Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Wie in einem Spiegel: Roman nach Motiven der Sage von Jason und Medea
Wie in einem Spiegel: Roman nach Motiven der Sage von Jason und Medea
Wie in einem Spiegel: Roman nach Motiven der Sage von Jason und Medea
eBook302 Seiten4 Stunden

Wie in einem Spiegel: Roman nach Motiven der Sage von Jason und Medea

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Der Pharmaunternehmer Eicke Yolck wird von seinem Halbbruder Peer aus der Firma gedrängt, sein Sohn Jason dadurch um sein Erbe betrogen. Der Onkel schickt den Studenten nach Greifswald, um dort an Unterlagen über ein neu entwickeltes, hochwirksames Medikament zu kommen, und mit Hilfe von Madeleine Coldenius gelingt ihm der Diebstahl. Doch der Preis, den Madeleine dafür zahlen muß, ist hoch. Dennoch werden die Liebenden um den Erfolg betrogen. Als Jason danach mit Kristin Ohnne, Erbin einer Hotelkette, eine neue Verbindung eingeht, versucht die enttäuschte und verzweifelte Madeleine, deren Hochzeit zu verhindern, aber das kostet nicht nur sie selbst das Leben.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum8. Sept. 2016
ISBN9783738083668
Wie in einem Spiegel: Roman nach Motiven der Sage von Jason und Medea

Mehr von Eckhard Lange lesen

Ähnlich wie Wie in einem Spiegel

Titel in dieser Serie (6)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Wie in einem Spiegel

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Wie in einem Spiegel - Eckhard Lange

    DIE SAGE VON JASON UND MEDEA VORWEG

    Aison, Sohn des Kretheus, herrschte über Iolkos in Thessalien, bis er von seinem Halbbruder Pelias vom Thron gestürzt wird. Sein Sohn und rechtmäßiger Erbe Jason kommt in die Obhut des Zentauren Cheiron, der ihn mit Hingabe erzieht.

    Zum Manne geworden, kehrt Jason in seine Vaterstadt zurück und fordert sein Erbe, das Königtum über Iolkos. Pelias sagt es zu, verlangt jedoch als Bedingung, Jason möge das Goldene Vließ herbeischaffen, das – dem Gott Ares geweiht – in dessen Hain im fernen, barbarischen Kolchis bewahrt wird, von dessen König Äetas bewacht.

    So macht sich Jason auf, begleitet von vielen griechischen Helden segelt er mit dem Schiff Argo gen Osten und erreicht er endlich Kolchis. König Äetas will ihm das Vließ überlassen, verlangt jedoch nahezu unmögliche Heldentaten als Vorleistung und hofft damit, den Jüngling zu beseitigen. So soll er den Drachen töten, der das Vließ bewacht. Aber seine Tochter Medea, Priesterin und kenntnisreich in magischen Zauberkräften, entbrennt in Liebe zu dem jungen Griechen und hilft ihm, nicht nur alle Aufgaben zu erfüllen, sondern auch das Vließ zu erbeuten und damit – und mit ihr – zu entfliehen. Um die Verfolger abzuschütteln, lockt sie deren Anführer, ihren Bruder Absyrtos, in einen Hinterhalt, wo er getötet wird.

    Zurückgekehrt nach Iolkos, wird Jason erneut vertröstet, Medea aber bewirkt mit ihren Zauberkräften, dass der König stirbt. Allerdings bemächtigt sich nun dessen Sohn des Thrones, Jason und Medea müssen um ihr Leben fürchten und fliehen mit ihren beiden kleinen Söhnen nach Korinth.

    Kreon, Herrscher in Korinth, gewährt den Vertriebenen Asyl, fürchtet jedoch die Zauberkräfte Medeas. So dringt er darauf, dass Jason seine Tochter Kreusa ehelicht, Medea aber soll erneut verbannt werden. Jason willigt ein. Da sendet die tief Enttäuschte der Königstochter ein vergiftetes Kleid zur Hochzeit, Kreusa und mit ihr auch Kreon verbrennen, als sie es anlegt.

