Hab' mich lieb, kleiner Mann: Mami 1942 – Familienroman
Von Gisela Reutling
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Über dieses E-Book
Es begann alles mit einer Orange, deren Hülle aus dünnem Papier sich Anita zufälligerweise anschaute. San Rocco, Italien, stand darauf. Versunken strich Anita das Papier glatt. Ihre Mutter stammte aus San Rocco. Ihre zärtliche, schöne Mutter, die so früh gestorben war. Wie oft hatte diese ihrem kleinen Mädchen von dem sonnigen Land ihrer Kindheit erzählt, von dem weißen, säulengeschmückten Elternhaus zwischen Zypressen und Camelienbäumen. Die Mama, ihre Mamina, tat das in ihrer Sprache, die das Kind Anita spielend von ihr erlernte. Klang sie doch melodisch wie Musik aus ihrem Mund! Und war ihr Name nicht schon Musik: Julietta. »Warum fahren wir nicht einmal zu dem weißen Haus, Mamina?« hatte sie gefragt. Da war die Mutter still geworden. Sie hatte an ihr vorbeigesehen in unbestimmte Fernen. »Die Türen würden uns verschlossen bleiben«, war es leise und traurig über ihre Lippen gekommen. »Sogar meine Briefe sind ungeöffnet zurückgegangen.« Das Kind konnte das noch nicht verstehen. Aber es wagte auch nicht weiter zu fragen, weil es schon merkte, daß dann immer ein Schatten über das geliebte Gesicht fiel. Anita war zehn Jahre, als eine schwere Krankheit die Mutter dahingerafft hatte. In ihrem großen Schmerz war San Rocco doch der Ort ihrer einsamen Kinderträume geblieben.
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Buchvorschau
Hab' mich lieb, kleiner Mann - Gisela Reutling
Mami
– 1942–
Hab' mich lieb, kleiner Mann
Das Schicksal Sebastians rührt zu Herzen
Gisela Reutling
Es begann alles mit einer Orange, deren Hülle aus dünnem Papier sich Anita zufälligerweise anschaute. San Rocco, Italien, stand darauf. Versunken strich Anita das Papier glatt. Ihre Mutter stammte aus San Rocco. Ihre zärtliche, schöne Mutter, die so früh gestorben war. Wie oft hatte diese ihrem kleinen Mädchen von dem sonnigen Land ihrer Kindheit erzählt, von dem weißen, säulengeschmückten Elternhaus zwischen Zypressen und Camelienbäumen. Die Mama, ihre Mamina, tat das in ihrer Sprache, die das Kind Anita spielend von ihr erlernte. Klang sie doch melodisch wie Musik aus ihrem Mund! Und war ihr Name nicht schon Musik: Julietta.
»Warum fahren wir nicht einmal zu dem weißen Haus, Mamina?« hatte sie gefragt.
Da war die Mutter still geworden. Sie hatte an ihr vorbeigesehen in unbestimmte Fernen. »Die Türen würden uns verschlossen bleiben«, war es leise und traurig über ihre Lippen gekommen. »Sogar meine Briefe sind ungeöffnet zurückgegangen.«
Das Kind konnte das noch nicht verstehen. Aber es wagte auch nicht weiter zu fragen, weil es schon merkte, daß dann immer ein Schatten über das geliebte Gesicht fiel.
Anita war zehn Jahre, als eine schwere Krankheit die Mutter dahingerafft hatte. In ihrem großen Schmerz war San Rocco doch der Ort ihrer einsamen Kinderträume geblieben.
Bis sie aufhörte, ein Kind zu sein und der Vater ihr in einer stillen Stunde von jenen Dingen erzählte.
Als Student war er einst mit ein paar Freunden zu einer Italienreise aufgebrochen. In San Rocco war Thomas Henschel geblieben, er hatte die anderen weiterziehen lassen. Denn dort war es gewesen, daß er ein Mädchen gesehen hatte, das ihm in seiner Schönheit und Anmut unvergleichbar erschien. Er lernte sie kennen, und auch sie verliebte sich in ihn. Und das war mehr als Verliebtheit, auf beiden Seiten. Es war, als wären sie von Anbeginn füreinander bestimmt.
Doch Juliettas Mutter, die Witwe Casal, der das Landgut gehörte, hatte andere, ehrgeizige Pläne. Sie setzte alles in Bewegung, um die Heirat ihrer einzigen Tochter mit dem Fremden, dem ›hergelaufenen Studenten‹ zu verhindern. Davonscheren sollte er sich!
Julietta war stolz und mutig. »Die Madonna schützt die Liebenden«, sagte sie. »Alles wird gut werden.«
Als die Mutter in ihrer Unbeugsamkeit sie schließlich vor die Entscheidung stellte, gab sie Heimat und Elternhaus auf und folgte dem geliebten Mann. Sie hoffte, daß die Zeit alle Wunden heilen würde und mochten auch Jahre um Jahre darüber vergehen.
Aber nicht genug Zeit war Julietta geblieben:
Eigentlich sollte sie doch einmal nach San Rocco fahren, ging es Anita durch den Sinn, während sie mit Bedacht die Orange zerteilte. Nicht, daß sie der harten alten Frau begegnen wollte, die ihre Großmutter war. Das gewiß nicht. Aber sie wollte die Wege gehen, die ihre Mutter einst gegangen war. Sie würde sich nicht allein dabei fühlen. Das Mädchen, das Julietta geheißen hatte, würde in ihren Vorstellungen lebendig werden und um sie sein.
Dieser Gedanke setzte sich in Anita fest, nahm mehr und mehr Gestalt an. Ganz warm wurde ihr dabei.
