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Die LEERE und die FÜLLE: Roman nach Motiven des Gilgamesch-Epos
Die LEERE und die FÜLLE: Roman nach Motiven des Gilgamesch-Epos
Die LEERE und die FÜLLE: Roman nach Motiven des Gilgamesch-Epos
eBook242 Seiten3 Stunden

Die LEERE und die FÜLLE: Roman nach Motiven des Gilgamesch-Epos

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Über dieses E-Book

Zwei Giganten des Einzelhandels stoßen aufeinander: Gilbert Gamesch, der rücksichtslose Herr über zahllose Discount-Läden, und Nikolas Kidou, sein aufstrebender Konkurrent. Als Gilbert die Edelhure Kata auf den anderen ansetzt, nimmt alles einen unerwarteten Verlauf: Nikolas und Kata verlieben sich ineinander, aus den Feinden werden heimliche Freunde. Doch ein gemeinsamer Vorstoß in neue Dimensionen der Ausbeutung misslingt, zurück bleibt eine grausam ermordete Umweltaktivistin. Zurück bleibt auch eine alternde, von Gilbert enttäuschte Filmdiva, ihre Rache jedoch trifft durch Zufall den Freund, der anstelle von Gilbert sterben muß. Erschüttert macht sich der einst so Mächtige auf die Suche nach dem Sinn seines Lebens. Er begegnet vielen Antworten, bis er endlich seine eigene findet.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum5. Sept. 2016
ISBN9783738083231
Die LEERE und die FÜLLE: Roman nach Motiven des Gilgamesch-Epos

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    Buchvorschau

    Die LEERE und die FÜLLE - Eckhard Lange

    DIE VORLAGE: DAS GILGAMESCH-EPOS

    In Uruk im Zweistromland herrscht Gilgamesch, ein gewaltiger Held, aber auch ein grausamer Tyrann. Als seine Untertanen die Götter um Hilfe anflehen, erschaffen sie Enkidu, einen wilden Tiermenschen, an Stärke dem Gilgamesch ebenbürtig. Doch eine Schamkat, eine priesterliche Tempeldirne zähmt und verwandelt ihn durch ihre Liebesdienste, und Gilgamesch und Enkidu schließen Freundschaft. Gemeinsam besiegen sie Chumbaba, einen mächtigen Dämon, den Hüter des Zedernwaldes, um Holz für Uruk zu beschaffen und damit Ruhm zu gewinnen.

    Da entbrennt Innana, die Göttin, in Liebe zu Gilgamesch, doch der weist sie ab. Zornig fordert Innana im Rat der Götter seinen Tod, doch diese lassen nur Enkidu sterben, den Freund. Erschüttert durch sein qualvolles, ruhmloses Ende, macht Gilgamesch sich auf, nach Unsterblichkeit zu suchen, wie die Götter sie allein Utnapistim gewährt hatten. Auf dem Weg dorthin durchzieht er die endlose Steppe, durchschreitet die Unterwelt und überquert endlich das Meer des Todes. Wer auch immer ihm begegnet, nennt sein Vorhaben eitel und zwecklos.

    Obwohl er die von Utnapistim geforderte Probe, wenigstens den Schlaf zu besiegen, nicht besteht, weist ihm dieser ein Kraut, das aus Greisen Jünglinge mache. Doch er bewacht es schlecht, so dass eine Schlange es ihm raubt, ehe er es in Uruk erproben kann. So muß er nach all seinen Mühen erkennen, dass Sterblichkeit das Los aller Menschen bleibt und sie nur in ihren Taten, so sie zum Wohle der Menschen geschehen, überleben.

    ERSTER TEIL: URUK – Kapitel 1

    „Zum Teufel mit dem Mistkerl!" Das war wirklich kein besonders frommer Wunsch, und er war auch keiner gehobenen Ausdrucksweise geschuldet. Vor allem jedoch: Er war absolut unrealistisch, und das wusste Fred Anders. Er warf das Mobilteil seines Telefons unsanft auf die Schreibtischplatte, danach starrte er wütend auf die Kastanienblüten vor dem Bürofenster, ohne ihre stille Schönheit wahrzunehmen. Der Mistkerl war übrigens ein gewisser Gilbert Gamesch, Chef der Supermarktkette GiGa, und der hatte eben ein weiteres Mal verhindert, dass in einem der Märkte ein Betriebsrat gewählt werden konnte.

