Der Moment der Wahrheit: Der Bergpfarrer 209 – Heimatroman
Von Toni Waidacher
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Über dieses E-Book
Diese Serie enthält alles, was die Leserinnen und Leser von Heimatromanen interessiert.
Jessica stand an der Tür und tat etwas, das eine Komtess normalerweise nicht machte – sie lauschte! »Meinst du nicht, wir hätten das arme Kind etwas schonender darauf vorbereiten sollen?«, hörte sie ihre Mutter fragen. »Unsere Tochter ist alt genug«, antwortete der Vater. »Und sie weiß seit Jahren, was von ihr erwartet wird.« Das Herz der Komtess schlug bis zum Hals hinauf. Sie presste die eilig gepackte Reisetasche an sich und hielt den Atem an. »Diese Hochzeit ist seit Jessicas Geburt beschlossene Sache«, fuhr der Graf fort. »Und ein Greifenfels steht zu seinem Wort.« »Ja, natürlich. Aber es wäre doch schöner gewesen, wenn die Kinder Zeit gehabt hätten, sich erst einmal kennenzulernen«, sagte Gräfin Alexandra. »So aber werden sie doch beide praktisch ins kalte Wasser gestoßen.« Albert Graf Greifenfels räusperte sich. »Meine Liebe«, meinte er zu seiner Frau, »ich denke, du dramatisierst das Ganze ein wenig. Was geschieht denn schon groß? Unsere Tochter heiratet, wie es sich gehört, standesgemäß, den Sohn einer befreundeten Familie.
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Buchvorschau
Der Moment der Wahrheit - Toni Waidacher
Der Bergpfarrer
– 209–
Der Moment der Wahrheit
Drum prüfe, wer zu wem gehört ...
Toni Waidacher
Jessica stand an der Tür und tat etwas, das eine Komtess normalerweise nicht machte – sie lauschte!
»Meinst du nicht, wir hätten das arme Kind etwas schonender darauf vorbereiten sollen?«, hörte sie ihre Mutter fragen.
»Unsere Tochter ist alt genug«, antwortete der Vater. »Und sie weiß seit Jahren, was von ihr erwartet wird.«
Das Herz der Komtess schlug bis zum Hals hinauf. Sie presste die eilig gepackte Reisetasche an sich und hielt den Atem an.
»Diese Hochzeit ist seit Jessicas Geburt beschlossene Sache«, fuhr der Graf fort. »Und ein Greifenfels steht zu seinem Wort.«
»Ja, natürlich. Aber es wäre doch schöner gewesen, wenn die Kinder Zeit gehabt hätten, sich erst einmal kennenzulernen«, sagte Gräfin Alexandra. »So aber werden sie doch beide praktisch ins kalte Wasser gestoßen.«
Albert Graf Greifenfels räusperte sich.
»Meine Liebe«, meinte er zu seiner Frau, »ich denke, du dramatisierst das Ganze ein wenig. Was geschieht denn schon groß? Unsere Tochter heiratet, wie es sich gehört, standesgemäß, den Sohn einer befreundeten Familie. Ich weiß wirklich nicht, warum darüber so ein großes Aufhebens gemacht werden muss.«
Die hübsche Tochter des Grafen schluckte.
Jessica Komtess Greifenfels war zweiundzwanzig Jahre alt. Sie studierte derzeit noch Betriebswirtschaft, war aber dem Vater bei der Bewirtschaftung der gräflichen Ländereien, Wald- und Forstwirtschaft, der Schnapsbrennerei und der Brauerei schon eine wertvolle Hilfe. Jessica hatte ein klares apartes Gesicht, das zurückhaltende Eleganz ausstrahlte. Obgleich sie sich ihrer Schönheit durchaus bewusst war, konnte man sie keineswegs als hochnäsig oder gar arrogant bezeichnen. Im Gegenteil, in der Schule hatte sie schon immer einen großen Kreis Freundinnen gehabt. Die Lehrer lobten stets ihr soziales Engagement, weil sie sich vehement für andere einsetzte. Das war auch später auf dem Internat in der Schweiz so und änderte sich auch nicht, als Jessica ihr Studium begann. Sie war beliebt und kam mit jedem gut aus.
Jetzt aber war für sie eine Welt zusammengebrochen, als ihr Vater sie an diesem Morgen, nach dem Frühstück, an etwas erinnerte, das Jessica längst vergessen hatte.
Tatsächlich hatte sie seit Jahren nicht mehr an diese absonderliche Verabredung gedacht, die ihr Vater seinerzeit mit Friedrich Graf Falkenried getroffen hatte. Durch die Vermählung der Komtess mit dessen Sohn, Christian, sollten die traditionell engen Bande zwischen beiden Familien noch enger geschlossen werden.
In all den Jahren hatten sich die Kinder indes nie richtig kennengelernt, ihre letzte Begegnung lag mehr als zehn Jahre zurück, und die Hochzeit war auch nie ein Thema mehr gewesen. Jessica dachte auch überhaupt noch nicht daran, sich jetzt schon für immer zu binden, und das hatte sie ihrem Vater bei der Auseinandersetzung auch deutlich gesagt.
»Himmel, jetzt sei nicht so störrisch!«, war alles, was Graf Albert daraufhin gesagt hatte. »Friedrich hat mein Wort. Wie stehe ich denn da, wenn du dich weigerst?«
Die Komtess hatte nichts darauf erwidert, sondern war aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters gegangen und nach oben gelaufen, wo sie zwei geräumige Zimmer im ersten Stock des Schlosses bewohnte.