    Es war wohl erst der Tragödiendichter Euripides, der der alten Sage in seinem Drama „Medea" einen neuen Schluss anfügte: Medea, rasend vor Zorn, tötet, um den treulosen Jason zu treffen, die eigenen Kinder. Mit dieser damals sicher publikumswirksamen Ergänzung wurde aus der betrogenen und gedemütigten Fremden die düstere, grausame, ganz von Leidenschaften beherrschte Barbarin, als die sie in die europäische Überlieferung eingegangen ist.

    ERSTER TEIL: IOLKOS - KAPITEL 1

    Der Himmel hatte sich nach und nach zugezogen, aufkommende Windböen trieben das Wasser gegen die Holzpfähle, die die Uferkante stützten. An den Stegen begannen die Boote einen erregten Tanz, zerrten an den Haltetauen, während die Leinen gegen die stählernen Masten schlugen – ein vielstimmiges Konzert begann, unterlegt vom konstanten Rauschen, das der Wind in den Ohren erzeugte, begleitet vom Taktschlag der Wellen, wenn sie gegen Ufer oder Bootsrümpfe klatschten.

    Jason liebte diese Stimmen über dem Wasser, liebte den Anblick der bewegten Förde, und stets überkam ihn der Wunsch, ganz allein hinauszusegeln, durch den Meeresarm zu kreuzen auf der Suche nach der offenen See. Es war verboten, bei solchen Wetterlagen die Boote zu benutzen, zu groß war die Gefahr, dass die Jollen zu weit krängten und dabei kenterten. Und doch – wie gerne hätte er jetzt die „Nixe" losgemacht, das Vorsegel gesetzt und sich einfach vom Wind treiben lassen. Doch die Regeln waren streng, verbotenes Segeln hätte vielleicht sogar zum Schulverweis führen können, und das durfte er keinesfalls riskieren.

    Wohin hätte man ihn dann verweisen können? Er wusste es nicht. Lenorenlund war seine einzige Heimat, sein Zuhause, seitdem es dort, im Binnenland, unter den backsteinernen Türmen seiner Geburtsstadt, kein Zuhause mehr gab für ihn. In der hellen Gründerzeitvilla zwischen der lindenbestandenen Allee und dem weiten Wasserspiegel der aufgestauten Wakenitz war kein Platz für ihn, dort hatte sich Peer Yolck, der Halbbruder seines Vaters, eingenistet. Die Mutter war nun schon lange tot, und der Vater hatte sich – beleidigt und enttäuscht, ja, wohl auch betrogen und getäuscht – leicht verdrängen lassen. Ein kleines Zimmer im Altersstift am Stadtpark genügte ihm, nichts hatte er mitgenommen außer seinen Erinnerungen, die ihm die Gegenwart zur Qual machten.

    Selten nur verließ Eike Yolck das Haus, um wenige Schritte in den Park hinein zu tun, nie aber ging er weiter bis zur Allee, die den Park nach Westen hin begrenzte. Nie mehr wollte er einen Blick auf jenes Haus werfen, in dem nun der Bruder Hof hielt und Unternehmer, Künstler oder Lokalpolitiker zu seinen Festen lud. Es war einsam geworden um Eike Yolck, den einst so erfolgreichen Unternehmer, und auch von Jason, dem einzigen Sohn, der doch sein Erbe hätte werden sollen, erhielt er nur hin und wieder eine Postkarte mit nichtssagenden Grüßen. Der Bruder war es, der dem Sohn den Aufenthalt in Lenorenlund finanzierte, er hatte ihn dort untergebracht und damit aus der Nähe des Vaters vertrieben – auch aus der Nähe des Werks am Südrand der Stadt, das nun sein Werk war. Und er brüstete sich noch damit, dem Neffen diese gute, aber eben doch kostspielige Ausbildung zu ermöglichen.