    Fred Anders stand schwerfällig auf und trat an das Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Er war ein großer, breitschultriger Mann , mit schütter gewordenem Haar, aber mit einem gepflegten Kinnbart, der an die Zeit erinnerte, als er noch zur See fuhr. Doch das lag bereits Jahrzehnte zurück, er hatte sich, zunächst ehrenamtlich, dann aber hauptberuflich in der Gewerkschaft engagiert und war nun schon seit vielen Jahren in der Bezirksleitung des DGB. Darüber war er alt geworden, und die vielen Misserfolge gerade in den letzten Jahren hatten ihn bitter gemacht. Wie viele Sozialpläne hatte er mühsam erkämpfen müssen, weil wieder einmal Betriebe einfach geschlossen oder ins Ausland verlagert oder doch durch Kündigungen rigoros verkleinert worden waren. Ausländisches Kapital, Manager ohne Bezug zu dem, was sie verwalteten, routinierte Insolvenzverwalter waren seine Gegner, und manches Mal wünschte er sich die Zeiten zurück, wo echte Eigentümer patriarchalisch streng vielleicht, aber doch mit Gerechtigkeitssinn und Verantwortungsgefühl über ihre Angestellten herrschten. Da waren Verhandlungen noch ein fairer Kampf, Mann gegen Mann, wenn es um die Rechte der Mitarbeiter ging – ein Streit, getragen von gegenseitiger Achtung und meist endend mit einem versöhnlichen Handschlag.

    Auch Gilbert Gamesch war zwar Eigentümer, persönlich haftender Gesellschafter dieses riesigen Konglomerats scheinselbständiger Märkte und Handelsgesellschaften, aber er war nicht mehr greifbar für Fred Anders, schickte nur noch seine zynischen Anwälte vor oder einen dieser arroganten Geschäftsführer, die sich als Menschenfreunde feiern ließen, wenn sie morgens vor versammelter Presse einen Tausend-Euro-Scheck an einen Kindergarten überreichten aus tiefer Verantwortung für die Zukunft des Landes, während sie nachmittags eine unliebsame, weil gewerkschaftlich organisierte Kassiererin unter irgendwelchen fadenscheinigen Gründen feuerten. Fred Anders war müde geworden in diesem ständigen, meist aussichtslosen Kampf, und er sehnte seinen letzten Arbeitstag herbei, der Ende des Jahres anstand. Aber er wollte nicht ohne Erfolg, einen letzten kleinen Triumph gegenüber diesem Gamesch abtreten. Und das war wieder einmal misslungen.

    Gilbert Gamesch wusste nicht viel von diesem Fred Anders, war ihm noch nie persönlich begegnet. Ein Name nur, einer von vielen Spielsteinen auf dem Brett, wenn es um Arbeitnehmer ging, um Tarife, Betriebsräte, Gewerkschaften – alles hinderliche, überflüssige Dinge in seinen Augen, lästig für ein freies Unternehmertum, das nur dem Markt verpflichtet war – und natürlich dem Gewinn. Mit diesen Leuten zu verhandeln, das war unter seiner Würde. Derartige Kleinigkeiten erledigten seine Leute für ihn, dazu wurden sie schließlich bezahlt. Und sie waren geübt genug, um es im Regelfall ohne Rücksprache mit der Konzernspitze, mit Gilbert Gamesch persönlich zu tun.

