Kleine Belinda, du bleibst nicht allein: Mami 2042 – Familienroman
Von Myra Myrenburg
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»Darf ich das Auto aus der Garage fahren?« fragte Marius und richtete seine Blicke beschwö-rend auf seine Mutter. Ada tat so, als habe sie nichts gehört. Bevor sie über eine Antwort überhaupt nachdachte, mußte sie sicher sein, daß weder Engelbert noch Madeleine in der Nähe waren. »Paps ist schon weg«, ließ sich Marius, der Schlaumeier vernehmen. Ada streifte ihn mit einem halb belustigten, halb beunruhigten Blick. Es gefiel ihr nicht, daß er sie durchschaute, als ob sie aus Glas wäre. Er war ihr Sohn, ihr einziges Kind, und er war gerade fünfzehn Jahre alt. An diesem Morgen im Juni trug er die marineblaue Schuluniform des Internationalen Gymnasiums für Jungen, das ein katholischer Orden in der nordafrikanischen Stadt Casablanca eingerichtet hatte. Der Unterricht begann in der Regel morgens um acht Uhr fünfzehn. Jetzt war es halb acht. Ada betrachtete ihn mit mütterlichem Stolz. Er war groß für sein Alter und etwas schlaksig. Bald würde er ihr über den Kopf wachsen. Seine Haut war sonnengebräunt, sein Haar glänzend hellbraun und ein paar Zentimeter zu lang. Aber das Schönste an ihm waren seine Augen, lichtgrau mit einem schwarzen Kreis um die Pupille. Sie waren absolut einmalig. »Bitte, Mutz, laß mich doch«, bettelte er, und als sie nicht antwortete, fügte er mit der ihm eigenen Intensität hinzu: »Du weißt doch – ich kann fahren.«
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Buchvorschau
Kleine Belinda, du bleibst nicht allein - Myra Myrenburg
Mami
– 2042 –
Kleine Belinda, du bleibst nicht allein
Wir wollen deine Eltern sein
Myra Myrenburg
»Darf ich das Auto aus der Garage fahren?« fragte Marius und richtete seine Blicke beschwö-rend auf seine Mutter.
Ada tat so, als habe sie nichts gehört. Bevor sie über eine Antwort überhaupt nachdachte, mußte sie sicher sein, daß weder Engelbert noch Madeleine in der Nähe waren.
»Paps ist schon weg«, ließ sich Marius, der Schlaumeier vernehmen. Ada streifte ihn mit einem halb belustigten, halb beunruhigten Blick. Es gefiel ihr nicht, daß er sie durchschaute, als ob sie aus Glas wäre. Er war ihr Sohn, ihr einziges Kind, und er war gerade fünfzehn Jahre alt. An diesem Morgen im Juni trug er die marineblaue Schuluniform des Internationalen Gymnasiums für Jungen, das ein katholischer Orden in der nordafrikanischen Stadt Casablanca eingerichtet hatte. Der Unterricht begann in der Regel morgens um acht Uhr fünfzehn.
Jetzt war es halb acht.
Ada betrachtete ihn mit mütterlichem Stolz. Er war groß für sein Alter und etwas schlaksig. Bald würde er ihr über den Kopf wachsen. Seine Haut war sonnengebräunt, sein Haar glänzend hellbraun und ein paar Zentimeter zu lang. Aber das Schönste an ihm waren seine Augen, lichtgrau mit einem schwarzen Kreis um die Pupille.
Sie waren absolut einmalig.
»Bitte, Mutz, laß mich doch«, bettelte er, und als sie nicht antwortete, fügte er mit der ihm eigenen Intensität hinzu: »Du weißt doch – ich kann fahren.«
»Aber du bist erst fünfzehn«, seufzte sie, und das triumphierende Aufleuchten in seinen Augen sagte ihr, was sie selbst noch gar nicht wußte, daß sie bereits weich wurde.
»Im Oktober werde ich sechzehn«, warf er eilig ein, »dann kann ich den Führerschein machen.«
»Kannst du nicht.«
»Doch! Ich brauche nur eine Sondergenehmigung.«
»Aha. Und woher willst du die nehmen?«
Er leuchtete sie mit seinen schönen Augen an und lächelte entwaffnend.
»Du wirst das schon regeln, Mutz. Es ist nur ein Klacks.«
Er machte eine wegwerfende Handbewegung und sprang auf.
»Also, ich gehe dann jetzt runter in die Garage und fahre den Wagen raus. Okay?«
Ada knüllte ihre Serviette zusammen. Sie sagte nicht ja und nicht nein. Unklar war sie sich bewußt, daß dieses verwaschene Verhalten im Umgang mit Jugendlichen strikt abzulehnen war. Aber für eine klare Entscheidung hätte sie mehr Zeit gebraucht, und eine Ablehnung hätte sie noch dazu ausführlich begründen müssen.
Die zierliche Pendule unter dem Glassturz auf der Anrichte zeigte viertel vor acht. Made-
leines hagere Gestalt in einem geblühmten Kleid erschien wie ein Geist hinter den gläsernen Wänden, die den inneren Wohnbereich von der Frühstücksterrasse trennten. Sie tippte mit dem Zeigefinger auf die Armbanduhr an ihrem Handgelenk und hob warnend die dünn gestrichelten Augenbrauen.