    Wohin also hätte Jason gehen können, wo er nicht einmal in den Ferien in die Heimatstadt zurückkehrte, sondern es vorzog, als einer der wenigen Schüler im Internat zu bleiben – so wie auch jetzt in diesen schulfreien Herbstwochen. Hier war sein Zuhause, hier waren die Menschen, mit denen er reden konnte, denen er sein Vertrauen schenkte und die ihm vertrauten. Hier waren die Mitschüler, die Erzieher, die Lehrer, hier war seine ganze kleine Welt. Und die große Welt – das war dort zu seinen Füßen, das war das Wasser, die Weite der Förde, und weiter draußen die See; das war der Himmel darüber und die Wälder hinter dem Schloß, in dem das Internat seinen Mittelpunkt hatte.

    Jason saß auf dem Steg, er hatte die Füße auf die flache Reling der „Nixe gestützt und spürte dem Schaukeln des Bootes nach. Die ersten Tropfen fielen, aber das störte ihn wenig. Er war die Nässe gewöhnt, wenn er die Jolle gegen den Wind drehte und Spritzwasser ins Boot schlug. „Sie sollten sich lieber ein trockeneres Plätzchen aussuchen für Ihre Träumereien, Jason, sagte plötzlich eine vertraute Stimme hinter ihm. Er musste sich nicht umdrehen. Es war Dr. Scheer, sein Tutor, Lehrer für Naturwissenschaften am Gymnasium Lenorenlund. Es war der Mann, der ihm in den letzten Jahren zum Vater geworden war, so sehr, dass er den leiblichen Vater fast vergessen hatte – nicht einmal ein Foto besaß er von ihm, nur das Bild der Mutter bewahrte er in seinem Schreibtisch.

    Auch Dr. Scheer war nicht in die Ferien gefahren wie die meisten seiner Kollegen, auch für ihn war Lenorenlund Arbeits- und Urlaubsort zugleich. Und wenn Schüler und Lehrer Internat und Schule verlassen hatten, wenn ungewohnte Ruhe über den umliegenden Häusern lag und das Schloss bewohnerlos auf die Förde hinabblickte, dann genoss der Studienrat erst die ganze Schönheit dieser Landschaft, die er gerne durchwanderte, allein mit seinen Gedanken und seinen Ideen. Und er genoss es, diese Ideen in den leeren Labors auszuprobieren, ohne den Zwang, erklären zu müssen, allein mit seiner Neugier, seiner Lust am Experiment. Dass dann manchmal auch einer seiner Abiturienten, Jason Yolck, auftauchte und zuschaute, störte ihn wenig, denn der junge Mann erfasste stets schnell den Sinn der Anordnungen, stellte nur selten, aber dann meist kluge Fragen und war ihm so oft schon zur Hilfe gekommen, wenn er sich in den eigenen Gedanken verrannt hatte.

    Der Regen ließ noch auf sich warten, Dr. Scheer hatte sich neben seinen Schüler gesetzt und blickte ihn von der Seite an: „Sie sind der einzige, von dem ich nicht weiß, was er nach dem Abitur unternehmen wird," sagte er dann vorsichtig. Es lag ihm schon lange auf der Seele, mit dem jungen Mann über seine Zukunft zu reden. Er wusste, dass dessen Familienverhältnisse schwierig waren, dass er sonst keinerlei Gesprächspartner hatte, aber er wollte sich ihm nicht aufdrängen. Doch die Prüfungen würden in wenigen Monaten beginnen, Bewerbungen mussten rechtzeitig geschrieben werden, und die sonst unumgängliche Zeit bei der Bundeswehr schien dem Lehrer ein verlorenes Jahr, ganz abgesehen davon, dass Jason Yolck nicht zum Befehlsempfänger taugte.