    Dennoch war er durchaus präsent in seinen Unternehmungen. Es war mehr als nur eine Marotte, dass er häufig in irgendeinem seiner Märkte irgendwo im Land auftauchte, unangemeldet, gleichsam inkognito wie ein gewöhnlicher Kunde, dass er durch die Gänge streifte, die Ordnung auf den Regalen inspizierte, die Mitarbeiterinnen beobachtete, ihre Arbeitsweise, ihren Umgang mit den Kunden, um dann gegebenenfalls anschließend den Marktleiter höchst direkt zwar mit leiser, aber deutlicher Sprache zurechtzuweisen. Doch seine Streifzüge hatten noch einen anderen Zweck. Seine Augen suchten die jungen, die hübschen vor allem unter den weiblichen Auszubildenden, und welche Gefallen gefunden hatte in seinen durchaus wählerischen Augen, die sprach er an, fragte nach irgendwelchen Waren, verwickelte sie in ein fachliches Gespräch. Aber er prüfte weder ihr Sachwissen noch ihre Zuvorkommenheit gegenüber dem Kunden, sein prüfender Blick ruhte auf dem, was der Dienstkittel verbarg, und er hatte genug Fantasie, aber auch genug Erfahrung, um sich dieses Darunter vorzustellen. So gab er sich am Ende leutselig als Chef zu erkennen, bestätigt vom herbeizitierten Marktleiter, und wenn er den Eindruck hatte wirken lassen – schließlich war er nicht nur Herr aller Märkte, sondern auch eine stattliche Erscheinung, sportlich, sonnengebräunt, männlich eben - lud er eines dieser jungen Dinger auch gern zum Essen ein, ganz ohne Hintergedanken natürlich, allein um seine Solidarität mit all seinen Mitarbeitern zu demonstrieren und Leistungen ganz persönlich zu würdigen. Und dennoch: Das Gerücht, nie wirklich bestätigt, aber dennoch hartnäckig hinter vorgehaltener Hand verbreitet, besagte schlicht, dass es selten beim Essen allein geblieben sei.

    Doch so sehr Fred Anders auch nachforschte, niemals gelang es ihm, einen Beweis dafür zu erbringen. Sicher, die Mädchen fürchteten um ihren Arbeitsplatz. Doch meist knüpften sie allerlei wahnwitzige Hoffnungen an ein solches nächtliches Erlebnis in irgendeinem Hotelzimmer: Hoffnung auf eine Wiederholung, auf den Eindruck, den sie glaubten hinterlassen zu haben und der sie vielleicht – vielleicht! – zu größerer Gunsterweisung berechtigen könnte, beruflich, vor allem jedoch privat. Daß sich solche Hoffnungen nie erfüllten, sie schwiegen darüber, aus Angst, aus Enttäuschung, aus Scham. Und so gab es keinerlei Warnung für die nächsten Opfer. Wobei noch zu fragen wäre, ob sie je etwas genutzt hätte.

    „Jus primae noctis, nannte der Gewerkschafter bitter, was er nur ahnen konnte, und was er nie öffentlich machte, weil er keine Verleumdungsklage riskieren wollte. Aber es passte zu jener anderen Wendung, die Gilbert Gamesch in seinen Augen kennzeichnete und die Fred Anders schon eher auch in den Mund nahm: „Handeln nach Gutsherrenart. Und hatten nicht die adligen Patrone auf ihren Herrensitzen jahrhundertelang sich dieses Recht gegenüber ihren Leibeigenen genommen, ehe sie einer Eheschließung zuzustimmen bereit waren?

    KAPITEL 2

    Gilbert Gamesch störten solche Gerüchte nicht im geringsten, solange sie nicht zum öffentlich erhobenen Vorwurf wurden und er gezwungen wäre, dagegen rechtlich vorzugehen. Im Gegenteil: Sie schmeichelten seinem Selbstbewusstsein, ob sie nun wahr waren oder nicht – das Bild des Frauenhelden, des unwiderstehlichen Eroberers gefiel ihm durchaus. Daß er sich mit attraktiven Frauen umgab, allerdings in anderen Größenordnungen, das war schließlich nahezu jede Woche irgendeinem jener Blättchen zu entnehmen, die man gerne der sogenannten Regenbogenpresse zuordnet. Hier gab es Bilder zuhauf, die den Konzernchef Hand in Hand mit einem Filmsternchen, einem Partyluder oder einer Schlagersängerin zeigten, und die Vermutungen über die Intensität dieser Beziehungen erfüllten die geheimen Sehnsüchte so mancher Leserin. Hätte er es da nötig, die Dummheit minderjähriger Ladenmädchen auszunutzen wie ein vergreister Lüstling? Na also!

