Die Ahnfrauen: Eine Erzählung
Von Eckhard Lange
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Buchvorschau
Die Ahnfrauen - Eckhard Lange
MATTHANJA UND JOCHANAN
Der junge Sklave hatte soeben eine neue Pechfackel hereingebracht und die alte, kaum noch glimmende aus der Halterung genommen. Auch wenn er dabei geschickt und leise zu Werke ging – das Geräusch hatte den weißhaarigen Alten aufgeschreckt, der zusammengesunken auf dem Schemel vor dem schmalen Schreibpult saß, den Griffel noch in der Hand, aber mit geschlossenen Augen. Der Schlaf hatte ihn wieder übermannt, denn draußen über dem glatten Spiegel des Sees von Tiberias lag längst die Finsternis der Nacht, von der schmalen Mondsichel nur wenig erhellt.
„Entschuldige, Herr, sagte der Knabe schüchtern, als er merkte. er hatte den Alten geweckt, doch der hob nur leicht die Linke: „Schon gut, mein Freund,
sagte er müde, „ich sollte meine Arbeit lieber auf morgen verschieben. Aber ich habe stets das Gefühl, es könne dieses Morgen nicht mehr geben. Als er den erstaunten, ein wenig irritierten Blick des Jungen sah, mußte er lächeln: „Ich weiß, für dich ist der Tod noch unvorstellbar weit. Aber, nicht wahr, wann er auch kommt: Wir müssen ihn nicht mehr fürchten, seit unser Herr ihn überwunden hat. Was ich fürchte, ist allein, ich könnte dieses Werk nicht mehr vollenden. Dabei ist es doch so wichtig, damit wir unsere jüdischen Glaubensgenossen für unseren Herrn gewinnen; denn er ist der Erlöser aller Völker, aber doch auch der Messias Israels, aus dem Volk der Juden geboren als Sohn Davids.
Er hielt einen Augenblick inne, dann legte er die Hand gegen die Stirn: „Ja, das ist es, sagte er, selbst überrascht, „das fehlt diesem Buch noch, um auch Israel zu überzeugen! Ich sollte ihm eine Liste aller Vorfahren des Herrn voranstellen, damit alle erkennen, er ist auch nach dem Fleisch der lang erwartete Sohn Davids. Nein, das ist noch nicht ausreichend. Er ist auch Nachkomme unseres Stammvaters Abraham. Er ist ja die Erfüllung aller Verheißungen für unser Volk, von Anfang an. – Das musst du jetzt nicht verstehen, mein Junge,
fügte er hinzu, als der Sklave ihn fragend anblickte. „Aber für die Schriftgelehrten in der Synagoge ist das wichtig, damit auch sie sich endlich zu Jesus als dem Messias bekennen, denn er ist erschienen nach der Schrift, er hat gelebt und gelitten nach der Schrift, und der Allmächtige – gelobt sei der heilige Name – hat ihn auferweckt aus dem Reich des Todes. Das glaubst du doch auch, nicht wahr?"
Der Junge nickte: „Ja, Herr, das bekenne ich, und darum bin ich auch getauft worden. „Dann solltest du auch nicht mehr 'Herr' zu mir sagen, mein Lieber. In Christus sind wir alle Brüder, auch wenn du für die Welt da draußen ein Sklave sein magst. Doch nun geh und bitte Bruder Jochanan, hereinzukommen, ich brauche seine Hilfe.
Jochanan, lange Jahre Rabbi in der Synagoge von Tiberias und jetzt Vorsteher der Christengemeinde in der Stadt, erschien kurz darauf, und der Alte bat ihn, doch die Schriften in seinem Besitz danach durchzusehen, ob sie Listen des davidischen Königsgeschlechtes enthalten und auch solche, die alle Vorfahren des Königs David aufzählen. Dann müsse man nur noch die Namen derer erforschen, die nach dem Untergang des Königtums auf Jesus hinführen. Gleich in den nächsten Tagen wollten die beiden sich an die Arbeit machen.
*
Drei Wochen später hatte der Alte seine Liste zusammengestellt, wohl geordnet wies sie den Weg von Abraham bis hin zu Jesus, den man den Christus nennt. Als er das Wachstäfelchen mit den Namen Jochanan übergab, damit ein Schreiber den Text ordentlich auf eine Papyrusrolle übertragen könne, überflog der Gemeindevorsteher die Liste und stutzte: „Lieber Bruder Matthanja, du hast an einigen Stellen auch die Namen von Frauen genannt, sagte er erstaunt. Der Alte nickte: „Es schien mir wichtig zu sein,
antwortete er.
