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Der Ingenieur: Was Kolo gemacht hat
Der Ingenieur: Was Kolo gemacht hat
Der Ingenieur: Was Kolo gemacht hat
eBook833 Seiten11 Stunden

Der Ingenieur: Was Kolo gemacht hat

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Über dieses E-Book

Der Roman beschreibt etwa zehn Jahre aus dem Leben eines technischen Angestellten in einem florierenden deutschen Industrie-Unternehmen. Neben der ungewöhnlichen Vorgeschichte werden viele Unwägbarkeiten, die ein betriebliches Miteinander mit sich bringt, anschaulich und engagiert beschrieben.
Den roten Faden ziehen die charakterlich und menschlich konträr gestrickten Antipoden des Entwicklungs- und des Qualitätsleiters durch die locker geschriebene Story. Beide sind schicksalhaft zur Zusammenarbeit gezwungen, was einen nicht mehr lösbaren Konflikt verursacht und in der Katastrophe endet. Trotz der an manchen Stellen sehr in die technischen Einzelheiten gehenden Auseinandersetzungen, kommen sowohl die Auswirkungen in den privaten Bereich als auch die menschelnden Scharmützel nicht zu kurz.
Es ist eines der ganz wenigen Bücher in der internationalen Literatur, die das Innenleben eines Industrieunternehmens thematisieren.
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum11. Aug. 2020
ISBN9783740776565
Der Ingenieur: Was Kolo gemacht hat
Autor

Ingo Klöcker

Prof. hon., Prof. Dr.-Ing. Ingo Klöcker wurde 1937 in Stuttgart geboren, studierte dort Maschinenbau und anschließend an der mittlerweile legendären Hochschule für Gestaltung Ulm Industrial Design. Es folgten zwanzig Jahre Industrie vom Konstrukteur und Entwicklungs-Ingenieur bis zum Geschäftsführer Technik. Die Schwerpunkte waren Feinwerktechnik, Haushaltstechnik und Home-Care, Pkw- und Lkw-Konstruktion und Industrial Design von Schwermaschinen. Es folgten über zwanzig Jahre als Professor für Konstruktionstechnik, Werkstofftechnik, Industrial Design, Kreatives Arbeiten und Darstellungstechniken an der Technischen Hochschule Nürnberg. Sein, wie er sagt, zweites Leben ist die Kunst. Das umfangreiche Oeuvre seiner Materialbilder befindet sich in Museen, in Institutionen und bei Sammlern. Dafür erhielt er zahlreiche Auszeichnungen. Er schrieb viele Aufsätze für die Süddeutsche Zeitung, schreibt Bücher, gibt Seminare und betreibt Coaching zu den Themen kreatives Arbeiten in der Technik, Skizzieren und Freihandzeichnen.

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    Buchvorschau

    Der Ingenieur - Ingo Klöcker

    DAS BUCH

    Der Roman beschreibt etwa acht bis zehn Jahre, aus dem Leben eines technischen Angestellten in einem florierenden deutschen Industrie-Unternehmen. Neben der ungewöhnlichen Vorgeschichte werden viele Unwägbarkeiten, die ein betriebliches Miteinander mit sich bringt, anschaulich und engagiert beschrieben.

    Den roten Faden ziehen die charakterlich und menschlich konträr gestrickten Antipoden des Entwicklungs- und des Qualitätsleiters durch die locker geschriebene Story. Beide sind schicksalhaft zur Zusammenarbeit gezwungen, was einen nicht mehr lösbaren Konflikt verursacht und in der Katastrophe endet. Trotz der an manchen Stellen sehr in die technischen Einzelheiten gehenden Auseinandersetzungen, kommen sowohl die Auswirkungen in den privaten Bereich als auch die menschelnden Scharmützel nicht zu kurz.

    Es ist eines der ganz wenigen Bücher in der internationalen Literatur, die das Innenleben eines Industrieunternehmens thematisieren.

    LOG LINE

    Zwei leitende Mitarbeiter in einem florierenden Unternehmen, der Chef der Entwicklung und der Leiter der Qualitätssicherung, sind schicksalhaft zur Zusammenarbeit gezwungen. Das führt in einen nicht zu lösenden Konflikt und in die Katastrophe. Es ist eine der ganz wenigen Innenansichten eines Industrie-Unternehmens in der internationalen Literatur.

    DER AUTOR

    Prof. hon., Prof. Dr.-Ing. Ingo Klöcker wurde 1937 in Stuttgart geboren, studierte Maschinenbau und an der legendären Hochschule für Gestaltung Ulm Design. Das mündete in 20 Jahre Industrie vom Entwicklungs-Ingenieur bis zum Geschäftsführer. Die Schwerpunkte waren Feinwerktechnik, Pkw- und Lkw-Konstruktion und Design von Schwermaschinen. Es folgten über 20 Jahre als Professor für Konstruktion, Werkstoffe und kreatives Arbeiten an der TH Nürnberg. Sein, wie er sagt, zweites Leben ist die Kunst. Das umfangreiche Oeuvre seiner Materialbilder befindet sich in Museen und bei Sammlern. Dafür erhielt er Auszeichnungen. Er schrieb viele Aufsätze für die Süddeutsche Zeitung, schreibt Bücher, gibt Seminare und betreibt Coaching zu den Themen kreatives Arbeiten in der Technik, Skizzieren und Freihandzeichnen.

    Weitere Bücher vom und Informationen über den Autor: siehe Anhang und auf www.Technik-skizzieren.de

    Meinem ehemaligen Chef KHD gewidmet

    Nicht den Zaudernden gehört die Welt, sondern denen, die, ohne schwach zu werden,

    das durchstehen, wofür sie sich entschieden haben.

    Romain Rollang

    INHALT

    Besetzungs- oder: Theaterzettel

    Prolog - oder: Ein Spaziergang über die Schwalb

    Ein weißes Höschen

    Zwei Romanzen in einem Schloss

    Das trojanische Pferd im Haus der Tränen

    Ein kreativer Spinner baggert sich hinein

    Eine Hamburger Würstchenfabrik-Fabrik

    Der indische Guru und der Eischnee

    Mixer, Sahnetorte und Tod

    Ein lumpiges Bauteil sorgt für Aufregung

    Warum keine Bulldogge?

    Ein Möchtegernmephisto und die Motoren

    Die Rettung der Rutschkupplung

    Sport?

    Ein Bastard im Geräteprogramm

    Das Projekt Achtzehn

    Die Geburt eines Monsters

    Der verplante Mann

    Manoir de la Forret

    Der Jumbo und die Schildkröte

    Das Beißen an allen Fronten

    Beim Dicken zum Kaffee zu Hause

    Die neuen Meetings

    Die Geschichte eines Abtrünnigen

    Das Hängebauchschwein

    Ludwig der Holzfäller

    Anhang

    BESETZUNGS- ODER: THEATERZETTEL

    In der Reihenfolge ihres Auftretens.

    Er ist nicht Gottvater, er ist der Protagonist, der mir alles erzählt hat. Er hat keinen Namen, manche nennen ihn Peter. Meistens ist er der Hauptabteilungsleiter Forschung und Entwicklung, kurz HAL F+E.

    Fr. Rössner, Rosi genannt, ist seine Sekretärin und

    Marion Schneider eine ihrer Vertretungen.

    Klaus-Peter Denner, kreativer Unternehmer, fungiert als Spurenleger.

    Clemens Lauterbach ist Geschäftsführer Technik (GFT) und Peters Chef.

    Emmerich war der Generalbevollmächtigte in der Holding, zu der das Unternehmen gehörte.

    Glaser, Chef der Planung, Assistent Lauterbachs.

    Kulau, Zimmernachbar der ersten Tage, später sein zweiter Mitarbeiter

    Sven Petersen, zunächst Leiter F+E, übernimmt den Aufbau des Küchenprogramms und wird von Peter abgelöst.

    Alina Müller dessen Sekretärin und diesem zugetane Verschmähte.

    Kühnel, sein erster Mitarbeiter.

    Koslowski, Kolo genannt, Qualitätschef, Antagonist, und Porgert, Chef der Produktion, sind zwei der fünf HAL-Kollegen unter Lauterbach.

    Dr. Scheringer, Allgemeinarzt in der Düsseldorfer Altstadt.

    Hallmann ist der für den Vertrieb zuständige Kollege, GFV, von Lauterbach, der von Dr. Holzwein abgelöst wird.

    Frau Roberto, die Chefin der Versuchsküche.

    Hans von Gabor ist streckenweise Leiter der internationalen Geschäfte, teilweise auch Leiter der Niederlassung Frankreich.

    Dr. Hans Peter Schneidzig, HPS genannt, ist ein Enkel des verstorbenen Seniors, der Emmerich ablöste.

    Dr. Friedrichs, zuständig für Personal, und Dr. Faulhaber, Controlling, sind weitere Geschäftsführer-Kollegen Lauterbachs.

    Brigitte, seine zweite Frau.

    Steiner, genialer, aber vom Leben enttäuschter Konstrukteur.

    Dr. Arnold, Grundlagen, Petermann, Konstruktion, und Klotz, Chemie, sind drei seiner sechs Abteilungsleiter.

    Ludwig und Gerhard waren Klassenkameraden in der Volksschule.

    Die übrigen Personen, der Chor und die Statisterie, sind leicht zuzuordnen.

    Die Dramaturgie scheint alltäglich, tatsächlich verbergen sich dahinter dramatische Geschichten, die, vom oben genannten Phantom weiter gegeben, nicht publik werden dürfen.

