn ich das richtig verstehe, wurde während der Aufräumungsarbeiten ein Kellerraum entdeckt, von dem man nichts wusste.

    „Sehe ich auch so. Kröger nickte. „Und wie auf den Bildern zu sehen ist, war er nicht leer. Im Gegenteil, wenn Sie die Fotos mit einer Lupe ansehen, erkennen Sie, dass die Bücher uralte Folianten sind. Wissen Sie, was solche Bücher wert sein können? Und wer weiß, was sich noch alles in dem Raum befindet. Er lehnte sich zurück und grinste Heinz auffordernd an.

    „Ich nehme an, Heinz räusperte sich, „Sie und Ihre Frau haben bereits im Keller nach diesem Raum gesucht, ihn aber nicht gefunden?

    Herr Kröger nickte. „Deshalb brauchen wir die Hilfe eines

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