    „Ich weiß es auch nicht. Jason sagte es ohne jede Emotion. Es war einfach eine Feststellung. Er hatte den Gesprächen seiner Klassenkameraden schweigend zugehört, ihre Pläne und Ziele zur Kenntnis genommen, ohne Neid, aber auch ohne Bewunderung. Er wusste, dass er einmal eine Selbstverpflichtung eingegangen war mit der Aufnahme in diese Schule, die mit den Worten begann „Ich bekenne mich zur Übernahme von Verantwortung für mich selbst... Der ganze folgende Ehrenkodex dieser Einrichtung hing damit ab von dieser einen Voraussetzung. Und jenes andere große Wort kam ihm in den Sinn, dass man andere nur lieben kann, wenn man sich selber liebt. Aber wie sollte er sich selber lieben, wenn er nirgendwo solche Liebe erfahren, vorgelebt bekommen hatte. Verantwortung für die anderen, die Mitschüler, die Gemeinschaft – ja, die hatte er gezeigt in diesen Jahren. Aber wie sollte er jetzt für sich selbst Verantwortung übernehmen, wenn er nirgends einen Weg sah, der in seine eigene Zukunft führen würde? Interessen hatte er schon, vieles reizte ihn, auch manche Studienrichtung – aber was war das Ziel für ihn selbst? Er wusste darauf keine Antwort, und er wusste niemanden, den er fragen konnte. Doch nun hatte ihn ein anderer gefragt.

    „Sollten wir vielleicht einmal darüber reden? Der Lehrer bemühte sich, genauso emotionslos zu sprechen. „Natürlich nur, wenn Sie es möchten, fügte er in gleichem Tonfall hinzu. Eine Weile herrschte Schweigen, dann nahm Jason die Füße vom Boot und zog sie an sich. „Ich weiß, irgendetwas muss geschehen. Und es muss wohl auch bald geschehen, sagte er. „Wenn schon nicht mir, dann bin ich es doch der Schule schuldig. Dr. Scheer nickte: „Und die Schule will Ihnen auch helfen. Manchmal ist es nicht leicht, allein den richtigen Weg zu finden. Gehen müssen Sie ihn selbst, und finden wohl auch. Aber suchen können wir gemeinsam. Und nach einer Pause fuhr er fort: „Wie ist es – kommen Sie heute Abend zu mir? Auf ein Gläschen Wein, und für eine gemeinsame Suche. Er legte dem jungen Mann die Hand auf die Schulter, dann erhob er sich etwas schwerfällig. „Dieser Steg ist doch nicht mehr die passende Sitzgelegenheit in meinem Alter," sagte er entschuldigend. Er ging, ohne eine Antwort abzuwarten. Er wollte nichts erzwingen. Der Junge braucht Zeit zum Nachdenken, ich werde ja sehen, ob er kommt.

    KAPITEL 2

    Jetzt, wo alles vorbei ist, wo es keine Zukunft mehr gibt außer dem Tod, kann ich, nein, muss ich mir Rechenschaft geben. Erleben nicht Sterbende ihr Leben noch einmal, ein ganzes Leben in wenigen Sekunden? Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt, aber ich muss den Film zurückspulen bis zum Anfang. Ich muss wissen, warum alles so gekommen ist, damit ich meine eigene Schuld erkenne. Immer habe ich anderen die Schuld gegeben, aber war das gerecht? Ich muss dir dein Leben erzählen, Jason Yolck, und ich werde dich dabei ansehen, hier, in diesem Spiegel werde ich dir in die Augen blicken, und du wirst mir nicht ausweichen können. Ich muss dir dein Leben erzählen, ehe du stirbst, damit du selbst entscheiden kannst, welche Schuld du trägst.

    Das erste, woran ich mich erinnere, ist diese kleine Holzglocke über meinem Bett. Jeden Abend hat die Mutter den Klöppel herausgezogen, um die Spieluhr in Gang zu setzen. Das war der Augenblick, wo sie sich dann herabbeugte, um mir Gute Nacht zu sagen. Nie wäre ich eingeschlafen ohne dieses Ritual. Manchmal kam auch der Vater mit an mein Bett, doch das war letztlich nicht wichtig. Es war dieser mütterliche Geruch, es war die kleine Melodie, es war ihre sanfte Stimme, die ich brauchte, um den Schrecken der Dunkelheit zu ertragen. Sie begleiteten mich in die Nacht, ließen mich schreckliche Träume überstehen, denn ich träumte furchtbare Dinge, auch wenn ich nie wusste, was dabei geschah. Und ich weiß bis heute nicht, warum ich manchmal erschrocken aufwachte, zitternd vor Furcht vor etwas, was nie in meinem Leben greifbar wurde. Aber es war da, war eine andere Wirklichkeit, war wie die dunkle Materie im Kosmos, ungreifbar, unfassbar und doch vorhanden.