    PROLOG -

    ODER: EIN SPAZIERGANG ÜBER DIE SCHWALB

    Es war irgendwie alles glatt und schön, ordentlich und kollegial, dieser half jenem und jener bemühte sich, zuvorkommend und freundlich zu sein. Der Platz, den er besetzen sollte, war leer, und die ersten Aufgaben kamen aus dem Vorrat des Chefs und hatten keine persönlichen Widerhaken. Niemand trat jemandem auf den Fuß, die Sonne schien allenthalben. Was konnte er mehr erwarten? Es war kein Traumland, es war Normalland. Für ihn gab es nur Normalland. Wie Traumland aussehen könnte ... es entzog sich seinen bisherigen Erfahrungen. Bösland sei eine Erfindung von Filmemachern und spiele sich allenfalls in nachgestellten Historiengemälden oder im Geschichtsunterricht ab. William Shakespeare hatte seinen König Heinrich den Achten gefunden ... und in Teilen erfunden, der sich auf unrühmliche, um nicht zu sagen, böser und brutaler Art und Weise von einigen seiner Ehefrauen trennte. Storys eben. Hier ging es um technische Produkte, Gegenstände, die das Leben besser und einfacher machen sollten, und die man gut verkaufen konnte.

    Viele der kollegialen Gesichter waren offen und gerade heraus. Ab und zu war einer dabei, der ihn an Quasimodo erinnerte, an den krüppeligen und krumm schon auf die Weltgekommenen Glöckner von Notre-Dame, den Victor Hugo entwickelt hatte. Er musste, seiner krummen Kleinwüchsigkeit wegen, immer nach oben blicken, wenn er sich mit jemandem unterhalten wollte. Und dieses von unten nach oben ergänzte er durch die seitliche Richtung, er sprach schräg von unten nach oben, was ihn bei den Einwohnern der Stadt zum verschlagen erscheinenden und gefürchteten Monster werden ließ. Es war ein Klischee, natürlich, ein Bild ließ Wirklichkeit werden ... aus dem später in der Person des Kollegen Koslowski teuflische Realität wurde.

    Es dauerte, bis er Wirklichkeiten dieser Provenienz als reale Erscheinungen wahrnahm. Da sie aber kaum Wirklichkeiten sein konnten, Menschen dieser Art waren ihm fremd, vermutete er Trugbilder, die er abtun und ignorieren konnte. Erst als sie häufiger auftraten und sich Verhaltensweisen und Bilder zu decken schienen, sah er genauer hin. Manchmal drängte sich ihm die Idee auf, dass er, würde er diese Beobachtungen jemandem außerhalb seines aktuellen Wirkungsfeldes berichten, ihm nur ungläubiges Staunen entgegen schlagen könnte. Um sich dagegen, und der aufkommenden Angst, vieles wieder zu vergessen, zu wappnen, beschloss er, Buch zu führen ... nicht sehr konsequent und ausformuliert, nicht so, wie man sich ein Tagebuch vorstellt, nur um dem Vergessen zu begegnen. Manchmal fand er keine Zeit und nahm sich vor, eine interessante Beobachtung dann eben zu einem späteren Zeitpunkt festzuhalten. Manchmal war es dann doch zu wenig, wenn er sich nur ein paar Stichworte notierte, hätte er doch gerne bis in alle Einzelheiten hinein ausformuliert, wollte er doch die genaueren Umstände und Ereignisse oder in Kleinigkeiten begründete, sensible Unterschiede sichern. Dabei dachte er tatsächlich nur ans Vergessen. Er war kein Jurist, der etwas daraus machen wollte oder meinte, später etwas machen zu können, er erinnerten sich nur immer wieder an seine Zeit im Gymnasium, an die Fächer Geschichte und Chemie, auch an Deutsch, in denen das Gegenteil zum Vergessen gefragt war. Er packte es nicht. Schillers Glocke auswendig zu lernen, er packte es nicht. Zu repetieren was dreihundertdreiunddreißig geschah, welche Schlacht mit wem warum geführt ... er packte es nicht, oder warum der kleine Napoleon nach Elba musste, auch das konnte er sich nicht merken. Sein Gedächtnis bestand damals schon aus Zetteln, aus sorgfältig sortiertem Papier mit Buchstaben, für das er sich eine ausgeklügelte Organisation gebastelt hatte. Sie funktionierte immer noch, als er dieser Kleingeistigkeit und Unsinnigkeit gewahr wurde. Das und mehr wollte er mir erzählen. Es schien ihm wichtig, dass es jemand erfährt. So kam er auf die Idee, mich einzuladen.

    Ja, er hatte mich eingeladen. Wir kennen uns schon länger. Wenn man es in Kalenderangaben rechnen wollte, sind es nur ein paar Jahre, vier oder sechs vielleicht, und wir haben auch nicht häufig Gelegenheit gehabt, uns mehr auszutauschen, aber irgendwie gab es ein Bedürfnis, es einmal zu tun. Das Schöne daran war, dass es nicht nur ein Bedürfnis von einer Seite war, es erging beiden gleichermaßen. Zumindest sage ich das jetzt so, ich meine so subjektiv, so aus meiner Sicht. Vielleicht kennen wir uns ja auch schon länger, viel länger, so lange, dass es in Zahlen oder Jahren schwerlich zu benennen ... wie sollte das gehen? Es ist eine gefühlsmäßige Einschätzung, und wenn die in große Dimensionen geht, in eine Metaebene, womöglich noch auf eine gefühlsbedingte, bin ich geneigt zu sagen: Och, wir kennen uns schon ewig, aus einem anderen ... oder vielleicht einem schon früheren Leben. Wer kann das wissen?

    Das mit dem vorigen, oder einem anderen, früheren Leben ist nicht gerade mein Ding. Es ist für mein Verständnis und meine Denke weit weg. Ich habe davon gehört und weiß, dass es Menschen gibt, die den Zugang zu früheren Leben haben, oder zumindest vorgeben, den zu haben. Vielleicht haben sie ihn tatsächlich, wir sind von so vielen wundersamen und unbegreiflichen Dingen umgeben, sodass ich auch das nicht ausschließen möchte. Oder, um mit Ernst Bloch zu sprechen, ich möchte mich in dieser Frage allenfalls auf ein kleines peut-etre zurückziehen. Ich jedenfalls habe diesen Zugang nicht. Aber, um das noch einmal aufzugreifen, ich kenne das Gefühl und das Empfinden, einen anderen Menschen schon ewig zu kennen. Und wenn jener mit derartigen Dingen umgehen kann: Warum sollten wir uns dann nicht verständigen oder sogar kennen lernen? Neben unserer noch kurzen Bekanntschaft oder Freundschaft, eigentlich ist es sogar schon etwas mehr als nur eine so dahin gesagte Freundschaft, haben wir beide, jeder für sich, doch bereits eine lange Strecke unseres Lebensweges hinter uns. Seine, so kommt es mir vor, müsste ein ganzes Stück länger sein als meine. In einem Anflug von Resignation meinte er sogar schon einmal, dass er seine Zukunft bereits hinter sich habe. Man macht so etwas gerne an Kindern fest. Kinder haben zu wollen ist Zukunft. Wenn man schon Kinder hat, große und bereits flügge gewordene Kinder, dann würde wohl mit deren Herauswachsen aus ihrem Kindsein, dem, was wir Erwachsenwerden bezeichnen, das Erlangen der Zukunft einhergehen. Sie zu erreichen, zu ihr hin zu gelangen, oder wenigstens einen Zipfel von ihr fassen zu können bedeutet gleichzeitig zu versuchen, sie zu überholen und hinter sich zu lassen. Und das wiederum offenbart, dass es sie immer weniger gibt, dass die Zukunft sozusagen kleiner und schließlich zur Gegenwart wird. Das mit den Kindern gefiel ihm nicht, schien ihm mehr theoretisch gemeint, als Hypothese, die nicht unbedingt stimmen muss. Er hat schon Kinder, aber dass die etwas mit dem Verlauf seiner Zukunft zu tun haben oder gar etwas in dieser Hinsicht bewirken konnten, wollte er kategorisch ausschließen.

    Beide haben wir unsere Narben, sauber und glatt verheilte Narben, aber auch solche mit einer dicken und hässlichen Hornhaut darüber, Schrunden, an denen jegliches Gefühl verstummt ist, die sich knotig anfühlen und man deshalb immer wieder ansehen und betasten muss. Manchmal hatte er den Eindruck, so berichtete er in einer schwachen Stunde, dass diese Hornhaut gar nicht mehr lebt, dass sie abgestorben sei und ihre Funktion nur noch als seelenloser Deckel erfülle. Und dann gibt es Narben, die noch ganz frisch scheinen, noch ein bisschen rot, eher rosa und so frisch aussehen, als ob sie noch gar keine Narben, als ob sie noch offene Wunden seien. Die seien sehr sensibel und für Angriffe, auch nur vermeintliche und unbeabsichtigte Angriffe, sehr empfindlich. Manchmal könne er überhaupt nicht verstehen, warum die nicht zuwachsen. Bei einigen liegen die dazugehörigen Ereignisse, die Verwundungen, schon sehr lange zurück. In einem Falle, an den er dabei immer ganz besonders erinnert wird, seien das schon weit über fünfundzwanzig Jahre. Die Einstellungen zu dem, was war, dann die Narben und vielleicht noch einiges mehr, erlauben uns keine jugendliche Unbekümmertheit im Umgang miteinander. Der Spontaneität steht die Rücksichtnahme, ein bisschen auch die ängstliche Vorsicht, gegenüber. Es ist eine schon eingefleischte Vorsicht vor neuer Unbill, die ganz ohne jede Absicht, aus Unwissenheit oder Dummheit zustande kommen könnte und so etwas wie eine Tretmine darstellt, eine Tretmine gegen die Seele. Unter Umständen ist es nicht nur eine, vielleicht sind es mehrere Tretminen, die so herumliegen.