Ada nickte ihr zu, stand auf und ging hinüber in die luftigen Schlafräume. Die Vorhänge, in kühlen Blautönen gehalten, bauschten sich in der Morgenbrise.
Im Surren des Ventilators, der an der hohen Decke des großen Zimmers kreiste, ging das Geräusch des Motors unter. Die Garage lag neben dem Seiteneingang des weitläufigen Hauses, das der deutsche Boschafter Engelbert von Heskell mit seiner Familie im Diplomatenviertel von Casablanca bewohnte. Sein Amtssitz befand sich in einer anderen stadteinwärts gelegenen Gegend, die für Besucher, Antragsteller und gestrandete Existenzen leichter zu erreichen war.
Ada bürstete sich mechanisch ihr kunstvoll gelocktes dunkelbraunes Haar, besprengte sich mit einem dezenten Duftwasser und legte mit geschickter Hand ihr Tages-Make-up auf. Sie trug bereits ihre Berufskleidung: taubenblaues, wadenlanges Seidenkostüm und halbhohe dunkelblaue Sandaletten. Farblich dazu passend die beutelförmige Handtasche und das Aktenköfferchen mit ihren aufgeprägten Initialen: A. v. H. So. Fertig.
Der Tag konnte beginnen.
Irgendwo in den Tiefen des Hauses hörte man Madeleine laut lamentieren. Ihre Stimme steigerte sich zu einem schrillen Diskant.
Es ging um Marius. Wie so oft. Je älter Madeleine wurde, um so weniger Verständnis hatte sie für den heranwachsenden Jungen, dessen Kinderfrau sie einst gewesen war. Aber eigentlich hatte sie immer schon nach der Haushaltsführung getrachtet und war erst zufrieden gewesen, als Ada sie mit der Oberaufsicht über das Personal betraut hatte.
»Mit ihm wird es einmal ein böses Ende nehmen!« rief Madeleine und raufte sich die graugesträhnten Haare.
Ada beugte sich über die Brüstung des Schlafzimmerbalkons und versuchte, den Anlaß für die Aufregung irgendwie herunterzuspielen.
»Na, na, na«, sagte sie lässig, »falls es darum geht, daß Marius meinen Wagen aus der Garage gefahren hat…«
»Übernehmen Sie die Verantwortung dafür, Madame«, ergänzte Madeleine achselzuckend mit bitterem Unterton, und herausfordernd fügte sie hinzu: »Haben Sie ihm vielleicht auch erlaubt, eine Spritztour durch Ca-sablanca zu machen? Und wie wollen Sie das der Polizei erklären und dem Herrn Botschafter?«
»Unsinn. Davon kann keine Rede sein! Er sollte nur den Wagen aus der Garage fahren.«
»Das höre ich nun schon zum zweiten Mal«, ereiferte sich Madeleine, »aber Tatsache ist, daß Marius weggefahren ist, wir alle haben es gesehen, der Gärtner, der Koch, der Zeitungsjunge –«
Ada, immer noch über die Brüstung gebeugt, schrak zurück. Lieber Gott im Himmel! Dieser Bengel mit seiner Leidenschaft für alles, was Räder hatte! War es denn möglich, daß ihn ein Rausch ergriffen hatte?
Es war zehn Minuten nach acht. Wie sollte er noch pünktlich zur Schule kommen? Und sie selbst? Sie hatte um neun Uhr einen Termin mit der Baubehörde, den sie bereits im Geiste abzusagen begann.
Unten erhob sich neues Geschrei, Bremsen quietschten, ein Motor heulte auf und wurde abgewürgt.
»Ja, ja, ja, ich weiß, wie spät es ist«, hörte man eine ungeduldige junge Stimme rufen, »reg dich doch nicht immer so auf, Made-leine.«
Kein Zweifel: der Sohn des Hauses war soeben wieder eingetroffen.
Ada straffte sich. Jetzt wäre eine Standpauke fällig gewesen. Sofort an dieser Stelle. Aber zuerst mußte sie Pater Josef im Gymnasium anrufen und ihm erklären, daß sie ein Problem mit dem Auto hatte und Marius daher leider später käme.
Dann ging sie hinunter. Made-leine hatte sich zurückgezogen. Der Koch und der Gärtner waren verschwunden. Im Haus war es still geworden.
Vor der Garage im offenen
cremeweißen Sport-Cabriolet seiner Mutter, das wahrscheinlich jeden jugendlichen Auto-Fan in Versuchung geführt hätte, saß Marius auf dem Beifahrersitz.
»Verzeih mir«, bat er leise.
»Daß du mir so was nicht noch einmal antust«, sagte Ada so streng, wie es ihr irgend möglich war, aber Marius’ feinem Ohr entging das unterdrückte Lachen in ihrer Kehle nicht.
»Ganz bestimmt nicht, Mutz. Aber dieses Auto hat ein Eigenleben.«
»Ach, wirklich?«
»Ja,