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Ainias Schweigen: Band 3 - Ein Themiskyra-Roman
Ainias Schweigen: Band 3 - Ein Themiskyra-Roman
Ainias Schweigen: Band 3 - Ein Themiskyra-Roman
eBook343 Seiten4 Stunden

Ainias Schweigen: Band 3 - Ein Themiskyra-Roman

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Über dieses E-Book

"Gewissensbisse plagten mich. Ein paar Mal war ich drauf und dran, meine Pläne über Bord zu werfen und ihr einfach die Wahrheit zu sagen. Aber ich durfte nicht riskieren, Ces zu verlieren…"

Die globale Erschöpfung der Erdölvorräte hat die zivilisierte Welt in die Knie gezwungen. Ainia ist bei einer Gruppe von Schwarzhändlern untergekommen, und als sie dort den attraktiven Cesare aus den Clans kennenlernt, verfällt sie ihm sofort. Doch obgleich er ihre Gefühle zu erwidern scheint, kann er ihnen nicht nachgeben, denn er ist seiner Yashta Ell verpflichtet, und diese zu verlassen würde die Existenz seiner Familie aufs Spiel setzen. Auf der Suche nach einer Lösung für ihre verzwickte Lage stößt Ainia auf ein Geheimnis, das ihre gewagtesten Vermutungen übertrifft und ihr ein Druckmittel gegen die mächtigste Amazonenherrscherin des Landes in die Hand gibt. Doch dann wird Ell entführt und die Ereignisse überstürzen sich…
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum17. Apr. 2019
ISBN9783746959689
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    Buchvorschau

    Ainias Schweigen - Dani Aquitaine

    KAPITEL 1

    „Möchtest du Senf zu deinem Senf? Oder lieber Senf?" Homer tauchte aus einer der Kisten im Lager auf und hielt in jeder Hand ein identisches Glas hoch.

    Ich zog ein Gesicht. „Nein, danke. Ich nehme Senf. Dann stellte ich die Kerze ans schmale Fenster, setzte mich auf eine leere Holzkiste und schlug die Hände vor das Gesicht. „So geht’s nicht weiter.

    „He, bleib da, ich brauche Licht", beschwerte sich Homer.

    „Wofür?, fragte ich sarkastisch. „Es ist nichts mehr da. Außer Senf. Und den erkennst du mittlerweile auch im Dunkeln.

    Der Strom war vor ein paar Monaten ausgegangen und seither nicht wiedergekehrt. Wir hatten zwar zwei riesige Solarplanen auf dem Dach und Marlon forschte nach Möglichkeiten, eine seiner Meinung nach irgendwo unterhalb des Geländes befindliche Heißwasserquelle aufzutun, aber bislang war das nur diffuse Zukunftsmusik. Bis dahin nutzten wir eben Kerzen und Fackeln zur Beleuchtung und wuschen uns kalt mit dem Wasser, das wir aus dem Brunnen vor der Halle pumpten und in Zubern zu den Duschkabinen schleppten. Das Trinkwasser holten wir in großen Fässern von einer Quelle, die fast vierzig Kilometer entfernt lag. Im Zuge des Verfalls hatte es einige unschöne Chemieunfälle gegeben, und mit dem Stromausfall hatten auch die Klärwerke versagt; seither war das Leitungswasser nicht mehr trinkbar.

    Der Kühlschrank bestellte nichts mehr und das zugehörige Logistikunternehmen, das uns zuletzt lediglich mit einer Palette Senf bedacht hatte, existierte nicht mehr. Die Feuerstelle war unser Herd. Nur, dass es eben gerade nichts zu kochen gab. Und das musste sich ändern.

    „Mir reicht’s!", knurrte ich und stampfte hinaus.

    „Freundlich und diskret", rief mir Homer noch hinterher.

    Als ich Shirokko mal vor allen seinen Mannen rund gemacht hatte, weil seine zunehmend langhaarige Meute es nicht für nötig hielt, die Haare aus dem Abfluss in der Dusche zu ziehen und ich dann die Überschwemmung wegpümpeln musste, hatte er sich mich – nicht wortwörtlich – zur Brust genommen.

    „Du untergräbst meine Autorität vor den Männern", hatte er geschnaubt, nachdem er seine Zimmertür hinter uns zugeworfen hatte.

    „Deine Autorität?, echote ich. „Du hast die Typen überhaupt nicht im Griff! Was ist das hier für ein Kindergarten! Habt ihr schon mal was von Disziplin gehört?

    O Artemis, ich hörte mich an wie meine eigene Mutter. Aber es half nichts, irgendjemand musste ihnen ja mal den Kopf zurechtrücken.

    „Ich führe meine Männer, wie ich es für richtig halte", donnerte er und raufte seine wilde, blonde Mähne.