    Außerdem konnte er ein ganz anderes Ambiente bieten als irgendein Hotelzimmer. In Genua lag sein Schiffchen, wie er die Yacht mit gekonntem Understatement gerne bezeichnete; in den Schweizer Alpen stand ihm ein großzügiges Chalet zur Verfügung; und neben je einer Stadtvilla in Frankfurt und Berlin in bester Lage besaß er seit kurzem auch ein spätbarockes Herrenhaus einschließlich aller Nebengebäude, die zu einem Gutsbetrieb früher dazugehörten, irgendwo im Holsteinischen. Insofern nahm er den Vorwurf, nach Gutsherrenart zu verfahren, mit einem ironischen Lächeln zur Kenntnis, ohne zu widersprechen. All dieser Besitz entsprang nicht einem Bedürfnis, sich die eigene Größe immer neu zu bestätigen, sie war seinem Renommee geschuldet, war Teil der Werbung für seine Unternehmungen. Er selbst hatte in all diesen Häusern meist nur zwei oder drei Räume, die er tatsächlich bewohnte, und die waren in erster Linie zweckmäßig, seinen Bedürfnissen nach Entspannung, seiner Schwäche für übersichtliche Ordnung entsprechend eingerichtet – ohne all die meist recht unbequemen Designermöbel, aber auch ohne wertvolle, aber unpraktische Antiquitäten. Nur dort, wo die Pressefotografen zugelassen waren, wo öffentlichkeitswirksame Empfänge stattfanden, hatte er bekannte Innenarchitekten wirken lassen.

    Auch auf Mode ließ er sich nicht festlegen. Er kleidete sich, wie es ihm gerade in den Sinn kam, höchstens angepasst an bestimmte Anlässe – seriös oder leger, auffallend oder eher nachlässig. Selbstverständlich besaß er eine Sammlung maßgefertigter Anzüge, die teure Eleganz verrieten. Gerne gab er sich auch maritim mit heller Leinenhose und einem marineblauen Blazer, und oft genug lief er in verwaschenen blauen oder sandfarbenen Jeans aus den Billigangeboten seiner eigenen Märkte herum, dazu je nach Wetterlage ein Sweatshirt oder ein Kragenpullover gleicher Herkunft. Dann verriet nur die stets fein aufeinander abgestimmte Farbigkeit aller sichtbaren Teile den Geschmack ihres Trägers.

    Was auch immer er anzog, er war und blieb eine alles in allem imponierende Erscheinung, jederzeit hätte er ein Casting als Hollywooddarsteller für sich entscheiden können. Hochgewachsen und muskulös, verriet sein Körper, dass er ihn regelmäßig trainierte. Das dunkelblonde Haar trug er kurzgeschnitten, aber es war dicht und seit seinen Kindertagen lockig. Ein energisch-eckiges Kinn und ausgeprägte Wangenknochen kontrastierten auffallend mit einem sinnlichen, weich geschwungenen Mund und dunklen Augen unter gewölbten, schmal gehaltenen Brauen, dem eher weiblichen Teil des Gesichts. Die schmalen Hände verrieten kaum, dass er bei Segelregatten kräftig zugreifen konnte und in seiner Jugendzeit manchen aggressiven Mitschüler mit hartem Schlag zum Schweigen und zum Rückzug gebracht hatte.

    Seine Jugend – sie hatte ihm manches abverlangt als Sproß der Familie, die schon damals als reich galt, was keineswegs Ansehen und Freundschaften im Kreis der Gleichaltrigen förderte. Dabei war der Aufstieg der Gamesch-Sippe von mancherlei Rückschlägen überschattet. Gilberts Großvater – Wilhelm August Gamesch – hatte in den zwanziger Jahren den Grundstein gelegt: Er hatte in ein Rostocker Feinkostgeschäft eingeheiratet und trotz der Kriegsjahre in Schwerin und Wismar noch Filialen gegründet. Doch dieses kleine Familienunternehmen galt den neuen Herren dort als allzu kapitalistisch mit einer Anzahl lohnabhängiger Angestellter, Wilhelm Gamesch entging Enteignung und Verhaftung durch Flucht in die britische Zone, und eine Reihe langjähriger Mitarbeiter folgte ihm.