    Über diese Tretminen wollte er mit mir sprechen. Sie waren einer der Gründe für seine Einladung. Er wollte aber nicht nur darüber sprechen, er wollte, dass wir bei diesem Sprechen und Beschreiben und Bereden an den entsprechenden Stellen kleine Wimpel aufstellen mit der Aufschrift: Vorsicht, Tretmine. Er wollte warnen. Er wusste ja nicht genau, wo die sind. Die Tretminen sind Episoden, Ereignisse und Schicksalsschläge im Leben, die haften geblieben sind und Spuren hinterlassen haben. Vieles ist in Vergessenheit geraten, aber einiges ist noch so gegenwärtig, als sei es gestern gewesen. Und einige bereits verschüttet geglaubte Ereignisse würden, so war seine Hoffnung, wieder gegenwärtig, würden sich wie von selbst und übermächtig wieder aus der Vergessenheit herausschälen, selbst dann, wenn er an Nachbarereignissen, sozusagen an den Rändern der Vergangenheit, kratzte. Wenn er Glück hätte, würde er die Wimpel für die Tretminen gar nicht mehr benötigen. Er hatte die leise Hoffnung, dass sich die Narbenschmerzen mit dem Erzählen in Luft auflösen, verschwinden und ihr fatales und nachhaltiges Wirken auf immer und ewig mit sich nehmen, ja, dass es die Tretminen dann einfach nicht mehr gibt.

    Mit dem Erzählen und Formulieren und Aufschreiben geht ein Ordnen einher. Er stellte sich das so vor, dass die Gedanken und Gefühle im Kopf wie in einem Kochtopf unkoordiniert abgelegt sind. In der Technik spricht man von einem chaotischen Lagersystem. Chaotisch sieht das aber nur für den Betrachter von außen aus. Mit dem Algorithmus des passenden Programms kann man auch in einem chaotischen Lagersystem alles sofort finden. Beim Aufschreiben bin ich gezwungen, meine Gedanken und Gefühle einem Algorithmus unterzuordnen, das heißt, sie so zu ordnen, dass sie auf dem Papier einen sinnvollen Zusammenhang ergeben, eine Story und einen Ablauf, auch wenn ich persönlich nicht tangiert bin. Und das wiederum klärt den Eintopf, klärt die ganze Geschichte, sodass sich alles überschauen und verstehen und in eben diesen Zusammenhängen begreifen lässt. Warum uns beiden, ihm und mir, das so wichtig war? Nun, wir träumten und träumen beide immer noch von einem unbekümmerten Leben, von einem ballastfreien und innigen und auch ein bisschen von einem neuen Leben. Wer wollte das nicht?

    Er hatte mich eingeladen, das besagte Sprechen und Bereden anlässlich einer Wanderung über die Schwalb vorzunehmen. Beim Gehen und in der Natur kann man leichter artikulieren und die Gedanken besser sortieren. Das Tourismus-Marketing dieses Landstriches hat aus dem jahrhundertealten Begriff Schwäbische Alb die Schwalb gemacht, hat den Begriff kürzer und, wie die Leute dort meinen, griffiger formuliert. So ganz nebenbei haben sie ihn auf jeden Fall schwäbischer gemacht. Die Schwaben sind maulfaule Leute und versuchen, mit einem Minimum an Wörtern und einem Minimum an Vokalen ein Maximum an Information zu vermitteln. Sie vergessen dort nie, zu grüßen ... also doch nicht maulfaul? Wenn man sich begegnet, im Wald oder der Flur, das Wo spielt keine Rolle, wünscht man sich einen schönen Tag ... Gott gefällig. Die schwäbische Sprache benötigt wesentlich weniger Mundarbeit als etwa das rheinische Reden oder das berlinerische Schwadronieren ... weshalb böse Zungen sagen, vielredende Schwaben, sogenannte Schwätzer, finde man nur im nichtschwäbischen Ausland, sie seien aus der Heimat vertrieben worden oder hätten sich durch ihr untypisches Verhalten selbst hinauskatapultiert. Ganz typisch dafür, so erzählte er schon Mal, sei die Geschichte vom Vater und Sohn, die sich im Remstal einen der steilen Wege den Weinberg hinauf quälten. An der hohen Mauer lehnte eine Schaufel. Irgendwer muss sie bei einem früheren Gang vergessen haben. Der Sohn schaute mit fragendem Blick von der Schaufel zum Vater, worauf dieser Stelle meinte:

    „Em ra."

    Das Problem war gelöst. Sie konnten beide weitergehen. Dieser schwäbische Kurzbrocken übersetzt:

    „Wenn wir wieder herunterkommen, nehmen wir die Schaufel mit."

    Er verbrachte lange Zeit im Außerschwäbischen, was er nicht musste, es war freiwillig, er wollte es so. Insofern besteht kaum Gefahr, dass meine Aufzeichnungen zu Zeugnissen wie die von Heimatdichtern werden könnten. Wenn wir uns treffen ist er hier in Klausur. So nennt er seinen alljährlich wiederkehrenden Urlaub in der hiesigen Landschaft, die wie keine andere zu ihm passt, wie das Engadin nicht, die Provence und auch der Niederrhein nicht. Alle diese Landstriche seien unbenommen lieblich und schön, hätten ihre Reize und seien lohnende, erlebens- und sehenswerte Reiseziele. Ganz sicher, da stimme er mir zu ... ohne jeden Vorbehalt. Auch Kalifornien sei wunderschön. Wenn er allerdings einmal dort war, und er war dort, hat sie alle besucht und in sich aufgenommen, aufgesogen, ist zu Fuß hinein gegangen, könne er sie abhaken. Das Bedürfnis, noch ein weiteres Mal hinzuwollen, noch einmal dorthin wiederzukehren, ist dann sehr klein geworden. Hier sei das anders, hier ziehe es ihn her, immer und immer wieder. Das mag daran liegen, dass er den prägenden Teil seiner Entwicklung in einem kleinen Dorf mit etwa fünfhundert Einwohnern, das nicht weit von hier liegt, gelebt hat. Seine Eltern wollten den Kriegswirren in der Großstadt ausweichen und den Rücken kehren und haben sich dafür ein kleines Haus in eben diesem Dorf gekauft. Da war er gerade mal drei oder vier, also jung genug, um die typischen Eigenheiten einer Landschaft und ihrer Bewohner tief ins Bewusstsein und in den Charakter einzugraben, ihn zu prägen und auszubilden. Man sagt, dass jeder Mensch in den ersten etwa zehn Jahren seines Lebens die entscheidende Programmierung für alles, was danach kommt, vornimmt ... bis zum Ende. Ich denke nicht, dass damit eine Vorwegnahme der kommenden Ereignisse gemeint sein kann, sondern eher sein Verhalten und Erleben, die Art und Weise des Angehens von Ereignissen und Initiativen und des Reagierens auf Überraschungen.

    Die Schwalb wurde früher als rau bezeichnet, als raue Alb. Man nannte sie so, weil das Klima und der karge Boden der Landwirtschaft keine großen Sprünge erlaubten. Man war davon überzeugt, dass das verbreitete Wort:

    „Viel Steine gab‘s und wenig Brot",

    hier erfunden worden sein musste, vielleicht als Klagelaut, denn als Anreiz, nach dort zu tauschen. Wenn im Herbst die Felder frisch gepflügt sind, kann man nur etwa auf der Hälfte der Fläche richtige Ackerkrume sehen. Die andere Hälfte besteht aus makellos weißen und wunderschön glatten Steinen. Sie zu sammeln gehörte bei den frühen Bewohnern zum täglichen Leben wie die Jahreszeiten. Generationen schwäbischer Bauernfamilien haben Steine gesammelt, ohne jemals eine Verbesserung ihrer Situation herbeizuführen. Es war der naive Glaube, damit auf Dauer etwas bewirken zu können. Was sie oben weggesammelt haben, kam, wie aus einem unendlich scheinenden Vorrat, immer wieder von unten nach oben durch. Die in gleichmäßigen Abständen zwischen den Feldern und an den Wegrändern liegenden, oft auch als Barrikaden wirkenden und sich lange hinziehende Anhäufungen, legen beredtes Zeugnis ab. Sie gliedern die Landschaft. Heute sammelt niemand mehr Steine. Schlehen, Hagebutten, Weiden und anderes Gesträuch, vor allem immer wieder Hagebutten, haben sich ihrer bemächtigt. Sie fanden im vermodernden Laub und liegen gebliebenem, abgestorbenem und verfaulten Holz zwischen den Steinen ausreichend Halt und Nahrung. Man kann sie manchmal nur noch schwer erkennen. Die Bauern haben die weißen Steine über viele Generationen in einem tumben Fatalismus hingenommen, manche als unveränderliche Plage still ertragen, und einige sogar als Strafe empfunden, eine vom Schicksal für sie bestimmte Strafe für ein nicht näher zu erkennendes oder zu benennendes Vergehen weit in der Vergangenheit der Altvorderen.

