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Die Niebelsaga: Roman nach Motiven des Nibelungenliedes
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eBook263 Seiten3 Stunden

Die Niebelsaga: Roman nach Motiven des Nibelungenliedes

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Über dieses E-Book

Das Bankhaus Niebel gerät in den Strudel der globalen Bankenkrise, aber weder Siggi de Castro, der zynisch-depressive Schwager, noch dessen Adoptivschwester Brunhilde, die ihn jahrelang missbraucht hat, sind bereit, Günter Niebel mit dem Erbe der de Castros zu helfen. Erst Prokurist Hagen löst das Problem auf seine Weise, er inszeniert einen tödlichen Unfall, doch der Haß Hillas, der jungen Witwe, verfolgt ihn bis zum bitteren Ende. Beim Aufstieg auf die Festung Massada schlägt endlich ihre Stunde der Rache, und ihr jüdischer Freund muß hilflos zuschauen, weil auch er ein Geheimnis vor ihr verborgen hatte, das seine Familie mit den Niebels verband. Dabei hätte sein Entschluß, alte Schuld zu vergeben, vielleicht alles ändern können.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum2. Sept. 2016
ISBN9783738083118
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    Buchvorschau

    Die Niebelsaga - Eckhard Lange

    1. Der Besuch

    Ez wuohs in Burgonden ein vil edel Magedin

    daz in allen Landen nicht schöners mochte sin,

    Kriemhilt geheizen. Sie wart ein schöne Wip,

    dar umbe muosen Degene vil verliren den Lip

    (aus dem Nibelungenlied)

    Er stand eines Tages einfach vor der Tür. Hallo! Ich bin der Siggi. Ich bin der Freund von Hilla, sagte er zu dem etwas dicklichen jungen Mann, der ihm geöffnet hatte. Der schaute erstaunt, irritiert, befremdet. Sein fülliges Gesicht unter dem dichten, aber kurzgehaltenen Haarschopf drückte Ablehnung aus, und er hielt die Tür noch immer nur halb geöffnet, bereit, sie jederzeit wieder zu schließen. Aber der schlaksige junge Mann in künstlich gealterten Jeans, der sich Siggi genannt hatte, wand sich mühelos durch die schmale Öffnung, tauchte unter dem Arm des anderen hindurch und trat in die geräumige Halle, die düster und eichengetäfelt den Mittelpunkt der gründerzeitlichen Villa bildete.

    Ich finde sie allein. Sie hat mir den Weg bestens beschrieben, rief er über die Schulter zurück und fügte dann hinzu: Du bist doch dieser Typ von Schreibtischtäter, stimmts? Und die Verachtung für diese Menschen, die korrekt und höflich, arbeitsam und damit total langweilig waren, ließ sich deutlich heraushören. Das war der Beginn einer erbitterten Feindschaft, ehe die beiden auch nur wußten, warum sie sich bekämpfen würden, bekämpfen mußten noch über das tödliche Ende hinaus.

    Siggi und Hagen - so nämlich hieß der Türöffner: Verschiedener können Menschen kaum sein. Woher Siggi kam, was er eigentlich machte, wenn er nicht in irgend- welchen Szenekneipen oder Edeldiskos herumhing - wer wußte das schon? Nicht einmal Hilla wußte das, und doch war sie diesem jungenhaft-abschätzigen Grinsen, dieser ausschweifenden Gebärdensprache, dieser zugegebenermaßen ziemlich plumpen Anmache sofort erlegen, als er sich einfach neben sie auf einen Barhocker schwang, der eigentlich von einem ihrer Freunde besetzt war. Sie hatte auch anstandslos seinen nicht geringen Alkoholkonsum auf ihre Rechnung genommen, weil er allzu theatralisch seine Taschen abtastete, um dann fröhlich festzustellen, daß er sein Geld wohl irgendwo anders verwahrt haben müßte als in diesen Jeans. Er kam, sie sah, er siegte - und das so nachhaltig, daß sie sich fest vornahm, beim nächsten Treffen ein paar Kondome ins Handtäschchen zu tun. Schließlich war es Sommer, und der fiel diesmal recht heiß und regenlos aus, selbst die Nächte wurden nicht richtig kühl, das Gras am Ufer des Kanals war weich und trocken, und die anderen Pärchen dort hatten ebenfalls verrutschte T-Shirts und Hosen.