    Ich wich nicht zurück, meine Arme blieben vor der Brust verschränkt. Ich hatte in Themiskyra so viele Donnerwetter von Jacintha und der Paiti einkassiert, ein wütender Wikinger juckte mich nicht die Bohne.

    „Sei dankbar, dass du hierbleiben darfst, schimpfte dieser weiter, „und sieh mal lieber zu, dass du dir ein sinnvolles Betätigungsfeld suchst. Und, nein – ich meine damit nicht die Neuordnung unserer Verhaltensregeln.

    „Schade. Ich hätte einige gute Ideen."

    „Das möchte ich wetten. Klär deine Probleme direkt mit den Männern oder besprich dich in Ruhe mit mir. Sonst fliegst du hier raus! Ist das klar?"

    „Klar", gab ich unbeeindruckt zurück.

    Als ich nun die Metallstufen zur Zwischenetage hinaufpolterte, dachte ich mir jedoch: Shirokko kann mich mal. Dann flieg ich eben hier raus, aus der kalten, zugigen Halle, in der es nichts gibt außer Chaoten, ohrenbetäubender Musik und Senf. Warum bemühe ich mich überhaupt?

    Weil mir die besagten Chaoten ans Herz gewachsen waren. Nicht als ’Shimet – über die war ich nachhaltig hinweg. Sondern als Menschen, Gefährten, Freunde, teilweise Vertraute. Nur deswegen war ich nicht nach Urba zu Biskaya und den Mädels zurückgekehrt, sondern hing immer noch in Citey fest. Dennoch – ich musste ein ernstes Wort mit Shirokko reden. Freundlich. Und diskret. In seinem Zimmer.

    Ich wartete sogar nach dem Anklopfen seine Antwort ab, bevor ich eintrat.

    „Wir hungern, kam ich ohne Umschweife zum Punkt. Shirokko sah auf. Er lag auf einer abgewetzten Ledercouch herum und machte, mit Kugelschreiber und Papier bewehrt, den Anschein, als wolle er ein Gedicht verfassen. Oder einen Brief. Mit etwas Glück eine Einkaufsliste. „Das tut mir leid. Es ist zurzeit schwierig …

    „Unsinn, unterbrach ich ihn und setzte mich ungefragt auf seinen thronartigen, mit Schnitzereien verzierten Sessel hinter dem leeren Schreibtisch. „Wir hätten locker genug, wenn du nicht das letzte Gold in das letzte Benzin der Stadt gesteckt hättest.

    „Die Männer brauchen ihre Motorräder."

    „Unsinn. Kein Mensch braucht mehr Motorräder. Macht euch unabhängig von den alten Brennstoffen! Ist doch ohnehin nur Verzögerungstaktik."

    Er taxierte mich unwirsch. „Was schlägst du vor?"

    „Holt euch Pferde. Baut den Stall aus. Verkauft den Sprit, der noch in den Tanks der Motorräder steckt, und habt ein sorgloses Leben."

    „Unsinn, erwiderte jetzt Shirokko, legte Papier und Stift beiseite und setzte sich schwungvoll auf. „Die Männer brauchen ihre Maschinen. Das ist wichtig für den … Geist.

    Ich sah ihn vielsagend an.

    Er ließ sich nicht provozieren. „Sonst noch was?"

    „Ja, schnappte ich, beleidigt über eine solche Uneinsichtigkeit. „Ich gehe auf die Jagd. Was dagegen?

    „Äh, nein. Natürlich nicht."

    „Gut." Ich stand auf und marschierte zur Tür.

    „Nimm einen von den Männern mit."

    „Kein Bedarf."

    Die Jagd war nie mein favorisierter Arbeitsbereich in Themiskyra gewesen. Mit Pfeil und Bogen konnte ich halbwegs umgehen, aber ich schoss bei Weitem lieber auf Strohzielscheiben, als auf lebendiges Wild. Warum? Erstens: Das frühe Aufstehen. Die Jagd beginnt in Themiskyra im frühen Morgengrauen. Definitiv nicht meine Zeit. Zweitens: Das Töten.

    Gegner niederzustrecken stellt kein Problem für mich dar. Aber ein Tier ist kein Gegner, es hat einfach das Pech, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein und einer hungrigen Amazone ins Visier zu geraten. Und drittens: Die Plackerei danach. Sprich: Aufbrechen. Herumschleppen. Fell abziehen. Rupfen. Abschuppen. Was auch immer.