    Die Währungsreform bot neue Chancen, und er eröffnete nicht nur im grenznahen Lübeck ein neues Lebensmittelgeschäft, bald hatte er in den umliegenden Landstädten wieder ein allerdings noch recht überschaubares Filialnetz aufgebaut, übrigens unter der energischen Mithilfe seiner einzigen Tochter Nina, die schon mit sechzehn Jahren als Lehrmädchen bei ihm anfing und bald genug Erfahrung hatte, das jeweils neugegründete Zweiggeschäft aufzubauen. 1966 wurde ihr Sohn Gilbert geboren, ein eher ungewolltes Ergebnis einer unbedachten Affaire. Ein Jahr später heiratete sie dann doch den Vater und übernahm zugleich die Leitung des Unternehmens. Gilbert allerdings blieb ein Gamesch, der Erzeuger erwies sich als wenig geeignet sowohl für das Geschäft wie für die Erziehung, und auch sein Anteil an Eigenschaften und Begabungen des Jungen blieb augenscheinlich gering. Einzig das attraktive äußere Erscheinungsbild war ein Erbe des Vaters – und das große Interesse am anderen Geschlecht, wo immer sich Gelegenheit dazu bot. Nina Gamesch jedenfalls sorgte schon bald dafür, dass dieser Mann aus dem Gesichtskreis der Familie verschwand. Ehebruch war immerhin ein rechtskräftiger Scheidungsgrund.

    Gilbert aber konnte mit diesem Erbgut später gut als Frauenheld durchgehen, als begehrter Junggeselle auch ohne den Reichtum, der jeden Mann begehrenswert gemacht hätte. Und – er wusste beides zu nutzen, wenn ihm der Sinn nach einem erotischen Abenteuer oder oft genug nur nach einer schnellen Befriedigung seiner Lust stand. Dabei glich er einem geübten Heiratsschwindler: Auch danach, wenn er sich längst einer anderen zugewandt hatte, träumten doch die meisten der so betrogenen Frauen weiter von ihm, und sehnsüchtiges Hoffen und Warten übertraf allemal Enttäuschung, Rachegefühle und Zorn. Das machte es ihm leicht – und es bewahrte ihn vor Skandalen, vor finanziellen Forderungen oder gar Anzeigen wegen Vergewaltigung. Auch wenn es nicht immer die erste Nacht war, die er sich nahm, wie Fred Anders vermutete – es war stets eine besondere Nacht.

    Alle Abenteuer aber hinderten ihn nicht daran, zielstrebig auf die Vermehrung des Familienerbes zuzugehen. Gymnasium und Studium der Betriebswirtschaft absolvierte er zügig und erfolgreich, dann trat er ins mütterliche Unternehmen ein. Als Nina Gamesch fünf Jahre später tödlich verunglückte, übernahm er nicht nur ihre Rolle, es begann ein rasanter Aufstieg zu einem letztlich europaweiten Unternehmen. Ausschaltung manches Konkurrenten durch einen gewagten Preiskampf, Aufkauf der angeschlagenen Handelsketten, Eingliederung auch von Produktionsfirmen, alles in einem kaum überschaubaren Geflecht unter dem Dach einer neugegründeten Holding mit Sitz in Liechtenstein, das alles machte die nun GiGa genannten Märkte zur führenden Handelskette. Und ihr unumstrittener Herrscher war Gilbert Gamesch.

    KAPITEL 3

    „Ihr müsst mir das glauben, Kollegen! Ihr müsst mir einfach glauben. Die Frau wischte sich Tränen aus den Augen, obwohl sie nicht weinen wollte. Aber Scham und auch Wut waren zu übermächtig, wollten nach außen dringen. „Ich hab noch nie etwas gestohlen. Und dann diese lächerlichen zwei Puddingpulver! Dabei brauch ich das Zeug überhaupt nicht.

    „Du musst dich hier nicht rechtfertigen, Kollegin. Fred Anders sagte es ruhig und bestimmt. „Du bist nicht die erste, die bei GiGa auf diese Art ihren Job verlor. Wir kennen diesen fiesen Trick schon lange. Nur leider – wir haben nichts, um ihn als Täuschung zu entlarven. Er sagt, du hättest gestohlen, und wir können ihm das Gegenteil nicht beweisen. Es steht Aussage gegen Aussage, und die Tatsachen sprechen gegen dich – wie in all diesen Fällen. Und immer waren es Kolleginnen wie du, die sich für die Gründung eines Betriebsrates stark machten, die sich für andere einsetzten, die Missstände zur Sprache brachten. Es ist stets die gleiche Leier: Erst fällst du unangenehm auf, dann macht der Marktleiter ganz zufällig eine Taschenkontrolle bei Schichtwechsel, und dann findet sich ausgerechnet bei dir etwas drin, ohne Beleg, ohne Bon. Selbst manchem Arbeitsrichter ist das schon aufgefallen. Aber er muss sich an die Tatsachen halten. Wenn du Glück hast, gerätst du an einen, der dir einen Vergleich vorschlägt. Wenn ein anderer da vorne sitzt, hast du keine Chance. So ist das, leider.

