Taxi 303
Von Hans Heidsieck
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Buchvorschau
Taxi 303 - Hans Heidsieck
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1.
Madame Didier räkelte sich, sah blinzelnd auf die Weckuhr und sprang aus dem Bett. Dreiviertel sieben.
„Erneste! He! Erneste! Aufstehen!"
Der kleine Erneste gab keine Antwort. Er schlief noch den glücklich-friedlichen Schlaf des Kindes. Das eine seiner Händchen hing über den Bettrand.
Neben Erneste lagen die beiden kleineren Kinder in einem Sonderbettchen. Sie brauchten noch nicht in die Schule zu gehen.
Madame Didier huschte nervös hin und her, lief zur Küche, setzte die Milch auf, wusch sich in der Küche flüchtig Gesicht und Hände und lief dann wieder ins Zimmer zurück.
„He! Erneste, kleines Kerlchen, nun wird es aber Zeit! — Wo der Vater nur heute bleibt?"
Wenn ihr Mann, der Taxichauffeur Jean Didier, Nachtdienst hatte, war sie stets etwas aufgeregt. Wie oft hatte man schon gehört, dass so ein Fahrer nachts überfallen, ja niedergeschossen wurde. Dagegen gab es bis heute noch keinen vollkommenen Schutz. Was nützte es schon, dass Didier eine Waffe bei sich trug, wenn der andere flinker war oder ihn gar von hinten heimtückisch überfiel?
Die kleine Frau nahm den Jungen hoch, stellte ihn auf einen Stuhl. Der Knabe rieb sich die Augen. Dann reckte er sich. Schliesslich schlang er die Arme um den Hals seiner Mutter und sagte:
„Ich habe so viel geträumt."
„Was hast du geträumt, mein Kind? fragte Madame Didier. „Hast du etwas Schönes geträumt?
Der Junge schlüpfte in seine Hosen.
„Von Papa, Mutti! berichtete er. „Ja, da kam ein Mann — und der hat Papa mit einem Knüppel gehaut!
„Gehauen heisst das, mein Jungchen — gehauen. Aber ist das wahr? Der Mann hat den Papa gehauen? Na — und was hat der Papa gemacht?"
„Der Papa ist hingefallen ... und dann — ja, dann ist er ganz ruhig liegengeblieben."
„Mein Gott! stöhnte die Frau. „Mein Gott! Ob ihm wirklich etwas zugestossen ist?
Sie strich sich mit zitternden Fingern über das noch unordentliche Haar. Hastig eilte sie zur Küche zurück, sah aus dem Fenster. Kam er denn immer noch nicht? Er müsste längst hinter dem Neubau aufgetaucht sein. Wo er nur heute blieb?
Mit ihren Gedanken bei Jean, machte sie ihren Knaben fertig, wusch ihn, kämmte ihn, gab ihm die Milch zu trinken und ein Stückchen Schmalzbrot dazu. Dann musste er sich schon fertig machen, den Ranzen über die Schulter nehmen. Ein Kuss noch. — „Leb wohl, mein Junge!"
Schon stapfte er mit seinen kleinen Füssen die Treppe hinunter. Madame Didier blickte ihm nach.
„Wenn du den Vater siehst, rief sie, „so sag ihm, er soll sich beeilen, hörst du?
Ein schwaches „Ja, ja!" kam zurück. Der Junge steuerte schon auf den Neubau zu.
Es war trübe draussen, regnerisch, dunkel, sehr kühl. Die jungen Blätter der Bäume waren von Tau benetzt. Ein Milchwagen fuhr klingelnd vorbei. Zwei Strassenkehrer schwatzten laut miteinander. Nebenan zog jemand mit grossem Getöse die Jalousien hoch.
Madame Didier setzte das Kaffeewasser auf. Wenn ihr Mann kam, wollte er immer erst einen starken Kaffee trinken. Er hatte gewiss gefroren in dieser kalten Nacht. Aber warum kam er noch nicht?
Sie warf einen Blick auf die Küchenuhr. Mittlerweile war es dreiviertel acht geworden. Jean musste längst hier sein.