    Er konnte unseren Fatalismus den Steinen gegenüber nie ganz verstehen, Ackerbau hin oder Ackerbau her, hatte sie in seiner Jugend, wie ich und wir alle, als Hindernis erlebt, dann aber doch als immer schöner werdendes Mal dieser Landschaft sublimiert. Heute betrachtet er sie wohlwollend, auch schon ein bisschen liebevoll mit anderen Augen und fragt mich immer wieder, warum wir nichts damit gemacht hätten, warum wir aus der Plage keinen Segen gewinnen konnten und warum wir sie so verbissen bekämpft hätten. Diese phantastisch schönen Steine könnten sogar ein Eigenleben entfalten. Sie seien schneeweiß und würden die reine und unbefleckte Farbe zwischen der schwarzbraunen Ackerkrume unbeirrt beibehalten, egal ob sie bei Unwetter, beim Umpflügen oder späteren Ernten über alle Maßen verschmiert und verunstaltet werden. Der nächste Tau und Niesel waschen das angepappte braune Erdreich spurlos wieder ab. Zurück bleiben, wie seit Jahrtausenden, schneeweiße handliche Steine. Sie sind weder scharfkantig noch haben sie Spitzen, die Zeit und das Wetter haben sie geglättet, geschliffen, und die freundlichsten und schönsten Handschmeichler gemacht, die man sich vorstellen kann. Und dann wiederholt er sich zum soundsovielten Mal: Was könnte man damit nicht alles machen? Schönes, Nützliches, Sinnvolles. Man könnte daraus Kunst machen oder einen universell einsetzbaren Werkstoff für die Architektur ... oder sonst etwas. Und wenn man noch ein bisschen weiter spinne als nur bis zu einem wirtschaftlichen Nutzen, wenn man sich mit ihnen beschäftigte, würden sie sogar magische Kräfte freisetzen und andere wundersame Sachen ermöglichen. Wenn wir redender weise so in den Tag hinein gingen, hatte er immer einen oder zwei davon zwischen den Fingern, und wenn er dann noch einen liegen sah, einen dritten, der ihm attraktiv erschien, versuchte er, auch den noch mitzunehmen. Zu den magischen Dingen gehört, dass man kleine Türmchen bauen kann, kleine Stelen oder Andachtspunkte, sechs oder zehn Steine hoch, ohne Bindemittel und ohne Trick. Mir ist bisher weder ein Künstler noch ein Fabrikant bekannt, der sich dieses Materials auch nur andeutungsweise einmal angenommen hätte. Er ist am liebsten im Winter hier. Da liegt Schnee, und da ist der Boden gefroren, ist die Luft klar und durchsichtig, und nichts hindert ihn und hinderte nun uns beim Gehen. Irgendjemand hat einmal gesagt, bei vielen seiner schreibenden Kollegen kann man das auch nachlesen, dass man nichts erfinden könne, dass alles schon da ist, vielleicht auf eine etwas andere Art und Weise, in einer anderen Wahrheit, einem anderen Bewusstsein oder in einer anderen Konstellation. Und die berge tausend weitere Möglichkeiten. Dabei ist es möglich, dass dieses Andere oder dieses Anderssein sehr viel ... oder auch nur ein kleines bisschen, ausmacht. Aber dass es eben schon einmal da war. Von dem niemand wusste. Ganz konkret zitierte er dazu den Schreiber Carlos Ruiz Zafon, der in seinem Buch Der Schatten des Windes(2), darüber geschrieben hat. Eine Erzählung oder ein Roman, so meinte jener, seien wie Briefe, die sich ein Autor selbst schreibt, um sich die Dinge zu erzählen, die er anders nicht herausfinden könne. Das treffe es ganz gut. Ich wollte nichts weiter dazu sagen. Und Frau George Sand hat in ihrem Buch Lelia(3) geschrieben, ja, auch das hat er gelesen, dass der beste Dichter der sei, der am wenigsten erfindet. Es ist ein bisschen delikat, das ausgerechnet in Lelia zu lesen. Bei ihr überwiegen der Surrealismus, die Phantasie und die teilweise abenteuerlich skurrilen Welten, mit denen sie ihre Figuren konfrontiert. Traumhafte Schöpfungen ... und dann zu sagen, man solle wenig bis nichts erfinden, muss ihr bedeutsam gewesen sein. Schon in ihrem Buch Ein Winter auf Mallorca(4) hatte sie sich ähnlich geäußert. Kapriziöse Ambivalenz, wenn man den Buchstaben hinterher denkt.

    Ich habe mich bemüht, seine Erzählungen vollständig und richtig und möglichst ohne Dazutun von mir, wiederzugeben. Ich weiß, der fromme Wunsch hängt über mir. Darüber hinaus legte er Wert auf die Feststellung, und hat es mehrfach wiederholt, dass es sich um vollständig erfundene Sachverhalte handele ... obwohl er genau das, ich zitierte ihn ja soeben, für nicht möglich hält. Aber so ist er, und weiter: Widersprüche und Ambivalenzen seien normale Bestandteile des Lebens, das könne man doch schon auf einer der ersten Seiten fast jeden Buches lesen:

    „Bei der folgenden Geschichte handelt es sich um eine rundum und in allen Einzelheiten erfundene Sache. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen, mit Namen, Bezeichnungen oder örtlichen Gegebenheiten seien zwar möglich und auch sehr wahrscheinlich, aber ansonsten rein zufällig und keineswegs beabsichtigt."

    Vielleicht sehen Juristen das anders.

    Zur Story erwähnte er, dass die Arbeit und die Zusammenarbeit in einem Unternehmen niemals so mickrig, gemein, brutal, chaotisch, menschlich-unmenschlich, kleinkariert, niederträchtig, grausam, absurd, dumm ... um nicht den schwäbischen Ausdruck saudumm zu verwenden ... desorganisiert, unsäglich gewöhnlich und trotzdem so pathetisch sein könnten, wie er mir berichtete. Das schon gar nicht in einem anerkannten und ausgezeichnet verdienenden, deutschen mittelständischen Unternehmen. Aus diesem Grund könne es sich auch niemals nur um Fiktion oder um ein virtuelles Abbild handeln. Und weiter: Wie könnte so etwas denn sonst finanziert worden sein? Diese Intrigen, das Vernichten menschlicher Energie und ihr absichtliches Verpuffen lassen in gigantischem Ausmaß in Kleinkrieg und Mehrfacharbeit und Arbeitsbehinderung und Reibungsverlusten und was da sonst noch alles gelaufen ist, kostete sehr viel Geld. Wie ausgezeichnet muss es unseren Unternehmen gehen, damit die das alles einfach wegdrücken, ungeniert dabei zusehen und locker bezahlen können? Oder dasselbe Faktum in umgekehrter Betrachtung: Was könnten unsere Unternehmen für Goldgruben sein, und wie unglaublich gut könnte es denen ... auch deren Mitarbeitern ... gehen, wenn sie ihr ganzes Gegeneinander, den unfassbaren Hickhack in ein Miteinander umwandeln? Das würde den Rahmen jeder Vision oder noch so utopischen Vorstellung sprengen. Er meinte, mir die Geschichte so erzählt zu haben, wie sie sich in seinem Kopf zugetragen habe. Da sei zwar ein bisschen Subjektivismus dabei, das könne gar nicht ausbleiben, Phantasie und sogar Hirngespinste seien ebenfalls zugange gewesen. Und obwohl er mehrfach betonte, keine Schuldzuweisungen machen zu wollen, musste ich, um werkgerecht zu bleiben, sie in einigen Fällen benennen. Dann hat er Leute beschimpft und über andere gelästert und sich in vielerlei Hinsicht recht menschlich in seinen Regungen verhalten. Was ich daraus mache, wie ich sie umforme und mit meinen eigenen Worten darstelle, das könne er leider nicht beeinflussen. Da wolle er mir auch weder reinreden noch mich mit erhobenem Zeigefinger zurechtweisen. Ich bin mir ebenfalls im Klaren darüber, dass die eine oder andere Bemerkung auf mich selbst zurückfallen könnte. Gustav Heinemann, der Vorgänger von Walter Scheel auf dem Stuhl des Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, kannte dieses Problem und beschrieb es einmal auf seine Art und mit den Worten:

    „Bei einem ausgestreckten Zeigefinger zeigen immer drei Finger auf einen selbst zurück."

    Dann ist ihm noch ein Zitat dazu einge- Fallen, von einem anderen Schreiber, dessen Namen ... ja, das sei eine seiner Schwächen, leider, aber der wäre ihm nicht mehr erinnerlich. Es hätte ihm dermaßen gut gefallen, dass er es mir dringend ans Herz legen wollte:

    „Ich will mit meinem Schreiben Vergnügen bereiten, allenfalls Vermittler dazu zu sein. Mehr nicht."

    Und konnte eigentlich nicht sich selbst, eher mein Schreiben, gemeint haben. Zu Beginn einer Geschichte ist es oft schwierig, die einzelnen Figuren zuordnen zu können. Um dennoch etwas Überblick zu bewahren, habe ich mir einen Theaterzettel zum Vorbild genommen und gedacht, dass so etwas auch hier hilfreich sein könnte. Auf diesen Zetteln steht nie viel geschrieben. Aber es sind die handelnden Personen und ein paar Anmerkungen zu deren Beziehungsgeflecht.

    Und ein bisschen Theater, ein bisschen viel sogar, liegt ja jeder, so auch dieser Geschichte zugrunde.

    DAS AUTO PORSCHE 914

    EIN WEISSES HÖSCHEN

    Frau Rössner war für ein paar Tage in Urlaub. Dann musste sie einspringen. Das gefiel ihr gut, konnte sie bei einer derartigen Gelegenheit doch immer mal wieder durchblicken lassen, dass sie auf ihrem regulären Arbeitsplatz eigentlich nicht ganz die Richtige und eher etwas unterfordert sei. Aber Frau Rössner mache das gut und sei sehr ordentlich, hier machte sie eine kleine, fast unmerkliche Pause, ja natürlich, die ist ja auch schon lange hier, da kann sich das alles einspielen. Sie wusste, dass ihm nicht nur die große Linie, sondern auch die kleinen Dinge wichtig waren und dass er mit ihrer demonstrativ immer wieder zur Schau gestellten Lockerheit und Ungeniertheit eben diesen kleinen Dingen gegenüber nicht einverstanden war. Er war Perfektionist und liebte es, wenn alles reibungslos funktionierte. Und er fand es noch besser, wenn man diese Perfektion auch sehen konnte.