Die Ferien standen vor der Tür. Im August schloß Dr. Rösener seine Praxis, bei dem sie seit zwei Jahren Sprechstundenhilfe war. Sie hatte noch keine besonderen Pläne dafür gemacht. Rainer, ihr Freund, mußte arbeiten. Das Staatsexamen rückte näher, mit dem er sein Ingenieurstudium abschließen wollte. Da war an Urlaub nicht zu denken.
Der Vater würde freilich Augen machen, wenn sie ihm von ihrem Vorhaben erzählte. Aber vielleicht würde er sie verstehen. Sie hatten sich doch immer gut verstanden. Auch in den Jahren, in denen sie allein gewesen waren. Vier lange Jahre, bis er wieder geheiratet hatte. Sie, die Vierzehnjährige, brachte es nicht fertig, zu der neuen Frau Mama oder Mutti zu sagen.
»Sag einfach Marianne zu mir«, hatte diese ihr vorgeschlagen. »So, als wäre ich eine ältere Freundin von dir.«
Und so wurde ihr Verhältnis dann allmählich auch. Dazu trug bei, daß ihr Vater, der viel zu ernst und zu ruhig für seine Jahre geworden war, sich mit Marianne wieder dem Leben zuwandte, auch wieder lachen und froh sein konnte. Sie lebten in Eintracht und Harmonie zusammen in dem hübschen Reihenhaus. Was blieb ihnen noch zu wünschen übrig!
An diesem Abend, es war ein Mittwoch und sie hatte ihren freien Nachmittag gehabt, sagte Anita es ihrem Vater, daß sie nach San Rocco fahren wollte.
»Was willst du denn in San Rocco?« fragte er stirnrunzelnd, und es war, als käme ihm das Wort nur schwer über die Zunge.
»Den Spuren von Maminas Kindheit folgen«, erklärte Anita. »Sehen, wo sie gespielt hat, wo sie in die Schule gegangen ist.«
»Wozu soll das gut sein?« hielt ihr der Vater etwas schroff entgegen. »Deine Großmutter wird dich nicht mit offenen Armen aufnehmen.«
»So weit denke ich gar nicht, Papa. Sie mag meine Großmutter sein, aber ich kann sie nicht als solche betrachten. Für mich ist sie eine Fremde und wird eine Fremde bleiben, weil sie Mamina mit unbegreiflicher Härte von sich gestoßen hat. Ich werde mich ihr bestimmt nicht zeigen.«
Grübelnd sah Thomas Henschel seine Tochter an. Die haselnußbraunen Locken, das herzförmige Gesicht mit der kleinen geraden Nase und dem vollen, schöngeschwungenen Mund. »Aber du siehst deiner Mutter sehr ähnlich«, brachte es hervor. Nur die helleren Augen, die hatte sie von ihm.
Anita hob die Schultern. »Wem sollte das auffallen, nach drei-, vierundzwanzig Jahren«, widersprach sie. »Niemand wird sich mehr an die alte Geschichte erinnern.«
»Wenn du dich da nicht täuschst«, meinte der Vater. Es legte sich ihm sichtlich schwer auf die Seele, daß da etwas aufgerührt werden sollte, über das der Mantel des Vergessens gebreitet worden war.
Könnte er es ihr nur ausreden! Aber er kannte seine Anita. Sie hatte ihren eigenen Kopf.
Marianne Henschel, die bis dahin schweigend der Unterhaltung gefolgt war, sprang ihrer Stieftochter bei.
»Ich würde mir darüber nicht zu viele Gedanken machen, Thomas«, sagte sie. »Wenn Anita sich die Heimat ihrer Mutter nun einmal als Urlaubsziel auserkoren hat, dann laß sie doch. Als Urlauberin wird sie eine von vielen sein. Wer schert sich schon um die Vergangenheit in dieser schnellebigen Zeit.«
Der Mann verzog den Mund ein wenig. »Halten kann ich sie sowieso nicht.«
Anita sprang auf und setzte sich auf die Sessellehne ihres Vaters.
»Ich werde mir vorstellen, Papi, wie du als junger Mensch dort gegangen bist und dich in meine schöne Mama verliebt hast. Ich kann gar nicht wie sie aussehen, denn ich bin nur ein Mädchen wie hunderttausend andere«, behauptete sie schmeichelnd.
Auch ihr Freund hatte allerhand Einwände, wenn auch natürlich aus anderen Gründen.
»Italien! Im August!« rief er aus. »Wenn sie wie in einer Sardinenbüchse am Strand liegen. Schrecklich.«
»San Rocco liegt nicht am Meer, sondern im Hinterland«, berichtigte sie ihn und trank von dem Mineralwasser, das er auf den Tisch gebracht hatte. Die darauf liegenden Bücher hatte er beiseite geschoben. Viel Platz war nicht gerade in seiner Einzimmerwohnung.
»Um so schlimmer«, befand er auf ihre Worte hin. »Da wird die Hitze überhaupt nicht auszuhalten sein.«
Anita lachte ihn aus. »Du willst es mir ja nur verleiden, weil du daheim hocken bleiben und büffeln mußt!«
»Kein bißchen Mitleid hat dieses kaltherzige Weib mit mir«, grollte Rainer Kampen. »Hab’ ich nicht genug um die Ohren, daß ich mir auch noch Sorgen um dich machen muß?«
»Sorgen?« Anita beugte sich etwas vor auf ihrem Stuhl. »Was mußt du dir um mich denn für Sorgen machen?«
»Na ja, wenn du wochenlang allein verreisen willst. Was kann da alles passieren.«
»Du schwingst hier Reden wie aus dem vorigen Jahrhundert, mein Lieber«, sagte