    Siggi war eben einfach Siggi. Nicht einmal seinen Nachnamen kannte sie. Dafür hatte er die merkwürdige Eigenschaft, urplötzlich dazusein, wie aus dem Nichts aufzutauchen, Hallo zu sagen und dann rasch zur Sache zu kommen. Danach lagen die beiden nebeneinander, sie schwieg vor sich hin und wußte nicht, ob es richtig war, hier zu liegen; er aber konnte plötzlich weitschweifig von Dingen reden, die sie nur teilweise verstand: von Walen, die Japaner und Norweger immer noch dezimierten, obwohl sie hochentwickelte Säugetiere sind und die Jagd längst international geächtet war; von tibetischen Mönchen, die orangefarben auf der Straße saßen und von chinesischen Milizen heruntergeprügelt wurden; von Bankern, die das Geld ihrer Kleinanleger verzockten und dann aus den Verlusten Bonuszahlungen erhielten. Es klang alles so wissend, so überlegen, und doch so verworren und ohne daß man das eine mit dem anderen sinnvoll verbinden konnte. Schon gar nicht, wenn man erschöpft war von den Anstrengungen der Liebe.

    Nur bei der Erwähnung der Banker horchte sie auf, schließlich war das der Job ihres Vaters und ihres Bruders, und die Villa, die ihre Eltern bewohnten, war einmal aus dem Gewinn ihres Großvaters erworben, den er mit irgendwelchen Geschäften seines Bankhauses gemacht hatte. Daß beides einen jüdischen Vorbesitzer hatte, der es in den dreißiger Jahren zu günstigen Konditionen veräußert hatte, darüber sprach niemand in der Familie, das wußte sie wiederum nur von Hagen, und der wußte nahezu alles über ihre Familie und deren Geschäfte, schließlich war er so etwas wie der Privatsekretär ihres Vaters und wahrscheinlich längst schon etwas mehr.

    Siggi und Hagen - was für grundverschiedene Typen! Sie lag und sah den weißlichen Wolken zu, die den nächtlichen Mond verschluckten und wieder ausspien; sie dachte an Hagens mißbilligende Blicke, als ihr der Name Siggi gestern herausgerutscht war. Und sie sah dieses unverschämte Grinsen in Siggis Gesicht, wenn sie Hagen erwähnte.

    Überhaupt: Siggis Gesicht! Was war daran eigentlich so attraktiv? Sie wußte es nicht. Sie blickte zur Seite: Die Nase war schmal und ein wenig zu lang, die Augen lagen eigentlich viel zu dicht nebeneinander, und die meist ungekämmten Haare setzten tief an, machten seine Stirn niedrig und flach. Nein, so richtig schön war er weiß Gott nicht, aber er konnte sie so besonders anblicken, so bedeutsam und doch fast abwesend, und dann war da seine Art, den Mund spöttisch zu verziehen, die eigentlich hochmütig war und oft auch aggressiv, die ihr aber jedesmal eine leichte Gänsehaut irgendwo auf dem Rücken verursachte - einen wollüstigen Schauer, so könnte man vielleicht sagen.

    Und Hagen? Sein Binder saß immer korrekt über dem weißen Hemd, nie hatte sie ihn in Freizeitkleidung gesehen, stets zeigte er sich in dieser langweiligen Banker- Uniform, genau wie ihr Vater und wie der Großvater: Der allerdings hatte immer noch eine Weste darunter getragen und darauf diese goldfarbene Uhrkette. Daran konnte sie sich noch erinnern, sonst war er nach seinem Tod aus ihrem Gedächtnis verschwunden, weil er ihr wenig bedeutet hatte. Und, wie sie glaubte, sie wohl auch ihm.

    Hagen dagegen hatte seine Designeruhr am Handgelenk, zwei silberne Stifte in der äußeren Brusttasche seines Sakkos, obwohl er stets mit irgendeinem Kugelschreiber schrieb, von denen überall welche herumlagen. Falls er noch schrieb, denn eigentlich ging alles Geschriebene über Tastatur und Bildschirm. Hagen ist ein richtiger Schreibtischtäter, so hatte sie zu Siggi gesagt. Woher dieser Ausdruck stammte, was er eigentlich bedeutete, war ihr nicht bewußt, wie Siggi sofort bemerkte, und er vermied es, sie aufzuklären.