    Dann weitete sich meine Welt, das Haus mit der geschwungenen Treppe, der dunkel getäfelten Halle, den hohen Räumen im Erdgeschoß, in denen ich mich nie zuhause gefühlt habe – das alles tritt mir vor die Augen. Vor allem aber die wunderbar lichten Zimmer im oberen Stockwerk mit ihren Möbeln aus hellem Eschenholz, zwischen denen ich spielen konnte – und dann der Garten hinter dem Haus, wenig gepflegt und deswegen voller Träume und Abenteuer, der kleine Steg an seinem Ende, von dem aus man über das Wasser blicken konnte auf die Mauern und Türme der Stadt wie auf die Burg, die mir der Großvater zum fünften Geburtstag schenkte mit Rittern und edlen Damen. Beschützt war ich dort und geborgen, auch wenn ich immer wieder gewarnt wurde, nicht zu nahe ans Wasser zu gehen. Aber nie haben die Eltern dort einen Zaun setzen lassen, stets vertrauten sie auf ihr Wort und auf meine Einsicht.

    Jetzt, am Ende meines Lebens – auch wenn ich längst noch nicht jenes Alter erreicht habe, wo Menschen zu sterben haben, aber es ist dennoch für mich das Ende dessen, was man Leben nennen kann – jetzt also weiß ich, worin das Glück besteht: dass man Vertrauen haben kann und vom Vertrauen getragen wird. Aber ich hatte es all die Jahre danach vergessen, und heute, wo ich es erkenne, gibt es niemand mehr, dem ich vertrauen könnte, und wohl auch keinen, der mir vertrauen würde. Das ist bitter, aber es ist die Wahrheit.

    Es waren die Jahre der Unschuld, und selbst die Schule konnte sie nicht zerstören. Dabei mochte ich dieses große graue Gebäude ebenso wenig wie den Lärm dort, ich mochte die Lehrerin nicht, und auch die meisten Kinder waren mir zuwider, nur mit wenigen konnte ich spielen, auf dem Pausenhof und auch zu Hause in unserem Garten, denn dieser Garten war mein Paradies und sollte es bleiben, kein Unwürdiger sollte es entweihen. Aber ich lernte gerne und eifrig, jedes Geheimnis, das sich mir offenbarte, erfüllte mich mit Freude; und da war dann auch jener Lehrer mit dem ungepflegt langen Haar und dem rötlich-braunen Bart, der es verstand, Geheimnisse geheimnisvoll zu entschlüsseln, der von allem zu erzählen wusste, spannend wie in einem Abenteuer. Das hat mich mit der Schule versöhnt.

    Und einmal bin ich einem ganz anderen Geheimnis begegnet, auch wenn ich es erst viel später enträtseln konnte: Ich weiß nicht mehr, aus welchem Anlass es geschehen sein mochte, aber der Vater nahm mich eines Tages mit in die Fabrik, die sein Lebenswerk war. Und staunend durchschritt ich Räume, in denen gläserne Behälter vielfarbige Flüssigkeiten enthielten, in den Männer und Frauen in weißen Kitteln, mit weißen Hauben und weißen Tüchern vor dem Mund, merkwürdige Geräte bedienten. Staunend nahm ich fremdartige Gerüche wahr, sah große Maschinen, die kleine runde Teilchen in silberne Tafeln pressten, auf lange Bänder auswarfen und dann in Schachteln verpackten. Es war das erste Mal, dass ich die Firma Yolck Pharma betrat, und es sollte für lange Jahre auch das einzige Mal bleiben. So blieben diese Hallen für mich ein mystischer Ort, brannten sich diese Bilder in mein Gedächtnis ein als ein Zauberwerk, das mein Vater am Laufen hielt.