    Wenn sich jemand unpassend darüber äußerte ... das mochte er gar nicht, hatte er auch den jeweils passenden Spruch dazu, wie diesen:

    „Chaos auf dem Schreibtisch ist Chaos im Kopf. Wie‘s am Arbeitsplatz aussieht, so sieht es auch im dazu gehörenden Kopf aus."

    Oder er repetierte die Weisheiten, die er in den Seminaren des Kollegen Gramm gehört hatte:

    „Ist es um dich herum müllig, kann die dort geleistete Arbeit auch nicht viel anders sein."

    Und ein Beispiel aus der Arbeitstechnik:

    „Ein Werkzeug oder ein anderes Arbeitsmittel legt oder hängt man unmittelbar nach dessen Gebrauch genau wieder dorthin, wo man es zuvor weggenommen hat bzw. wo es hingehört."

    Es war ihm unbegreiflich, dass man für derart banale Weisheiten überhaupt ein Seminar veranstalten, dass so etwas gelehrt werden müsse. Das weiß man, das ist das Normalste von der Welt. Aber nein, die Leute … Es gibt tatsächlich Menschen, die lassen ihr Werkzeug, wenn sie es gebraucht habe, einfach fallen oder legen es irgendwohin, und wundern sich, dass sie beim nächsten Mal, wenn sie das Ding wieder verwenden wollen, suchen müssen. Und noch eines, ganz simpel, eigentlich noch banaler und noch kleinkarierter und überhaupt nicht der Rede wert: Es wäre ihm viel lieber, wenn sie die Unterlagen, die abgelegt werden müssen, nicht irgendwie mit Löchern versieht, einfach solala.

    „Sie haben einen so schönen Locher mit einem Anschlag, der sicherstellt, dass die beiden Löcher immer genau in der Mitte des Papiers entstehen, sodass nachher, wenn die einzelnen Blätter und anderen Teile eines Vorgangs in den Ordnern abgeheftet sind, kein Blatt unten und keines oben übersteht, und damit auch keines verdrückt und auch keines verknautscht wird. Wie sieht das denn sonst aus? Wie eine Zettelwirtschaft. Wir wollen doch perfekt sein. Gefällt Ihnen das wirklich, wenn das so unordentlich ...?"

    Es gab immer wieder Probleme, wenn die Rössner nicht da war und die Schneider sich auf deren Platz setzte ... die Marion Schneider. Sie wollte nicht nur Schneider heißen. Der Name gefiel ihr überhaupt nicht. Es ging damals nicht anders. Ihr Mann wollte das so. Mit spitzem Mund korrigierte sie, ihr richtiger Name sei Marion Schneider. Ja genau, Bond, James Bond echote es dabei nicht nur in seinem Kopf, ob man wollte oder nicht. Irgendwer fragte sie einmal, ob sie nicht lieber auf James hören wolle? Er hätte ihr das mit dem Lochen der Unterlagen und der Ordnung in den Schränken überhaupt nicht zu sagen brauchen. Auf dem Ohr war sie schwerhörig, sie wollte es weder hören noch verstehen.

    „Das mit dem Locher ist doch gar nicht so wichtig. Wenn ein Papier einmal in einem Ordner abgelegt ist, dann ist es weg, ja, weg, verschwunden. Das holt kein Mensch mehr raus. Und selbst wenn, es findet dort ja niemand mehr. Die Ablage ist der beste Papierkorb dieser Welt."

    Ihre Direktheit war manchmal verblüffend und entwaffnend, auch ein bisschen dümmlich, und er musste sich jedes Mal neu überlegen, ob er sich davon provozieren lassen oder es einfach überhören sollte. Es war kaum möglich, über bestimmte Dinge ein sinnvolles Gespräch mit ihr zu führen. Von Arbeit hielt sie nicht viel. Sie machte immer alles gerade nur so, dass es erledigt war. Warum mehr? Und wenn, warum dann sie? Die Geschichte mit dem Kaffee, den sie in ungewöhnlichen Mengen zu sich nahm, ist so ein Beispiel für eine immer mal wieder zu hörende Äußerung:

    „Das Kaffeegeschirr hier ... was machen eigentlich die Putzfrauen, die für unseren Flur zuständig sind?"

    Nur seinetwegen ließ sie die Tassen, Becher, den Zuckertopf und die Löffel nicht mehr irgendwo liegen, sondern stapelte alles auf dem Tablett, das an einer Stelle seitlich im Ablageregal stand ... und auf das sie mit großer Geste hinwies, wenn es um ihre Zuständigkeit oder eben ihre Nichtzuständigkeit ging. Ähnlich verhielt es sich mit dem Dauerbrenner Schriftverkehr. Ab und zu musste etwas korrigiert oder umgestellt werden, das waren oft einfache Rechtschreibkorrekturen, aber auch Dinge, ganze Satzstellungen oder Inhaltsveränderungen, mit denen er nicht zufrieden war und die Unterschriftenmappe unerledigt zurückgeben musste.

    „Hier sind noch zwei Briefe drin, die neu geschrieben werden müssen."

    „Aber das ist doch ... das sind doch Kleinigkeiten. Könnten Sie das nicht einfach mit dem Kuli ausbessern?"

    Wenn er von seiner morgendlichen Runde durch die Werkstätten ins Büro zurückkam und fragte:

    „Wer hat angerufen?"

    konnte sie schon Mal schnippisch kontern:

    „Die melden sich wieder. Das waren zwei von dieser Firma, die vor ein paar Tagen hier waren, wie hießen die denn noch? Ich komm jetzt nicht drauf. Ach ja, und irgendwer wollte wissen ... "

    „Wer wollte was wissen?"

    „Ja, der ruft auch wieder an."

    und fügte noch hinzu:

    „Was würden Sie davon halten ... "

    rutschte auf ihrem Stuhl etwas weiter nach unten, sodass die Beine unter dem Rock länger wurden, legte ihre kleine Lächelfalte um den Mund, stellte den Bleistift, den sie in der rechten Hand hielt, senkrecht auf die Tischplatte, und wiederholte:

    „Was halten Sie davon, ich habe mir so meine Gedanken gemacht, wenn wir den ganzen Laden hier an manchen Stellen etwas lockerer organisieren? Da würden sich viele freuen, ja ganz bestimmt, ich höre das hin und wieder, wir hätten weniger Formalismus und manches könnte viel besser laufen."

    Lockerer organisieren, was das denn nun wieder sollte? Sie meinte zwar manchmal, ihr Verhalten strahle ein über den Dingen Stehen, eine unglaublich souveräne Lässigkeit aus und beides stehe ihr gut. Er empfand das weniger als Lässigkeit, denn als Nachlässigkeit, Faulheit und Schlamperei. Aber das behielt er für sich. Die Zeit, in der sie in seinem Vorzimmer rumturnte, wie das seine Mitarbeiter nannten, würde er auch dieses Mal wieder überstehen. Für sie selbst waren das Manöver und raffinierte Versuche, mit denen sie weiterzukommen hoffte und dann das kleine Sachbearbeiter-Büro am Ende des Ganges verlassen kann. Sie sah ihn nie geradewegs an, sondern hatte, das wirkte wie eine Masche, den Blick leicht von der Seite kommend, eine kleine Brise Lächeln dazu gemischt, das auch so ein bisschen, ein winziges Bisschen nur, obszön freundlich, zu signalisieren schien, dass sie jederzeit auf ein ganz und gar unsittliches Angebot vorbereitet sei. Zumindest kam es ihm so vor. Vielleicht war es gar nicht so, vielleicht tat er ihr in dieser Hinsicht unrecht. Manche Menschen haben dieses Gesicht mit diesem schrägen Blick und dem eingefrorenen Lächeln. Sie haben Glück, und sind viel besser dran als die mit den festgewachsenen und nach unten tendierenden Mundwinkelfalten eines chinesischen Kungfu-Kämpfers, oder einer Angela Merkl. Das Gesicht von der Schneider war nicht das, was man als schön bezeichnen könnte, es war flach, die Nase etwas stupsig, die Wangenknochen lagen zu hoch und der Mund war viel zu schmal. Er erinnerte an jene schmale Schnute, die Fernando Botero mit großer Begeisterung den vielen dicken Frauen verpasste, die er mit großer Hingabe und Verzauberung gemalt hat. Das wusste sie anscheinend und versuchte, mit kräftig und über den eigentlichen Rand der Lippen hinaus aufgetragener roter Farbe nachzubessern. Und ob sie tatsächlich immer einen so gesund erscheinenden Teint hatte, wie es aussah, ist nicht ganz klar. Manchmal konnte er den Puder erkennen. Sie vermittelte einen Anflug zum Ordinären, nicht viel, aber es war zu erkennen ... was sie mit diesem Lächeln auch vorzüglich auszugleichen verstand. Nein, ein Model war sie nicht, ihre Figur war zwar nicht wie die der Botero-Frauen, hätte etwas weniger füllig sein können. Alles an ihr schien zu kurz geraten. Von einer Taille konnte sie nur träumen, sodass es von den Hüften an rundherum ohne Unterbrechung ganz gerade nach oben ging.

    Trotzdem, nein, sie sah nicht schlecht aus. Sie konnte mit Klamotten umgehen und verstand gut zu beurteilen, was vorteilhaft für sie war. Schwarz war ihre Lieblingsfarbe. Auch ihre Haare waren schwarz, zumindest sahen sie so aus. Vor einiger Zeit trug sie einen langen, schmalen und in der Länge schwarz-weiß gestreiften Schal. Er war aus Seide so raffiniert gestrickt, dass er opulent und füllig erschien. Seide ist meistens labbrig, hängt platt und dünn herunter und ist schwer in Form zu bringen. Bei diesem hier war das anders, er sah richtig nach Stoff aus. Und obwohl sie ihn mehrfach um den Hals geschlungen hatte, war er immer noch so lang, dass er vorne und hinten die Hüften umspielte. Die Art und Weise, wie sie sich mit einem Accessoire dekorierte, in diesem Falle eben mit dem Schal, war nun tatsächlich lässig und richtig gekonnt.