Ihre Unruhe wuchs mit jeder Minute. Der Traum des Jungen ängstigte sie mehr, als sie sich eingestehen wollte. Unfähig, jetzt ihre gewohnte Arbeit zu erledigen, trat sie wieder ans Fenster und schaute auf die Strasse hinaus. Arbeitertrupps kamen vorüber. Wagen um Wagen rollte vorbei. Der Geschäftsverkehr setzte ein. An der Ecke sauste klingelnd und rasselnd die Strassenbahn über die Schienen. Ein Hund schlich mit eingezogenem Schwanz über den Damm. Der Müllabfuhrwagen hielt vor dem Nachbarhaus. Zwei gelblich bestaubte Männer schleppten die schweren Kästen aus dem Hause heraus.
Madame Didier sah das alles — und sah es doch nicht. Immer wieder glitt ihr Blick zu dem Neubau hinüber. Dort musste er um die Ecke kommen, jeden Augenblick. Der grosse, breitschultrige Mann stand ihr deutlich vor Augen, mit seinem etwas schwerfälligen, wiegenden Gang. Die Chauffeurmütze zog er meistens über das linke Ohr.
Da! War er das nicht ..?
Nein. Ein anderer. Ihre Erregung narrte sie schon.
Die Minuten verrannen. Es schlug bereits acht. Aus der Stube drang Kindergeschrei. Eglantine, das Mädchen, war wach geworden. Was hat sie nur? Warum schreit sie?
Madame Didier eilte zu dem Kind, nahm es auf und beruhigte es. Aber es liess sich lange nicht beruhigen. Es schrie nur noch mehr. Die Frau war ganz ausser sich. Sie konnte jetzt nicht einmal hören, wenn draussen die Wohnungstür knarrte. Jeden Augenblick musste sie doch knarren — meinte sie.
Aufgeregt legte sie die Kleine ins Bett zurück. Mag sie brüllen — mein Gott, sie wird Hunger haben. Madame Didier ging in die Küche zurück, um ein Süppchen zu kochen. Jetzt konnte sie auch von Zeit zu Zeit wieder einen Blick aus dem Fenster werfen.
Als die Kleine besorgt war, liess es ihr keine Ruhe mehr. Sie eilte zum Kaufmann hinunter. Ob sie mal telefonieren dürfe.
„Aber gewiss doch, Madame — was gibt’s denn? Sie sind ja so aufgeregt?"
„Mein Mann —!" sagte sie nur und hob schon den Hörer auf; rief die Garage an.
„Wer ist dort? Madame Didier? Ihr Mann? Warten Sie einen Augenblick, ich will einmal nachschauen."
Der Augenblick wurde zu einer Ewigkeit. Endlich — endlich kam der Mann wieder zurück an den Apparat. „Ja, bitte?"
„Ihr Mann ist noch nicht wieder da, Madame Didier. Vielleicht hat er noch eine weite Fahrt nach auswärts bekommen. Das wäre ja nichts Beunruhigendes."
Madame Didier hängte ein. Sie war ausser sich.
Nichts Beunruhigendes!
2.
„Hier Aufnahme!"
„Hier Polizeipressedienst. Wir geben Ihnen eine wichtige Nachricht durch. Heute nacht wurde auf der Landstrasse zwischen Corbeil und Melun der Taxichauffeur Jean Didier an seinem Steuer sitzend tot aufgefunden — haben Sie das?"
„Ja — tot aufgefunden."
„Man stellte an seiner Stirn eine Schusswunde fest. Seine Geldbörse war entwendet. Offensichtlich liegt Raubmord vor. Haben Sie?"
„Raubmord vor — ja, bitte, weiter!"
„Vom Täter fehlt vorläufig jede Spur. Die Ermittlungen sind im Gange."
„Im Gange."
„Das Publikum wird gebeten, zur Aufklärung beizutragen. Didiers Standplatz befand sich am Pont Royal. Hier nahm er, wie zwei seiner Kollegen bekunden, nachts gegen drei Uhr noch eine Fahrt an. Der Fahrgast wird als ein kleiner, schmächtiger Mensch in einem hellen Uebermantel geschildert. Wer irgendwie diesen Vorfall beobachtet oder nach der angegebenen Zeit den Wagen Nummer dreihundertdrei mit der Polizeinummer 852 754 gesehen hat, wolle sich sofort im Polizeipräsidium, Zimmer hundertvierzehn, bei Kommissar Berreux melden. Fernsprechnummer des Polizeipräsidiums, Apparat 577. Sämtliche Angaben werden auf Wunsch vertraulich behandelt — haben Sie alles verstanden?"
„Jawohl."
„Bringen Sie diese Notiz in das Mittagsblatt, wenn ich bitten darf. Irgendein Kommentar dazu ist vorläufig nicht erwünscht."