    Damals wusste ich noch nicht, dass es der Großvater war – ein würdiger Herr, stets mit Weste unter dem Sakko, mit korrekt gebundener Krawatte und blankgeputzten Schuhen ausgestattet – der in der Stadt eine Apotheke betrieb und noch im letzten Jahr des großen Krieges zwei Patente angemeldet hatte, auf denen alles beruhte. Es waren neuartige Medikamente, die bald weltweit genutzt wurden und die nun in jenen Hallen am Stadtrand produziert wurden. Aber erst der Vater machte aus der Yolck Pharma KG ein Unternehmen, das bis in die letzten Winkel dieser Erde lieferte und dennoch allen Übernahmeversuchen der Großen dieser Branche widerstand. Niemand war es gelungen, diese Medikamente durch bessere oder wenigstens gleichwertige zu ersetzen, jeder Arzt, jedes Krankenhaus war auf die Lieferungen dieser Firma angewiesen, und weil unsere kleine Familie nur wenig von den gewaltigen Gewinnen für sich verbrauchte, wurde der Vater bald auch zum geschätzten Mäzen, zum angesehenen Wohltäter in unserer Stadt und auch weit darüber hinaus.

    Eigentlich hätte ich meinen Vater bewundern müssen, aber ich war wohl viel zu klein, um seine Leistung zu verstehen. Und Teil dieser Leistung war es ja, dass er selten im Hause war und noch seltener Zeit für den Sohn hatte. Nein, mein Vater war ein Fremder für mich, und er ist es auch noch heute, wenn auch auf eine andere Weise. Mein Leben war geprägt von Mama, und sie liebte ich mit der ganzen Kraft meiner Kinderseele. Dass auch er sie liebte, über alles liebte, habe ich erst erfahren, als wir sie verloren hatten.

    Es geschah alles so plötzlich damals, und ich habe es nicht verstehen können – ja, auch nicht verstehen wollen. Sieben Jahre war ich alt, gerade hatte ich die erste Klasse hinter mich gebracht und freute mich auf die Ferien, die wir gemeinsam an der Ostsee verbringen würden, in dem kleinen Ferienhaus, das der Vater gekauft hatte, als ich drei wurde. Da hieß es plötzlich, Mama sei krank. Der Vater ging mit besorgtem Gesicht durchs Haus, Ärzte kamen und gingen, ich durfte nicht zu ihr, sie brauche Ruhe, sagte man zu mir. Und dann kamen statt der Ärzte Männer in schwarzen Anzügen, der Vater schickte mich ins Kinderzimmer, aber ich sah, wie seine Hände zitterten. Durch das Fenster sah ich, wie die schwarzen Männer etwas genauso Schwarzes, Längliches aus dem Haus trugen, und ich verstand nicht, was dort vor sich ging. Es war der Großvater, der danach zu mir kam, sich umständlich neben mich setzte und mit einer merkwürdig fremden Stimme sagte: „Du musst jetzt sehr tapfer sein, Jason. Deine Mutter ist nun fort, für immer. Und als ich ihn nur erschrocken anblickte, nahm er mich in den Arm – es war das einzige Mal, dass er mir so nahe kam – und ergänzte: „Sie ist gestorben.

    Ich habe nicht geweint damals, nein, denn ich wusste nicht, was das bedeutete. Ich wollte nur zu ihr, irgendwo musste sie doch sein, und als ich das nicht durfte, habe ich geschrien und getobt, und mein Vater stand ratlos und hilflos dabei, weil er selber am liebsten geschrien hätte vor Schmerz. Nein, er konnte mich nicht trösten, er konnte mich nicht einmal umarmen. Er hat mich allein gelassen, weil er selber so allein war. Aber das habe ich nicht verstanden damals.