    Die Frau beugte sich vor, blickte ihn entsetzt an: „Ihr könnt da also auch nichts machen? Fred Anders hob die Hand, um sie wieder auf den Schreibtisch fallen zu lassen: „Wir können es versuchen, wenn du willst. Wir können klagen. Und selbst wenn wir damit keinen Erfolg haben – je häufiger wir mit ähnlichen Fällen vor Gericht gehen, desto eher wachen die da auf. Auch das wäre ein Fortschritt.

    „Ich lass mich nicht einfach so rauswerfen. Ich lass mich nicht als Diebin abstempeln. Die Frau sagte es entschlossen, trotzig. Ihr Gegenüber nickte: „Ich besorg dir einen Termin bei unserem Anwalt. Und wenn du das durchhältst, pauken wir das durch alle Instanzen. Vielleicht finden wir ja einen Zeugen. Oder der Marktleiter knickt ein. Oder das Gericht befindet wenigstens auf Geringfügigkeit. Wenn wir dann trotzdem widersprechen, weil es um deinen guten Ruf, weil es um die Wahrheit geht – dann ist das vielleicht ein Fall für die Medien. Allerdings, das kostet deine Nerven. Darüber musst du dir klar sein. Wir werden jedenfalls hinter dir stehen. Fred Anders schwieg. Was er im folgenden dachte, sprach er nicht mehr aus: „Und wir können GiGa anprangern, an die Öffentlichkeit zerren. Das ist es wert, allemal."

    Der Gewerkschafter blickte der Kollegin hinterher, als sie sein Büro verließ. Sie war jung, sie war hübsch, und sie war energisch und selbstbewusst. Sie würde einen neuen Arbeitsplatz finden, auch wenn alle seine Bemühungen erfolglos sein sollten, dessen war er sich sicher. Aber sie war auch eine Chance in seinem Kampf, denn sie wirkte überzeugend, war fähig, auch vor Gericht sicher und überzeugend aufzutreten. Vielleicht würde sie den Durchbruch schaffen, den Richter nachdenklich machen, weil sich ähnliche Fälle in den GiGa-Märkten häuften. Das wäre der Triumph, mit dem er sich in den Ruhestand verabschieden könnte – wenigstens ein Widerruf der Kündigung wegen des Verdachts, der angebliche Diebstahl sei manipuliert worden. Und es schien gut zu laufen, auch in zweiter Instanz blieben die Richter skeptisch gegenüber der Version des gegnerischen Anwalts. Doch da geschah das Unerwartete: Die Kollegin zog ihre Klage zurück, sie hätte sich mit GiGa außergerichtlich geeinigt. Und sie trat aus der Gewerkschaft aus. Nur einige Monate später übernahm sie die Leitung eines großen Marktes – bei GiGa.

    Was Fred Anders nie erfuhr: Als die Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht sich hinzog, als die Medien aufmerksam wurden und eigene Nachforschungen begannen, erhielt die Klägerin eine Einladung von Gilbert Gamesch, eine freundliche Einladung zu einem persönlichen und hoffentlich auch versöhnlichen Gespräch mit dem Chef selbst, und an das Gespräch schlossen sich ein paar ebenso persönliche Tage in seinem Schweizer Chalet an, das am besten von all seinen Wohnsitzen unzugänglich für ungebetene Beobachter war. Es war eben doch von Vorteil, dass die Klägerin jung und hübsch war – und dass sie auch selbstbewusst genug war, mehr zu erwarten als ein paar Liebesnächte. So hatten beide nicht nur ihren Spaß, sondern auch ihren Erfolg. Was die Anwälte offensichtlich nicht zustande brachten, das musste der Chef eben im

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