    Nun also war dieser Siggi in die Festung eingedrungen, die bislang die Tochter des Hauses beschützt hatte, während ihre Operationen draußen der Familie kaum bekannt waren. Schließlich kannten sie sich nun schon drei Wochen, und da gehörte es sich, so meinte er, daß er das Innere der Burg einmal inspizierte. Und Hagen hatte es nicht verhindern können, zu überraschend kam der Angriff, und im Grunde hatte er auch nicht damit gerechnet, daß so eine flüchtige Disko-Bekanntschaft hier auftauchen würde, selbst wenn Hilla in letzter Zeit gelegentlich unverstandene Weisheiten dieses ominösen Siggi in ihren Sprachschatz aufgenommen hatte.

    Hagen stand immer noch ein wenig verwirrt an der Haustür, bevor er entschied, sie zu schließen und an seinen Arbeitsplatz zurückzugehen, ohne sich weiter um den Besucher zu kümmern. Schließlich war er nicht als Türhüter angestellt, sondern als heimlicher Hüter bestimmter Geldflüsse des Bankhauses, vor allem, soweit sie am Fiskus vorbei irgendwohin zu transferieren waren. Mochte dieser Siggi sehen, wie er im Obergeschoß zurechtkam.

    Der aber war zielbewußt auf eine der tiefbraunen Holztüren zugegangen - sein Orientierungssinn war schon immer gut ausgeprägt, auch wenn Hillas Beschreibungen manchmal nur schwer miteinander in Einklang zu bringen waren. Das unterschied sie eben: Siggi wirkte oft verwirrt oder doch verwirrend, aber er verbarg dahinter klare Ziele, die es zu erreichen galt; Hilla gab sich gerne als selbstbewußte junge Frau, klug und zielstrebig, doch in Wahrheit waren Wissen und Urteilsvermögen im Höchstfalle durchschnittlich, und im Grunde ließ sie sich treiben, genoß ihre kleinen Abenteuer, ohne wirklich zu wissen, wo der so genannnte Ernst des Lebens einsetzte. Was früher allein den Söhnen aus reichem Hause vorbehalten war, ehe sie - plötzlich wohlanständig - das ihnen zustehende Erbe antraten, das galt nun auch für die Töchter - nur daß ihre Erbschaft oft unsicher blieb.

    Siggi klopfte nicht an, drückte einfach die Türklinke herunter - sie zeigte einen stilisierten Löwenkopf, kitschig und zugleich imponierend - öffnete mit einem nachlässigen Hallo und trat ins Zimmer. Es war leer, Hilla war nicht da, doch das machte dem Besucher nichts aus. Er warf die Tür ins Schloß und sich selbst auf die penibel glattgestrichene, grün gemusterte Tagesdecke, die über ein Bett mit Messinggestell gebreitet war. Man sah, hier gab es noch Hausangestellte, die für Ordnung sorgten. Das hinderte Siggi nicht, seine Turnschuhe an den Füßen zu lassen, während er liegend die restliche Einrichtung musterte. Eine altmodische Spiegelkommode stand an der einen Seite - Gelsenkirchner Barock, dachte Siggi abschätzig, davor ein lederbezogener Würfel als Sitzgelegenheit. Sicher Erbstücke, vielleicht sogar angeeignet aus ehemals jüdischem Besitz. Einen Schrank gab es nicht, dafür versteckte Türen in der getäfelten Wand, auch hier alles in düsterer Eiche. Vor einem der beiden Fenster protzte auf andere Weise ein Schreibtisch, vollständig aus Acryl, darauf ein Laptop - Tribut an den Zeitgeist. Ein Bücherregal suchte er vergebens; Lesen schien nicht so sehr Hillas Ding. Nur ein paar Zeitschriften lagen herum, immerhin eine Ausgabe von Geo war darunter, allerdings nicht gerade die neueste, wie das Titelbild dem Kenner verriet.

    Eine Weile lag er so da, lauschte auf die Geräusche, die irgendwo im Hause entstanden und wieder erloschen, atmete den Geruch des Zimmers, der Hillas Körper mit frischem Bettzeug und altem Eichenholz mischte, atmete, horchte, wartete. Nur den obersten - nein, den einzigen Knopf seiner Jeans hatte er geöffnet, und der Reißverschluß rutschte danach selbsttätig etwa ein Drittel nach unten.