    „Wenn sie so viel Stoff um den Hals geschlungen haben, und der dann auch noch so weit herunter hängt, ich frage das jetzt nur, stört sie das nicht bei der Arbeit?"

    „Nee, Sie sehen doch, das geht gut."

    „Ja, das sehe ich. Aber ich wollte es auch noch von Ihnen wissen.

    Und wenn das so ist, dann finde ich es auch gut."

    Und nach einer kurzen Pause schob er nach:

    „Mir gefällt das."

    „Sie haben heute ein neues Auto dabei?"

    „Ich? ... Och, jaa natürlich, das haben Sie schon gemerkt?"

    „Alle haben das schon gemerkt."

    Er benutzte jeden Tag denselben Parkplatz. Und da er gewöhnlich schon früh am Morgen im Büro war, konnten das alle später Kommenden sehen. Petersen, sein Vorgänger, fuhr einen Van einer französischen Marke, fast so eine Art Lieferwagen, da dessen große Familie Platz darin finden musste. Sein neues Auto hingegen war klein, sehr klein ... und es war ein altes Auto. Es war ein gebrauchter Porsche, ein Neunvierzehner, innen und außen ganz schwarz. Hinzu kam, dass die Innengestaltung glatt und rechtwinklig und überhaupt nicht so war, wie man das von einem Auto erwartete. Keine Schwünge und amorphe Bögen und Chromleisten waren darin zu finden, kein Wurzelholz und auch nichts Glitzerndes. Das Armaturenbrett ging von der einer bis zur anderen Seite gerade durch, und auch die Griffe, Klappen und Verkleidungen waren ohne Wülste oder Wölbungen, ganz gerade und in äußerster Stringenz gehalten. Er wurde später als Volksporsche bezeichnet und mit Kohlenkasten verspottet. Es gab nur zwei brauchbare Sitzplätze, dahinter befand sich der Motor, man nannte ihn den Mittelmotor, und dahinter lag eine für einen Sportwagen nachgerade opulente Ladefläche. Minimalismus nannten es die Leute, von Funktionalismus sprachen die Eingeweihten. Es war das Design, oder der Rest des Designs, so müsste man eigentlich sagen, das Ferdinand Alexander Porsche, der damalige Junior in der dritten Generation, bei seiner Stippvisite an der Hochschule für Gestaltung in Ulm vor schon sehr vielen Jahren, das war in den Neunzehnfünfzigern, kennengelernt hatte. Wir nannten ihn alle Buzzi. Es war Ulmer Design pur, so pur, wie es danach nie wieder von irgendjemandem gebaut wurde. Buzzi verbrachte nur eine kurze Zeit auf dem Kuhberg, so ein Intermezzo. Die Hochschule lag auf einem Berg im Westen von Ulm, eben dem genannten Kuhberg. Wahrscheinlich grasten früher dort Kühe. Große Weideflächen schmiegten sich auch zu der Zeit, als sie dort studierten, immer noch sanft über das hügelige Gelände. Das ist nun schon lange her. Heute gibt es dort keine Kühe mehr. Dieses Intermezzo genügte dem Porsche-Junior, um einige der wesentlichen Gestaltungsmerkmale verstehen zu lernen. Da auch er einige Semester an nämlicher Hochschule zugebracht hat, sie hat in der Zwischenzeit einen legendären Ruf bekommen und gilt als die Nachfolgeinstitution des Bauhaus, konnte er behaupten, dass sie beide, ein Spross aus dem Hause Porsche und er, ein Stück gemeinsame Vergangenheit haben. Nach diversen Volkswagen und Fiats hatte er endlich das Auto, das ihm zustand, auch wenn es nur ein gebrauchtes und schon reichlich betagtes Auto war. Es war sein erstes Auto, über das er sich ohne Vorbehalte freute. Einen Porsche wollte er schon immer haben, schließlich stammte er aus dem Heimatland dieser Marke. Da war es denn auch verzeihlich, dass es kein Klassiker, kein Neunelfer war. Bevor es dazu kam, kaufte er sich erst noch die zwischen dem Kohlenkasten und dem Klassiker liegende Type des Neunviervierers.

    Die entsprechenden Frotzeleien, das sei doch gar kein richtiger Porsche, steckte er locker weg. Im Vorfeld hatte er sich, natürlich, wie sollte er das verhindern, immer und immer wieder überlegt und vorzustellen versucht, wie die Reaktionen sein würden, wenn sein neues Auto nun auf dem Hof und dort auf seinem Parkplatz stünde. Schließlich hatte er nie erzählt, dass er sich eines kaufen wollte.

    Warum sie eigentlich hereingekommen war und sich die Lektion mit dem Locher und den ordentlichen Ordnern erteilen ließ, war ihm nicht so ganz klar. Er hatte sie nicht gerufen ... bis sie sich anschickte zu gehen. Schon fast wieder draußen, drehte sie sich noch einmal um und fragte, ob er ihr den neuen Schwarzen nicht mal vorführen könne. Er blickte auf, sah sie eine ganze Zeit lang an, ohne etwas zu sagen und stand dann auf. Nun hatte sie ihn erwischt.

    „Doch, das können wir schon machen ... irgendwann einmal, wenn es sich einrichten lässt."

    „Nein, so habe ich das nicht gemeint, ich dachte jetzt, wir machen das jetzt gleich, das müsste gehen, Sie haben heute Vormittag noch keinen Termin, und ich bin neugierig. Ein schwarzes Auto … und in einem Porsche wollte ich schon immer mal fahren, zumal in einem Oldie."

    „Das geht nicht. Es ist jetzt Vormittag und mitten in der Arbeitszeit."

    „Ich fände es trotzdem gut. Das mit der Arbeitszeit ... das ist doch egal. Wenn Sie mal weg sind ist das nichts Ungewöhnliches, Sie sind doch öfter mal weg ... ohne dass es jemandem auffällt. Das merkt niemand."

    „Ein anderes Mal."

    „Nur mal so, wir sind doch gleich wieder zurück."

    Es war das übliche Wetter in dieser Gegend, grau verhangener Himmel, trübselig und mit völliger Abwesenheit dessen, was man unter freundlich, friedlich und nett bezeichnen würde, ein Wetter für Depressionen. Von Sonne keine Spur. Trotzdem fühlte er sich gut. Es gab jemanden, der sich für sein neues altes Auto interessierte ... auch wenn es nur die Schneider war, die Marion Schneider. Zur Autobahnauffahrt ging es die Heinburger Straße hinauf. Die hatte einige enge Kurven und war von hohen, schlanken Bäumen gesäumt, Pappeln müssten das gewesen sein. Auf der hangabwärts liegenden Straßenseite lagen zwischen den Bäumen große Aufschüttungen mit Ruß. Er war sich überhaupt nicht bewusst war, diese Haufen hier jemals gesehen zu haben. Da die Straße zu ihrer Kurvigkeit noch eine nicht unerhebliche Steigung aufwies, konnte er nicht länger darüber nachdenken. Er musste sich konzentrieren. Dann kam die Auffahrt auf die Autobahn. Es war nicht viel los. Sie saß schweigend neben ihm, hatte die Beine angezogen auf der Sitzfläche und beobachtete ihn von der Seite.

    „Wenn Sie doch auch immer schon so ein Auto haben wollten, warum haben Sie es nicht? Das Geld kann‘s doch nicht sein? Ein altes Auto ... ich habe auch kein Geld."

    „Möchte ich schon."

    „Aber?"

    „Es gibt kein Aber."

    „Nein?"

    „Nein ... "

    Ihr sonstiger Redefluss war wie abgeschnitten. Das Stück bis zur nächsten Abfahrt müsste wohl genügen. Er fuhr sehr moderat und tat so, als ob das immer schon sein Auto war. An der nächsten Abfahrt fuhr er runter, bog über die Brücke ab, in Gegenrichtung wieder drauf und steuerte, als er von der Autobahn runter war, wieder an den Rußbergen vorbei, die Serpentinen der Heinburger Straße hinunter. Diese Rußberge … warum hatte er diese Rußberge noch nie richtig bemerkt? Sie sahen wie Schutthalden aus und reichten bis an die Fahrbahn heran. Ob das überhaupt erlaubt war? Vielleicht war der Ruß, der in dieser Kurve in mehreren riesigen und verschieden aussehenden Aufschüttungen lag, gar kein Ruß? Das Material war auffällig verschieden. Ruß besteht zu fast neunzig Prozent aus Kohlenstoff und wird sowohl als Füllstoff als auch zur Veränderung der elastischen Eigenschaften bei der Herstellung von Gummi verwendet, von Autoreifen zum Beispiel oder von Förderbändern und anderen elastischen Dingen. Die Teile werden dadurch fester oder flexibler, griffiger oder glatter. Und der Ruß bestimmt darüber hinaus und sehr ausgeprägt, deren Farbe. Damit wäre auch das verschiedene Aussehen der Aufschüttungen erklärt. Je nach Korngröße und Korngeometrie, je nach Härte der Partikel und deren Herkunft, ob sie aus der Verbrennung von Holz oder Kohle oder noch etwas anderem herrühren, haben sie nicht nur eine unterschiedliche Geometrie, sondern auch unterschiedliche Grau- und Schwarz-Töne. Und, ja natürlich, nun erinnerte er sich ... ganz in der Nähe gab es tatsächlich einen Betrieb zur Verarbeitung von Gummi ... für irgendetwas aus Gummi, große Teile, Reifen für Traktoren oder Matten, die für Bahnübergänge gebraucht werden ... irgend so etwas.