Am Tatort wurden verschiedene Lichtbildaufnahmen gemacht. Kommissar Berreux untersuchte die Wagenspur. Offensichtlich war der Wagen ganz normal abgebremst worden. Der Fahrgast musste den Chauffeur also zum Halten veranlasst haben.
Die Strasse stieg an der Stelle erheblich an. Einige Schritte weiter auf Melun zu führte ein Weg links nach der Försterei. Die Waldung machte hier überall einen dichten und düsteren Eindruck.
Zur Rechten fiel das Gelände nach der Seine zu ab. Die Tat war zweihundert Meter vor dem Kilometerstein 37 geschehen.
An Fussspuren konnte nichts Besonderes mehr festgestellt werden. Sie waren durch zahlreiche andere Leute, die den Tatort besuchten, bereits verwischt. Auch das Ansetzen eines Hundes blieb ohne Erfolg.
Berreux wandte sich an seinen Assistenten, den Kriminalsekretär Bout. „Der Täter, behauptete er, „hat sich diese Stelle wohlweislich ausgesucht. Erstens einmal gab er dem Fahrer gegenüber wohl die Försterei als Ziel an, zu der dort der Weg links abbiegt. Er konnte behaupten, dass er das Stück nun laufen werde. Und ausserdem steigt hier die Strasse erheblich an, so dass er die Möglichkeit hatte, mit einem Lastzug, der da auch nur langsam hinauffahren kann, nach Melun weiterzukommen. Lastzüge kommen hier ja nachts öfter vorbei.
Ein anderer Herr von der Mordkommission trat auf den Kommissar zu. Er hielt mehrere Zigarettenstummel in seiner Hand, die er zum Teil im Aschenbecher, zum Teil auf dem Boden des Wagens gefunden hatte. Einige Zigaretten waren nur bis zum letzten Drittel aufgeraucht, ein deutliches Zeichen dafür, dass der Täter äusserst nervös war. Die Marke konnte leicht festgestellt werden. „Orient drei" stand auf dem dünnen Papier. Das war bereits ein wenn auch nur kleiner Anhaltspunkt.
Berreux untersuchte nun seinerseits den Wagen auch noch einmal genau. Schliesslich fand er in der linken vorderen Tür eine Einschussöffnung, in der auch noch das Geschoss stak. „Sechs Komma fünf Millimeter!" stellte er fest.
Nun musste noch die Umgebung des Tatorts abgesucht werden, ob man irgendwo vielleicht auch die Waffe fand.
Fussspuren führten zu einem Tümpel, der etwa fünfzig Schritte von der Stelle entfernt lag. In diesem Tümpel konnte die Waffe sein. Es machte viel Mühe, ihn abzutasten. Aber man zog nur einige alte Blechbüchsen aus ihm hervor.
Berreux überliess das Weitere seinem Assistenten und begab sich mit dem Dienstwagen nach der Tankstelle, die drei Kilometer vor Melun an der Strasse lag. Der Tankwärter wusste schon, was sich ereignet hatte, und gab ihm erregt Auskunft. Ja — fünf oder sechs Lastzüge waren während der Nacht in Richtung Melun hier vorbeigekommen. Von dreien konnte der Mann auch die Firmen nennen, denen sie zugehörten. Auch mehrere Privatwagen hatten die Strecke befahren.
Berreux schrieb sich die Namen der Lastwagenfirmen auf, bedankte sich und fuhr nach Corbeil zurück. Hierher nahm er den Landgendarm mit, dem der Vorfall zuerst gemeldet wurde, und der sich dann sofort an den Tatort begab. Der Landgendarm musste dem Kommissar noch einmal genau berichten, wie es zu der Entdeckung des grausigen Geschehnisses kam. Der Milchwagenkutscher einer Molkerei in Melun hatte ihn von der Försterei aus angerufen. Er fuhr in den frühen Morgenstunden an der einsam auf der Landstrasse stehenden Taxi vorbei, ohne dass ihm zunächst etwas auffiel. Aber dann kam ihm die Sache doch wohl etwas merkwürdig vor. Er hielt seinen Wagen an, trat auf die Taxi zu und entdeckte nun, dass der Fahrer tot war. Er sah auch die kleine Wunde an seiner Stirn. Grausen packte ihn. Hastig leuchtete er mit einer Taschenlampe alles ab. Kein weiterer Mensch war in der Nähe. Unheimlich drohte der Wald. Ob in ihm noch der Mörder steckte?