    Dann kam Hilla. Nichts wußte sie von dem Besucher, und einen Augenblick blieb sie erschrocken im Türrahmen stehen. Siggi hatte sein Gesicht abgewandt, als die Klinke heruntergedrückt wurde, und er drehte sich ihr auch nicht zu, allein ihr Geruch verriet ihm, wer dort geöffnet hatte. Komm, sagte er. Nur dieses einzige Wort, keine Begrüßung, keine Erklärung, nur das, was in seinen Augen notwendig war. Und das reichte an Kommunikation fürs erste. Sie schloß die Tür, drehte vorsichtshalber den Schlüssel herum, der innen steckte, streifte die Pantoletten ab, zögerte nur einen einzigen kleinen Moment und stürzte sich dann auf den Mann, der da so selbstverständlich auf ihrem Bett lag und auf sie wartete. Erst lag sie auf ihm, biß ihn in Nase und Ohrläppchen, dann drehte er sich nach oben, griff unter ihr Shirt und streifte es hoch, bis es ihr Gesicht bedeckte, sie blind dalag und in den Stoff biß.

    Keine Wolken zogen diesmal vorbei, die Nacht war rötlich von ihrem Shirt, dann spürte sie den kratzigen Stoff seiner Jeans, das Metall des Reißverschlusses auf ihrem nackten Bauch, und dann spürte sie auch seine Haut und spreizte gehorsam die Beine, um ihm Einlaß zu gewähren. Erst als alles vorbei war, zog er ihr den Stoff von Mund und Augen, und sie sah, wie er kleine Schweißperlen hatte auf der Stirn und unter der Nase.

    Es war alles so überraschend, es war irgendwie unwirklich, was da in ihrem Zimmer, inmitten der beschützenden Burg, geschehen war. Und zum ersten Mal fragte sie sich: Liebe ich ihn eigentlich, oder sind das nur andere Gefühle? Dann lagen sie schweigend nebeneinander, und auch Siggi hatte keine Weisheiten parat wie sonst, sondern legte nur ungewohnt sanft seine Hand zwischen ihre Beine und spielte ein wenig mit dem Zeigefinger - dort, wo sie empfindlich war und empfindsam. Sie ließ es geschehen und genoß es.

    Plötzlich ertönte irgendwo im Hause ein Gong. Es klang nach Tempel und Buddha, aber Hilla richtete sich erschrocken auf: Essenszeit, sagte sie, zog ihre Hose hoch und streifte das T-Shirt über. Ich muß zum Essen gehen. Und du? Er lachte, frech und aufsässig, wie es seine Art war. Was soll schon sein? Ich komme mit. Hunger habe ich schon. Ehe sie noch Einwände vorbringen konnte, hatte er seine Kleidung in Ordnung gebracht und schloß die Tür auf. Bitte, nach Ihnen, Gnädigste! Aber er ging vorweg auf den Flur. Doch dann mußte er sich ihrer Führung anvertrauen.

    Die wenigen Schritte zu dem Raum, den man in alter Tradition das Speisezimmer nannte, versuchte Hilla, ihre Kleidung und ihre Gedanken zu ordnen. Schließlich war eine Erklärung fällig, wenn sie plötzlich mit einem ungebetenen Gast erschien. Aber wieder war Siggi schneller: Als sie eintraten und sich die Augen der anderen erstaunt und fragend auf ihn richteten, sagte er wie gehabt: Hallo, ich bin der Siggi, Hillas Freund. Sozusagen ihr Verlobter. Danach herrschte Totenstille. Hilla schwieg, weil sie nicht wußte, ob er das ernst meinte, ob sie protestieren mußte, ob sie einfach lachen sollte wie über einen dummen Scherz. Ihr Vater schwieg, weil es ihm schlicht die Sprache verschlagen hatte, weil es selbst für einen Zornesausbruch zu schnell ging. Ihr Bruder schwieg, weil er mit seinen Gedanken wieder einmal anderswo war, bei irgendeinem Geschäft, und er sie erst einmal zurückholen mußte, um zu verstehen, was da ablief.