    „Kennen Sie den?"

    Unterbrach er die eingetretene Sprachlosigkeit ... und überforderte damit seine Passagierin, die ganz andere Dinge im Kopf und ihrer hormongesteuerten Motorik hatte, als sich mit dem Umfeld der Straße zu beschäftigen.

    „Was, wen?"

    „Na hier, die Firma mit dem Ruß ... "

    Die Rußberge lagen dort, wo die Straße innerhalb einer S-Kurve eine nahezu vollständige Spitzkehre machte. Und gleichzeitig ging es steil bergab. Da hätten sie wenigstens zwei Schilder hinstellen müssen: „Kurvenreiche Strecke und: „Glatte Fahrbahn. Das auf die Straße gerollte, krümelige Material wirkte rutschig wie Glatteis. Genau hier wollte er ihr, kurz vor Ende der Fahrt, doch noch zeigen, wie man mit einem solchen Auto fährt. Was konnte sich dafür besser eignen als einige enge Kurven den Berg hinunter? Er wollte aber außerdem sein Wissen über die Verwendung von Ruß zum Besten geben, hatte bereits weiter oben, nach seiner spontanen Frage, damit begonnen, über den Wunderstoff zu dozieren, erzählte, was es mit all dem auf sich hat und warum dieses Material wahrscheinlich hier liegt. Auf diese Weise voll konzentriert musste ihm zwangsläufig entgehen, dass sie sein ganzer Wortreichtum nicht nur überhaupt nicht interessierte, sondern sie in unglaublicher Geschwindigkeit geschickt über den Mitteltunnel zu ihm auf den Fahrersitz herüberrutschte. Sie fiel ihm mit beiden Armen um den Hals, nein, eigentlich fiel sie nicht, sie hing ihm vielmehr mit beiden Armen, sie waren nackt und glatt, um den Hals und versuchte, ihn heftig zu küssen. Es war ein perfekter Überfall, zumal er sich in keiner Weise weder wehren noch darüber freuen konnte. Er hatte keine Hand frei und musste den Kopf weit zur Seite neigen, da er sonst nichts mehr von der Straße, den schwarzen Haufen und den vielen hohen Bäumen gesehen hätte. Die Haufen wurden größer, wurden riesig, bauten sich fast senkrecht vor dem Auto auf, und die Bäume begannen, sich schräg vor dem Fahrzeug zu ihnen herunter zu neigen. Er fühlte ihr Gewicht auf seinem rechten Oberschenkel, mit dem er versuchte, den Fuß vom Gaspedal zu nehmen und auf die Bremse zu gelangen, verspürte ein mächtiges Schlingern und bedrohlich lange quietschendes Rutschen. In jedem halbwegs guten Film wäre ihm das alles rundherum egal gewesen, er wäre mit seinem kleinen Auto mit viel Karacho und Getöse in einen der Rußhaufen hineingekracht, hätte dabei eine tiefe Spur in das krümelig-schwarze und nach Verbranntem riechende Material gepflügt, wäre mit dem Auto ziemlich weit oben, aber immer noch schräg geneigt, zum Stehen gekommen und ihr dann mit eben so viel Karacho unter den schwarzen Rock gegangen. Hoch genug war der schon. Dabei ist ihm, trotz der sogenannten Schrecksekunde, dieser unglaublich kurzen Zeit, in der sich das alles abgespielt hat, aufgefallen, dass ihr Höschen nicht schwarz war. Ansonsten bevorzugte sie immer und überall schwarz. Hier nicht. Das Höschen war auch nicht rosa, beige, inkarnat oder mit Spitzen besäumt, nichts dergleichen, es war weiß und dünn und weich. Aber die Wolle da drunter, die war wahrscheinlich … musste eigentlich schwarz sein, denn die Wolle auf ihrem Kopf ... seine Phantasie entwickelte eine ungeheure Geschwindigkeit. Da es sich bei seinem Auto um ein Cabrio handelte, wäre noch das technische Hindernis des bei derartigen Konstruktionen notwendigerweise überhohen und sehr breiten Mitteltunnels, der zwischen den beiden Vordersitzen angeordnet ist, zu überwinden gewesen. Sie lag mit mehr als ihrer Hälfte darüber ... was sie in den Filmen sicher ganz geschafft hätten, also was soll‘s? Sie hätte dann, wie weiland bei James Bond, zwischen dem Lenkrad und ihm auch noch ausreichend Platz gefunden. Mit einer wackeligen Kameraführung und einigen kurzen Schnitten hätte niemand erkennen können, und wahrscheinlich auch niemand wissen wollen, wie sie technisch überhaupt dorthin gelangen konnte, es wäre alles sehr schnell gegangen, sodass auch der anschließende Quickie längst passiert und gegessen wäre, wenn einige der vorbeifahrenden Autos angehalten und nach dem Rechten gesehen hätten. Vielleicht hätte man ja Hilfe leisten, das Warndreieck aufstellen, überhaupt erst einmal aussteigen und den krümeligen schwarzen Berg hinunter gelangen müssen.

    „Sind Sie verletzt? Hallo ... kann man helfen?"

    Wahrscheinlich wären zeitgleich auch zwei Polizeifahrzeuge mit Sirene und Blaulicht und ein Sankra, der ebenfalls sein Horn eingeschaltet hatte, vorbeigekommen.

    Nun war das aber nicht im Film. Es war in einem, in seinem ganz normalen und gutbürgerlich verklemmten Leben. Mit einem derartigen Temperamentsausbruch der Schneider hatte er niemals gerechnet. Alle möglichen Situationen, was er nun tun könnte oder sollte oder wollte oder doch nicht wollen sollte, rasten durch seinen Kopf. Viele träumen von so einer Gelegenheit. Er aber versuchte, mit seinem neuen Auto die Spur zu halten und so zu tun, als ob nichts gewesen wäre. Das war nicht einfach. Das Auto schlingerte ein paar Mal und geriet auf die Gegenfahrbahn, aber Gott sei Dank war kein anderes Fahrzeug unterwegs. Das erinnerte ihn an eine Zeitungsmeldung aus den letzten Tagen, nach der etwa achtzig Prozent aller Unfälle nicht stattfinden, weil der entsprechende Partner fehlt. So war es nun auch hier. Kein Partner, kein Gegner auf der anderen, auf dessen Fahrbahn in Sicht, und damit auch kein Unfall oder Schaden ... eigentlich gut, eigentlich war alles gerade noch super gut abgelaufen ... wenn nur die Schneider ... ja, was denn? Für sie war überhaupt nichts gut gegangen. Sie war noch nicht wieder ganz auf ihren Sitz zurück geklettert, als sie ihn lauthals anfuhr:

    „Menschenskind, warum hältst du nicht an?"

    Sie war enttäuscht oder gekränkt oder beides zusammen. Die Seele einer Frau war für ihn schon immer ein Buch voller Buchstaben, das aussah, als ob die Buchstaben aus einer Tüte einfach in das Buch hineingeschüttet oder hineingefallen wären. Es waren keine Hieroglyphen, sondern ganz normale Buchstaben. Und trotzdem: Er konnte ihren Text nicht entziffern. Das einzig Tröstliche war, dass es nicht nur ihm so erging, nicht nur er die Inhalte nicht lesen konnte und alleine damit klar kommen musste. Auch berühmte Leute haben sich die Zähne daran ausgebissen, sind gescheitert und haben sich verzweifelt darum bemüht, Sinn, Anleitung oder Verständnis in der Buchstabenfülle zu ergründen. Schopenhauer zum Beispiel und auch Freud versuchten ein Leben lang, diesen Text zu entschlüsseln. Ein bisschen ist es wie mit dem elektrischen Strom, man braucht nicht zu wissen oder zu verstehen, wie er funktioniert, um gehörig einen gewischt zu kriegen. Vielleicht ... er hätte am Straßenrand anhalten und die Filmgeschichte weiter entwickeln, besser noch, ihn in Echtzeit weiterdrehen müssen ... oder weiterdrehen sollen wollen. Aber sie blieb dann ebenfalls passiv, faltete, auf den Beifahrersitz zurückgekehrt, ihre Beine wieder unter den Po und schmollte still vor sich hin. Der Katze ist die Maus, der sie auflauerte und schon beinahe am Schwanz hatte, entwischt. So musste sie sie wieder ziehen lassen. Kurz vor der Mittagspause meinte sie dann, dass sie heute dringend früher nach Hause müsse.