Doch Jochanan blieb unzufrieden: „Unsere jüdischen Brüder, die hoffentlich dein Werk mit Interesse lesen, wenn es erst fertiggestellt ist, also die jüdischen Leser würden sicher erfreut sein, die Namen der Stammmütter unseres Volkes dort zu finden, Sarah und Rahel etwa, oder auch Rebekka. Aber ausgerechnet diese vier hast du ausgesucht! Und es sind nicht nur alles Frauen, die aus anderen Völkern stammen, sondern auch solche, die nicht gerade einen guten Ruf genießen. Ruth, die Frau des Boas, mag ja noch angehen, aber Thamar und gar die Hure Rahab – das wirft doch wahrlich kein gutes Licht auf den Herrn. Und hat nicht das Weib des Uria die Ehe gebrochen – auch wenn König David daran nicht ganz unschuldig war?"
Der alte Mann schüttelte den Kopf: „Unser Volk war nie ohne Sünde, sollen wir das verschweigen? Und dennoch hat der Allmächtige es erwählt und seine Verheißungen wahr gemacht. Und was diese Frauen betrifft – sind sie nicht ganz besondere Menschen gewesen? Auch unser Herr hat sich mit Frauen umgeben, und auch diese Frauen hatten nicht immer den besten Ruf. Aber es waren starke Frauen – wie jene, die ich erwähnt habe. Es ist das Erbe dieser Mütter, das auf unseren Herrn gekommen ist. Jochanan hob abwehrend die Hände: „Mein lieber Matthanja, da kann ich dir nicht folgen. Nehmen wir nur einmal jene Thamar, von der die Schrift berichtet: Es mag ja sein, daß Juda sie ungerecht behandelt hat, daß ihre Männer vielleicht schlecht zu ihr waren. Der Herr hat sie ja auch bestraft, so steht es geschrieben. Doch die Tat der Frau kann ich nicht billigen – ein Kind mit dem eigenen Schwiegervater zu zeugen, Juda so zu betrügen!
Der Alte lächelte: „Jedenfalls war sie eine kluge Frau, das wirst du kaum bestreiten können. Sie hat für ihr Recht gekämpft gegen eine Männerwelt, die nur Verachtung für sie übrig hatte. Auch unser Herr Jesus ist doch stets für die Verachteten eingetreten und hat sie aufgerichtet und ermutigt. Daß sie damals die einzige Waffe gebraucht hat, mit der sie Juda bezwingen konnte, war eine sehr mutige Tat, denke ich. So hat sie ihm seine Ungerechtigkeit vor Augen geführt, ihn beschämt, ohne sich selbst für ihr Tun schämen zu müssen. Ich denke, unser Herr hätte sie gelobt, so wie er die arme Witwe gelobt hat, die den ungerechten Richter mit ihrer Klage verfolgt hat. Nein, Bruder Jochanan, Thamar sollte nicht vergessen werden, wenn es um die Ahnfrauen des Herrn geht."
THAMAR
Wie an jedem Abend versammelten sich die Männer vor dem Zelt Judas, soweit sie nicht irgendwo auf den Feldern die Herden ihres Sippenältesten bewachten. Seit Juda sich aus dem Clan seines Vaters Jakob abgesetzt und mit seiner eigenen Herde seine Brüder verlassen hatte, zeltete er im Gebiet um die Kanaaniterstadt Adullam. Das hatte mehrere Gründe: Einmal war es schwierig geworden, die ständig wachsende Zahl der Tiere auf so engem Raum zu ernähren, zum anderen hatte Juda mit dem Kanaaniter Chira Freundschaft geschlossen und begann, das Leben in einem lehmverputzten Steinhaus seinen Zelten aus Ziegenhaaren vorzuziehen. So wohnten sein Weib mit seinen drei Söhnen längst in einem solchen Haus, während er selbst eine Zeitlang dort, dann aber wieder in seinem Zelt weilte; denn um die Hirten und seine Herden zu überwachen, die ja umherziehen mussten, war eine bewegliche Unterkunft immer noch die bessere Lösung.
Juda musterte die Runde der Männer und stellte zufrieden fest, daß seine beiden Ältesten Ger und Onan nun schon die meisten Hirten um Haupteslänge überragten. Groß und stark waren sie, ihre Hände konnten Stab und Schleuder führen und notfalls auch den Dolch. Ja, sie hatten grobe Hände und ebenso grobe Gesichter, und beides entsprach auch ihrem Gemüt. Sie waren zum Hirtenleben geboren, ganz anders als ihr jüngster Bruder Schela, der noch bei der Mutter lebte, ein feingliedriger und auch feinsinniger Jüngling mit guten Manieren. Doch der Vater wog nicht ab zwischen den Söhnen, jeder würde den ihm gemäßen Platz finden in der Sippe Juda.
An diesem Abend jedoch hatte er etwas Besonderes im Sinn. Ger, der Älteste, war nun reif genug, selbst eine Familie zu gründen,