    Siggi brach als erster das gesammelte Schweigen. Er ging auf einen leeren Platz zu, sagte einfach Ich darf doch und setzte sich, ohne eine Antwort abzuwarten. Doch dann wurde er ausgesprochen höflich: Hilla hat mich eingeladen. Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich so unkonventionell - er sagte wirklich unkonventionell - hier hereinkomme. Ich hoffe, ich bereite Ihnen und der Küche keine Umstände. Und dann fügte er nach kurzer Pause hinzu: Jedenfalls freue ich mich, Sie kennenzulernen. Das mit der Verlobung war natürlich scherzhaft gemeint - zumindestens ein wenig voreilig. Wie gewählt er sich plötzlich ausdrückt, dachte Hilla. Er kann also auch anders. Und irgendwie machte sie diese Erkenntnis traurig.

    Inzwischen hatte ihr Vater sich wieder gefangen: Es war in der Tat ein wenig überraschend für uns, Herr ... Er wartete vergeblich darauf, daß Siggi ihm seinen Nachnamen verriet, darum fuhr er fort: Unsere Tochter ist gelegentlich ein wenig spontan in ihrem Verhalten. Aber das ist wohl das Vorrecht der heutigen Jugend. Natürlich sind Sie uns herzlich willkommen. Er nickte dem jungen Mann zu, und der deutete tatsächlich so etwas wie eine leichte Verbeugung an, als wäre er in der Tanzschule.

    Man legte noch ein Gedeck auf, das Hausmädchen - sie trägt doch wirklich ein schwarzes Kleid mit weißer Schürze, bemerkte Siggi und verschluckte nur mühsam eine entsprechende Bemerkung - das Hausmädchen also hatte in der Küche geschickt umdisponiert und servierte auch dem vierten an der Tafel, als hätte sie mit ihm gerechnet. Siggi suchte ihre Augen, aber sie gab ihm keine Chance. Erst beim Abräumen konnte er ein dezentes Lob anbringen, was sie jedoch nur mit einem betont gleichgültigen Dank entgegennahm.

    Das Tischgespräch - falls man es überhaupt so nennen konnte - verlief ziemlich einsilbig. Hillas Bruder schwieg weiterhin, ob nun aus Abneigung gegenüber dem Fremden oder weil seine Geschäfte ihn wieder eingefangen hatten. Hilla selbst hatte Mühe, einige belanglose Äußerungen einzuwerfen, so daß der Dialog weitgehend zwischen Siggi und dem Clanchef stattfand. Vergeblich versuchte Hillas Vater, den vollen Namen des Gastes zu erfahren, ohne direkt danach fragen zu müssen. Aber Siggi überhörte alle versteckten Anfragen, dafür gab er sich ausgesprochen friedlich, vermied alle provokativen Äußerungen, mit denen er sonst so gerne glänzte, beschränkte sich auf höfliche Gemeinplätze und wich allem aus, was über ihn selbst Rückschlüsse zuließ. Es war eine Meisterleistung nichtssagender Konversation, die er zum besten gab, und Hillas Vater registrierte das mit einer Mischung aus Ärger und Anerkennung.

    Jedenfalls waren alle froh, als das Mädchen auch die leeren Dessertschüsseln abräumte, und der Alte verzichtete sogar auf den sonst fälligen Kognak danach, hob die Tafel auf und entschuldigte sich mit dringenden Angelegenheiten. Auch sein Sohn verschwand, kaum daß er einen Gruß über die Lippen brachte. Hilla saß noch da, starrte vor sich hin und wußte nicht, wie es nun weitergehen sollte. Siggi aber hatte wieder diesen arroganten Zug um die Mundwinkel, als er plötzlich in die Stille hinein sagte: War doch ganz schön, oder? Und als sie schwieg, stand er auf und sagte ziemlich schroff: Ich glaube, ich gehe jetzt lieber.

    Hilla brachte ihn bis zur Tür und blieb dann zögernd stehen. Irgendetwas muß ich jetzt sagen, irgendetwas, was nichts kaputtmacht, dachte sie. Aber ihr fiel nichts ein. Er öffnete die Tür. Wie kommst du denn jetzt in die Stadt? fragte sie, und ihr Verlangen war unüberhörbar, dennoch traute sie sich nicht, das andere zu sagen: Soll ich dich bringen? Er gab ihr keine Chance: Mach dir keine Sorge, ich komm schon hin. Und dann, nach einem sehr flüchtigen Kuß, nur noch dies: Bis bald! Er sprang mit einem Satz über die drei Stufen hinweg auf den Kiesweg, lief, ohne sich umzuschauen, bis zur Gartenpforte und verschwand hinter der Hecke.