    Das Bergische Land, wie die Gegend südöstlich vom Tal der Wupper auch bezeichnet wird, und in dem sich ein wesentlicher Teil der Geschichten, von denen hier berichtet wird, zugetragen haben, unterscheidet sich von anderen bergigen Landstrichen durch die Umkehrung der Topologie. Es ist ähnlich der Umkehrung einer mathematischen Formel durch den Vorzeichenwechsel. Nichts ändert sich, die Funktionen und Rechenwerte und das absolute Ergebnis, alles bleibt gleich, lediglich die Richtung dreht sich um hundertachtzig Grad, oder das Vorzeichen wechselt von Plus nach Minus oder umgekehrt. Oder, eine geometrische Variante dazu, es wird an einer Ebene gespiegelt. Im Bergischen Land kann man den Eindruck gewinnen, dass die übliche Topologie tatsächlich von unten nach oben gespiegelt wurde. Sie erinnert ihn auch heute noch an das Gallien der Herren Asterix und Obelix, an die Beengtheit in deren Tälern und in den Köpfen der „blöden Römer" (1), die den beiden ständig zu schaffen machten. Im Gegensatz dazu kann man, wenn man eines der Täler durchquert hat und auf der anderen Seite wieder oben auf der Ebene angekommen ist, Weite und Großzügigkeit genießen, in denen man alles nur Denkbare bestaunen, genießen, erfahren und erwandern kann. Nimmt man jedoch einem Asterix und dessen Freund Obelix so widersprüchlich erscheinende Phänomene des beängstigend engen Talgrundes auf der einen, die sagenhafte Weite auf der anderen Seite, als künstlerische Transposition oder als der Phantasie entglittene Großzügigkeit noch locker ab, handelt es sich hier, im Umland um das Tal der Wupper um unumstößliche Realität. Üblicherweise sind Täler in eine Landschaft eingeschnitten, sind breit und haben eine flache Sohle. In der Regel sind sie viel zu breit für die schmalen darin noch fließenden Gewässer oder Rinnsale oder Bäche. Im Bergischen ist das anders. Hier scheinen in eine Hochebene Rillen eingeritzt, die wie zufällig, großzügig und ungenau gemacht, aber nach unten eng und spitz zulaufend sind, ganz so, als ob das Einritzen nicht einfach, vielmehr schwierig und kompliziert zu bewerkstelligen war. Man könnte auch an das Hinterteil des Riesen von Neviges denken ... er glaubte zu wissen, dass der es gewesen sein musste, der sich hier einst niedergelassen, sich auf den Bauch gelegt hat und schließlich eingeschlafen sein soll. Eines der Täler, eng und schmal, könnte so entstanden sein ... allerdings Neviges ... wenn man es genau betrachtet, liegt das nicht nördlich vom Tal der Wupper und gehört gar nicht zum Bergischen Land? Aber wer wird so genau hinsehen, wenn es sich um eingeschlafene Riesen handelt? Es sieht zumindest so ähnlich aus. Steht man auf der Ebene oder fährt darüber, zum Beispiel von Cronenberg über Remscheid und dann noch ein Stückchen weiter, wähnt man sich im flachen Land irgendwo hinter Münster. Man sieht die Täler überhaupt nicht ... es sei denn, dass man ab und zu hinunter muss, um eine dieser Rillen zu queren, dann wird man ihrer Existenz unmittelbar gewahr. Es geht steil hinunter und, auf der anderen Seite, mühsam wieder nach oben. Eine Talrille ist etwas untypisch breiter ausgefallen. Man kann sie nicht einfach queren, muss vielmehr umständlich und quälerisch durch sie hindurch, wenn man auf die andere Seite möchte, zum Beispiel von Mettmann nach Radevormwald oder von Remscheid nach Hattingen. Es ist das Tal der Wupper, die tiefe und dreizehn Kilometer lange Rille zwischen den beiden Arschbacken des bäuchlings liegenden anderen Riesen. Wenn man sich Wupper aufwärts bewegt und am oberen Ende aus dem Tal herausgefahren ist, kommt man, auf dem Wege zur Autobahn in Richtung Remscheid, an jenen Ruß-Aufschüttungen vorbei.

    Als die Schneider und er von der Neues-Auto-Vorführ-Fahrt zurückgekommen waren, stand Lauterbach unten im Flur. Er habe schon gehört ... blieb dabei aber aufgeräumt und sachlich. Sein englisches, in verschiedenen Brauntönen gehaltenes Outfit war, wie so oft, perfekt aufeinander abgestimmt. Und da er sein Holzköfferchen mit den Messingbeschlägen noch in der Hand hielt, konnte er noch nicht allzu lange hier sein, Minuten vielleicht, oder er war auch erst gerade eben angekommen. Ja, er habe schon gehört, dass ein neues Auto auf dem Parkplatz stehe. Lauterbach liebte jede Art von technischem Equipment ... und Autos sowieso. Allerdings bezog sich das Interesse weniger auf schnelles Fahren als auf ungewöhnliche technische Ausstattung und das Design. Das von ihm verwendete Attribut war: nicht alltäglich. Die Fahrzeuge müssen nicht neu sein, aber auch nicht alltäglich. Schön muss auch nicht ... aber darf, kann auch eine spröde Schönheit oder eine nur von ihm so empfundene Eleganz des Fahrzeuges sein. In dieser Hinsicht seiner nicht wählerisch. So schwärmte er denn auch von einem alten Volvo, dem, sich wie zum Sprung nach vorn duckenden, Katzenbuckel-Volvo, den er sich später, wenn er im Ruhestand sei, gönnen wolle. Dann könne er dieses Auto pflegen und genießen. Wenn Lauterbach vom Ruhestand sprach, meinte er üblicherweise den der anderen. Für ihn selbst war ein Ruhestand nur schwer vorstellbar. Er war zwar kein Unruhehansel oder Temperamentsbolzen, aber ideenloses Stillsitzen und Zusehen, ein in den Tag hinein träumen, war nicht seine Sache.

    „Wo wir gerade beim Thema Auto sind, fällt mir ein: Was meinen Sie: Welches ist das schönste Auto?"

    „Das Schönste, was heißt das, das Schönste, das schönste Auto, das Schönste von was, von welcher Art oder Größe oder Marke, das Schönste weil es vergoldet ist oder weil Konrad Adenauer einmal darin gefahren wurde ... ich denke, der Porsche 550 Spyder, mit dem sich James Dean zu Tode brachte, ist eines der schönsten Autos ... was meinen Sie?"

    „Das spielt keine Rolle, ganz einfach, ich meine das schönste Auto der Welt. Nun, ich will es ihnen sagen: Das schönste Auto der Welt ist das Firmenauto ... egal welche Marke, egal welche Größe, egal welche Ausstattung, und egal was es sonst noch für eines sein mag."

    Warum erzählte er ihm etwas über ein Firmenauto? Sie wussten doch beide, dass so etwas in absehbarer Zeit für ihn nicht erreichbar war. Selbst wenn er eines Tages Chef der Entwicklung sein sollte, wovon noch nie die Rede war, wäre er erst Hauptabteilungsleiter. Und die haben in diesem Hause alle keinen Firmenwagen. Aber vielleicht wollte Lauterbach damit nur erklären, warum er selbst nicht das Auto fuhr, von dem er träumte. Er sei gekommen, um ihm über ein paar Dinge zu berichten, die zu wissen ganz nützlich sein könnten. Und dazu müsse er ein wenig ausholen, auch wenn das eine oder andere Detail schon bekannt sei.

    „Das Unternehmen ist eine Holding, und in dieser Holding sitzt die Unternehmensleitung und sitzen die Inhaber. Die Eigentümerfamilie war in der weiter zurückliegenden Zeit äußerst zurückhaltend. Lediglich der Senior, der das Unternehmen stark geprägt hat, mischte sich noch ein. Die Leitung hatte man einem familienfremden GB ... "

    Er sagte nicht GeBe sondern Tschibi,

    „ ... einem Generalbevollmächtigten übertragen. Der hatte nicht nur große und ambitionierte Pläne, der hatte auch ungewöhnliche Vorstellungen, wie man ein Unternehmen führt. So wollte der GB zum Beispiel die Hierarchien flacher machen."

    Das hörte sich gut an, flacher ist das Gegenteil von steil und zerklüftet, von mühsam und oft unüberwindbar. Nun also flacher, flacher machen. Manchmal hieß flacher machen nichts anderes als schlanker machen, eine Organisation schlanker machen ... und meint billiger machen. Darunter kann man sich zwar alles Mögliche vorstellen. Es kann alles sein, vieles ... bis hin zum Nichts. Es war eine von den immer wieder aufflammenden Modeerscheinungen im Management, denen viel Wundersames zugeschrieben wurde, um mit den Leuten in einem Unternehmen besser und schneller und billiger arbeiten zu können. Später kam das Kaizen dazu und dann der Blödsinn mit der Worthülse Performance. Wir müssen die Performance des Unternehmens verbessern. Das waren meist keine Unternehmer, die solches von sich gaben, das waren Wichtigtuer, Schwätzer, die null Ahnung davon hatten, worüber sie redeten. Dabei hat sich an den beiden Grundeigenschaften, die seit Jahrtausenden unverändert gelten, nichts geändert: Nur mit Wissen und Können einerseits und mit Tun, man kann auch arbeiten sagen, andererseits, lässt sich die Überholspur bewältigen. Im Zusammenhang mit flacher und schlanker wurde immer wieder das Beispiel des schwedischen Autohersteller Volvo zitiert, der sowohl mit einer ungewöhnlichen Organisationsstruktur, als auch einer veränderten Fertigungsmethode für viel Aufregung in den Manageretagen gesorgt hatte. Bei Volvo ist damals das Fließband abgeschafft worden. Stattdessen haben sie sogenannte Inseln installiert, in denen jeweils eine Gruppe von Arbeitern größere Einheiten eines Fahrzeuges zusammenbauen musste. Die dazu notwendige Arbeitsaufteilung sollten diese Gruppen, eben mit einer Hierarchiestufe weniger, in eigener Regie übernehmen.

    „Und der GB wollte … "

    fuhr Lauterbach fort,

    „in großem Stile expandieren. Sie erinnern sich an das letzte FKM? Das war das, ich meine das Führungskräfte-Meeting, an dem Sie als neuer Mitarbeiter der Hauptabteilung Forschung und Entwicklung teilgenommen haben. Sie waren gerade ein paar Tage bei uns. Da hatte er ausschweifend darüber berichtet und Pläne für große Bauvorhaben und Diagramme für neue Märkte vorgestellt und darüber doziert, was man alles im Köcher habe, wo es hingehen solle und worauf wir uns demnächst einzustellen hätten. Der GB wollte aus der Firma so etwas wie einen Konzern machen, ein ganz großes Unternehmen."

    „Ja natürlich, daran kann ich mich noch erinnern, obwohl ich gestehen muss,

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