Wie ein Verfolgter stürzte der Kutscher zur Försterei, um zunächst dort seine furchtbare Entdeckung bekanntzugeben. Nachdem man die Polizei fernmündlich benachrichtigt hatte, begab sich der Förster mit ihm zum Tatort zurück. Aber hier konnte nun vorläufig nichts weiter geschehen. Der Förster sorgte dafür, dass nichts verändert wurde.
Der Landgendarm hatte die Meldung sofort nach Paris weitergegeben. Ganz kurze Zeit, nachdem er am Tatort eingetroffen war, erschien auch schon Kommissar Berreux aus Paris.
Der Kommissar besprach nun mit ihm, was er alles veranlassen und dass er unbedingt feststellen sollte, ob jemand während der Nacht die Durchfahrt der Taxi dreihundertdrei beobachtet hatte.
Danach begab er sich nach Paris zum Pont Royal, um an dem Standplatz, von dem aus Didier die verhängnisvolle Fahrt antrat, seine Nachforschungen anzustellen.
3.
Berreux nahm sich zunächst einen älteren Fahrer vor, der während der Nacht hinter Didiers Taxi gestanden hatte. Um ihn und den Mann herum standen im Handumdrehen eine Menge Leute, vor allem auch die anderen Chauffeure, und der Kreis der Neugierigen wuchs rasch.
„Sie beobachteten also den Vorgang, wie der Fremde an Ihren Kollegen herantrat? Hörten Sie auch, was er sprach?"
„Nein, verstehen konnte ich nichts."
„Wann war das denn überhaupt?"
„Zwanzig Minuten vor drei, Herr Kommissar!" liess sich ein anderer, jüngerer Fahrer vernehmen.
„Wissen Sie das genau?" wandte sich Berreux diesem zu.
Der Mann rückte an seiner Mütze. „Ja — nämlich, Herr Kommissar — das war so: der Fremde hatte erst mich gefragt, ob ich ihn nach dem Forsthaus zwischen Corbeil und Melun fahren wollte. Ich rechnete mir erst die Zeit aus, und dazu blickte ich auf die Uhr. Der Fremde schien es sehr eilig zu haben — er trat immerzu von einem Fuss auf den anderen."
„Sie haben ihn also genau gesehen?"
„Genau? Hm, das will ich nicht gerade sagen. Er stand im Schatten, ja — jetzt hinterher kommt es mir in den Sinn, dass er sich absichtlich so in den Schatten stellte. Jedenfalls war er recht klein und hatte ein schmales, spitzes Gesicht. Er trug einen hellen Mantel."
„Können Sie ihn mir sonst noch etwas näher beschreiben?"
„Nein."
„Sprach er ein reines Französisch — oder vielleicht einen Dialekt?"
„Nein — er sprach so, wie man hier in Paris spricht."
„Was für einen Hut hatte er auf?"
„Er trug einen weichen, runden Hut. Auch schien er ganz gut gekleidet zu sein. Aber das kann man im Dunkeln ja nicht so sehen."
„Also erzählen Sie weiter, er fragte Sie ..."
„Er fragte mich, ob ich ihn nach dem Forsthaus fahren wollte, und was das wohl kosten würde. Ich lehnte es aber ab, als ich sah, wie spät es schon war, jedenfalls nannte ich ihm einen Preis, auf den er unmöglich eingehen konnte."
„Und warum taten Sie das? Sie hätten doch noch einen schönen Verdienst gehabt."
„Ich weiss nicht, Herr Kommissar — aber die ganze Geschichte kam mir nicht recht geheuer vor. Als dann der Fremde zu Didier herantrat, gab ich dem einen Wink. Aber er sah es wohl nicht — jedenfalls nahm er den Fremden als Fahrgast an."
„Sie kannten den Mann also nicht? Hatten ihn noch niemals hier in der Nähe gesehen?"
„Nein."
„Hatten Sie oder Didier schon vorher Fahrten gehabt?"
„Ja — ich war gerade zurückgekommen. Didier stand länger da. Daher gönnte ich ihm auch die Fahrt. Er war immer ein guter Kerl."
Der ältere Fahrer bestätigte diese Behauptung und strich sich über den rauhen Bart. „Und nun ist er tot. Das hätte genau so gut auch einen von uns treffen können. Hättest du die Fahrt angenommen, Guillaume, so hätte er dich hingemacht!" wandte er sich seinem jüngeren Kollegen zu.
Der Kommissar wollte noch verschiedenes wissen: aus welcher Richtung