    Hilla stand noch ein paar Minuten in der Tür, als hoffte sie, er würde noch einmal zurückkommen. Dann ging sie hinauf in ihr Zimmer, riß die zerwühlte Tagesdecke vom Bett und trampelte darauf herum. Plötzlich hielt sie inne, kniete nieder, nahm die Decke in den Arm und wartete, bis ihr endlich die Tränen kamen.

    2. Siegfried

    Warum - warum bin ich so, wie ich bin? Warum habe ich das getan? Es ist so leicht arrogant zu sein, den Überlegenen zu spielen, wenn man es erst einmal gelernt hat. Es ist so einfach, zu reden, immer nur zu reden, um nichts Wesentliches zu sagen. Dabei übertönt die eigene Stimme die Stimme in mir, die etwas ganz anderes sagen möchte und es doch nicht vermag.

    Ich liebe dich doch, Hilla, will sie sagen. Ich will dich nicht verletzen. Ich will nur deine Nähe spüren, deine Wärme, deinen Körper. Ich will dich lachen sehen, will mich dir offenbaren, damit kein Geheimnis zwischen uns steht, damit Wahrheit ist - und dir so die Freiheit bleibt, mich zu lieben, oder auch nicht. Und ich will diese Freiheit dann aushalten, auch wenn sie wehtun könnte.

    Warum also bin ich nicht so, wie ich sein möchte? Warum verstecke ich meine Gefühle hinter dieser Maske, statt sie dir einfach zuzumuten? Warum immer wieder Tarnung statt Offenheit? Ich habe sie mir erkämpft, diese Tarnkappe, das ist wahr. Ich bin dem Bösen begegnet, habe Haß erfahren und Gewalt, und ich habe ihm diese Maske abgerungen, die die Wahrheit verbirgt, weil Wahrheit manchmal tödlich sein kann.

    Meine Erinnerung geht nicht weit genug zurück, um noch die Liebe zu spüren, die sie doch einmal empfunden haben müssen, meine Eltern, und die sie doch einmal auch mir zuteil werden ließen. Denn als mein Gedächtnis seine Aufzeichnungen begann, da berichtet es nur noch von Streit, von haßerfülltem Schweigen, immer wieder abgelöst von ebenso haßerfülltem Wortgefecht. Was mir damals blieb, war die Flucht - fort aus dem Teufelskreis dieser ewigen Schlacht, dieser ständig gekreuzten Klingen, irgendwohin, wo Stille war: ins Kinderzimmer zunächst und unter die Kissen, später dann in das Baumhaus im Garten, wo nur eine Drossel ihren Gesang gegen die mißtönenden Wortkaskaden aus dem Mund der Eltern setzte. Und endlich in eine mythische Welt, fernab aller Wirklichkeit, wohin mich meine Fantasie entführte - und wo ich endlich Mittelpunkt sein konnte, geliebt von geheimnisvollen Feen, geachtet von Baumgeistern und Faunen, gefürchtet von Riesen und Drachen. Den Drachen vor allen, die mein Zauberschwert töten konnte, wenn ich nur wollte. Es war diese Zauberwelt, die mich seither begleitet hat und die in den vielen Träumen - denen tagsüber ebenso wie in den Nächten - bis heute ihre eigenen Wirklichkeit schafft. So wurde ich zum Wanderer zwischen beiden: der inneren Wahrheit, die mich vor der Verzweiflung am Leben bewahrte, und der realen Welt, die mich kritisch werden ließ und oft genug auch zynisch, weil ich ihre Verlogenheit erfahren hatte seit frühesten Kindertagen.

    Dann kam das Ende mit Schrecken, ebenso herbeigewünscht wie gefürchtet: die Scheidung der Eltern, die Verhöre vor dem Richter, der das Kindeswohl erforschen wollte und dabei nur kaum vernarbte Wunden wieder bluten machte, und endlich die scheinbar

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