Noch während sie die Treppe hinaufhastete, stand ihr Entschluss fest – sie würde fortgehen!
Zumindest so lange, bis ihr Vater eingesehen hatte, dass sie niemals gegen ihren Willen heiraten würde.
Während sie packte, überlegte Jessica, wohin sie überhaupt wollte. Sie hatte keine Ahnung. Eine ihrer zahlreichen Freundinnen anzurufen und bei ihr unterzukriechen war ein erster Gedanke. Aber abgesehen davon, dass die meisten von ihnen jetzt, in den Semesterferien, ohnehin nicht zuhause waren, würden ihre Eltern bei ihnen zuerst nach ihrer Tochter suchen.
Ein wenig, das wusste die Komtess, hatte sie die Mutter auf ihrer Seite. Aber Alexandra Gräfin Greifenfels musste sich doch letztendlich dem Willen ihres Mannes beugen.
Jessica lauschte noch einen Moment, doch die Stimmen der Eltern waren leiser geworden und durch die verschlossene Tür nicht mehr zu hören. Sie wandte sich um und eilte den langen Flur entlang, zur Treppe, die sie hastig hinunterlief.
Glücklicherweise begegnete ihr niemand von den Bediensteten. Jessica hätte womöglich noch eine Erklärung bieten müssen. Zumindest die alte Franzi, ihre frühere Kinderfrau, hätte wissen wollen, wohin die Komtess zu dieser Stunde mit der Reisetasche wollte.
Ungesehen durchquerte Jessica die Halle mit den Bildern der Ahnen und erreichte den Ausgang. Sie ging die große Freitreppe hinunter und wandte sich nach rechts. In einer alten Remise standen die Fahrzeuge der gräflichen Familie. Darunter auch ihr kleiner Sportflitzer, den der Vater ihr zum achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Er war knallrot, brachte es locker auf zweihundertzwanzig Spitze und war Jessicas ganzer Stolz. Aufatmend ließ sie sich in den weißen Ledersitz fallen und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Der Motor brummte leise, als Jessica Gas gab und langsam über den geharkten Weg rollte, der zum Tor führte. Sie betätigte die Fernbedienung, die immer in der Ablage unter
dem Armaturenbrett lag, und das schmiedeeiserne Tor schwang auf.
Die hübsche Komtess atmete auf, sie hatte zwar noch keine Ahnung, wohin sie eigentlich wollte, als sie auf die Straße einbog, aber: Hauptsache, erst einmal weg!
*
Zuerst überlegte sie, in die Schweiz zu fahren. Dort hatte sie immer noch Freundinnen wohnen, die sie aus der Zeit im Internat kannte. Aber sicher würden ihre Eltern da zunächst suchen, wenn sie bei den Bekannten ihrer Tochter in Deutschland nicht fündig geworden waren.
Jessica fuhr erst einmal etliche Kilometer, ohne weiter nachzudenken. Und je weiter sie sich vom Schloss entfernte, um so besser fühlte sie sich. In der Reisetasche befanden sich nur ein paar wenige Dinge, die sie in aller Eile zusammengesucht hatte. Was sie noch brauchen würde, konnte sie unterwegs kaufen. Glücklicherweise verfügte sie über ein persönliches Konto, auf dem ein respektables Guthaben verzeichnet war, so dass es zu keinem finanziellen Engpass kommen konnte.
Nachdem sie getankt hatte, trank Jessica einen Kaffee und schaute dabei auf die Landkarte, die in einem Kasten vor der Tür der Tankstelle hing. Erstaunt stellte sie fest, dass sie schon zweihundert Kilometer zurückgelegt hatte. Beinahe amüsiert dachte sie an die Aufregung, die jetzt möglicherweise schon im Schloss herrschte, wenn man ihr Verschwinden bemerkt hatte. Das war durchaus möglich, denn vor einer Stunde hätte sie mit ihrem Vater in die Brauerei fahren sollen. Der Absatz der Premiummarke, »Schloss Greifenfels Pilsener«, stagnierte seit geraumer Zeit, und zusammen mit Werbefachleuten und Angestellten aus der Brauerei wollte man überlegen, wie dem Abhilfe geschaffen werden konnte. Sicher hatte der Vater nach ihr schicken lassen, und Sabine, das Hausmädchen, hatte vergeblich an die Tür zu Jessicas Zimmer geklopft. Dann war sie hineingegangen, nachdem sie es noch einmal probiert hatte, vielleicht vorher zaghaft den Namen der Komtess gerufen hatte, und dann feststellen musste, dass nicht nur die Tochter des Hauses verschwunden war, sondern mit ihr auch Kleider und Sachen aus dem Bad.
Jessica unterdrückte ein Lachen und kehrte noch einmal zu der Landkarte zurück. Sie schaute auf die Ortschaften der nächsten Umgebung und wählte eine davon auf gut Glück aus.
St. Johann war ein hübscher Name, fand sie, also würde sie sich den Ort anschauen, und wenn er ihr gefiel, eine Weile dort bleiben. Vielleicht, hoffte die Komtess, hatte sie ja mit ihrem Weglaufen zuhause etwas bewegt, und der Vater würde schon bald einsehen, dass es einfach unsinnig war,