    Plötzlich war das Haus leer, niemand, der mich rief, der nach mir fragte, der mich ins Bett brachte, niemand, der mich anlächelte und streichelte. Irgendwann sind sie dann alle zum Friedhof gegangen, aber an mich hat niemand gedacht, eine fremde Frau kam ins Haus und paßte auf mich auf. Es gab keinen Blick auf Mamas totes Gesicht, es gab keinen letzten Blumengruß an ihrem Grab – es war, als gäbe es auch mich gar nicht mehr. Der Vater stand nur schweigend am Fenster, stundenlang, kaum dass er mir einen Blick zuwarf. Dann ging er ins Schlafzimmer, ohne einen Gutenachtgruß an den Sohn, und ich hörte ihn dort manchmal weinen.

    Er kam auch mittags nicht mehr ins Haus, wie er es sonst immer getan hatte – es war ja niemand da, der mit dem Essen auf ihn wartete. Irgendwann fiel ihm ein, dass auch ich am Tisch gesessen hatte, und er sorgte dafür, dass eine andere fremde Frau ins Haus kam und für mich kochte. Aber es schmeckte jetzt anders, und nur wenn der Hunger übermächtig wurde, aß ich, was sie auf den Tisch brachte. Ich glaube, sie hat sich viel Mühe gegeben mit diesem fremden Kind, und sie hatte sicher auch Mitleid mit mir, und manchmal versuchte sie auf eine unbeholfene Art, mich zu trösten, oder wenigstens mich abzulenken. Aber ich wollte nicht getröstet werden, ich wollte meine Mama zurück, und so nahm sie mich eines Tages bei der Hand und wanderte mit mir zum Friedhof, durch den Park vor unserem Haus hindurch und ein Stück weit eine Straße entlang, bis hinter einem hohen Eisenzaun mächtige Bäume ragten.

    Noch nie war ich an einem solchen Ort gewesen, die hohen Hecken, die dunklen Steine mit den goldenen Schriftzügen, das alles wirkte fremd und beklemmend. Dann war da ein breites Beet, blumenbewachsen, ein mächtiger Stein am hinteren Ende, „Erbbegräbnis der Familie Yolck las ich darauf, und seitlich darunter Mamas Name und zwei Jahreszahlen. „Da liegt deine Mutter, sagte die fremde Frau und legte einen kleinen Blumenstrauß neben den Stein. „Aber ihre Seele ist nicht hier, sie ist im Himmel, und sicher schaut sie von dort herab und sieht dich." Sie hat es gut gemeint, aber verstehen konnte ich nicht, was sie sagte. Wie sollte ich auch begreifen, dass Mama dort tief in der dunklen Erde lag und zugleich vom Himmel herabschaut – wie sollte ich überhaupt verstehen, dass sie fort war, dass sie mich alleingelassen hat.

    Die Schule begann, die Lehrerin sagte zu den anderen Kindern, dass ich meine Mama verloren hätte und dass sie nun besonders lieb zu mir sein müssten. Aber das war nach einigen Tagen schon wieder vergessen, und mir war es auch lieb, dass die Schulkameraden mich nicht mehr nach meiner Mama fragten. Ich konnte ihnen doch nicht erzählen, dass sie irgendwo vergraben lag und zugleich im Himmel war.

    Den Vater sah ich noch seltener als früher, und wenn er im Haus war, blickte er mich nur traurig an. Erst später erfuhr ich, ich sähe meiner Mutter sehr ähnlich, und das hätte ihn stets an seinen Schmerz erinnert. Und auch das andere habe ich erst viel später erfahren: Dass er zwar täglich fortging, aber nur selten in seiner Fabrik ankam, sondern stundenlang auf dem Friedhof weilte und danach ziellos durch die Straßen lief. Die Aufträge für das Werk, die Produktion, der rechtzeitige Versand – das alles kümmerte ihn nur noch wenig; eine Zeitlang warteten seine Angestellten noch auf die nötigen Anordnungen, dann begannen sie, selbst zu handeln und selbst zu entscheiden. Nur weil zwei treue Prokuristen, die noch unter Großvater gearbeitet hatten, die Geschäfte erledigten, blieb das Werk erhalten. Um die Gewinne allerdings kümmerte sich niemand, es gab keine Spenden mehr von der Yolck Pharma KG, aber es gab

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1