    Für frühes Aufstehen war es zu spät, aber alles andere war und blieb unerfreulich. Die Fabrikhalle lag im Süden der Stadt; auf dem Rücken meines geliebten, energischen Fuchshengstes Chiimori war ich also weiter Richtung Süden geritten, bis ich auf Wald stieß. Da ich mich nicht auskannte, pirschte ich auf gut Glück durch die Gegend, sammelte nebenher ein, was mir an Essbarem unterkam, und fand nach ein paar Stunden ein Wildschwein. Es durchwühlte den Boden arglos nach Würmern und tat mir in dem Moment leid, als ich es erblickte. Doch ich ließ mir keine Zeit zu zögern, legte an, löste den Pfeil, erlegte das Tier, erledigte den Rest mit einem Messer. Dann sank ich zurück ins Gras und schloss die Augen.

    „Danke, flüsterte ich, „danke dir, Artemis, dass du mir den Weg gewiesen hast, danke dir, Wald, für dein Geschenk, danke dir, Wildschwein, für dein Opfer.

    Ich hatte Glück, es war eine relativ junge, schlanke Bache; dennoch brach ich unter ihrer Last fast zusammen, als ich das ausgeweidete Tier in ein großes Tuch gehüllt auf Chiimoris Rücken schnallte. Da ich dem Aspa nicht noch mehr Gewicht aufbürden wollte, führte ich es am Zügel zurück in die Stadt, wo ich unter großem Hallo von Shirokkos Mannen in Empfang genommen wurde.

    „Wolltest du nicht Vegetarierin werden, wenn der Verfall kommt?", erkundigte sich Homer und seine dunkelbraunen Augen glitzerten spöttisch hinter den schwarz umrandeten Brillengläsern, während die anderen mein Aspa von seiner Bürde erlösten.

    „Würde ich sofort. Ich warf ihm ein kleines Säcklein entgegen, in dem sich gerade mal eine Handvoll Pilze und ein Dutzend winziger Erdbeeren befanden. „Aber wir haben nicht rechtzeitig angebaut und den stadtnahen Wald haben die hungrigen Städter schon ziemlich kahlgefressen.

    „Warum hast du deine Möhrensamen nicht gesät?"

    Die hatte ich mal im Anflug von Panik erworben, als Homer mir klar gemacht hatte, dass der Verfall keine vorübergehende Erscheinung, kein PR-Gag, kein Sommerloch-Füller und kein Polit-Hintertürchen war, sondern bitterer, tödlicher Ernst. Homer war mir der Vertrauteste unter den Mannen und der Einzige, der mir in meiner Anfangszeit bei Shirokko dankenswerterweise nicht den Hof gemacht hatte. Stattdessen hatten wir das Lagerfeuer vor der Halle geteilt und so manches tiefschürfende Gespräch geführt, auch darüber, was uns blühen würde, wenn die Zivilisation demnächst den Bach runterginge. Was sie dann ja auch getan hatte.

    „Habe ich ja", verteidigte ich mich.

    „Aber?", hakte Homer nach.

    „Die verdammten Frettchen haben alles weggefressen", murmelte ich, weil ich nicht zugeben wollte, dass mir die Pflanzen eingegangen waren.

    In Themiskyra hatten wir uns komplett selbst versorgt und demnach selbstverständlich auch alles Mögliche angepflanzt, aber da war es mir irgendwie einfacher vorgekommen. Vermutlich, da ich mich nur einer Befehlskette unterordnen musste. Pflanz das. Jäte dieses. Ernte jenes. Profunderes Wissen hatte uns Jacintha zu vermitteln versucht, doch mich hatte das alles im wahrsten Sinne des Wortes nicht die Bohne interessiert, da Jacintha nicht nur unsere Lehrerin, sondern zufälligerweise auch meine Mutter war.

    Gewesen war.

    Sie hatte mich ziemlich sicher als Tochter abgeschrieben, nachdem ich mich mit Kassian Devinter eingelassen hatte, einem unglaublich charmanten, unterhaltsamen und wohlhabenden ’Shim, der mir ein paar Wochen meines Lebens das Gefühl gegeben hatte, ein wertvoller, liebenswerter Mensch zu sein. Und nicht nur eine Arbeitsmaschine, die doch nur ungenügende Leistung erbringt, so wie ich mich in der Stadt der Amazonen immer gefühlt hatte. Leider hatte sich der besagte Traumprinz als ziemlicher Albtraum entpuppt. Während ich mit meiner Mutter, meiner Kultur und meiner Heimat gebrochen und alle Hebel in Bewegung gesetzt hatte, um ihn zu finden, hatte er nichts Besseres zu tun gehabt, als mit seiner Sandkastenliebe Melissa herumzuknutschen. Zur Strafe hatte ich ihre Glastiersammlung zerstört und seine Bankkonten leergeräumt – das Gold, das nun, in einem Lederbeutel unter meinem Shirt getragen, im Verborgenen meine Zukunft, meine Hoffnung, mein permanent schlechtes Gewissen repräsentierte …

    Irgendetwas stimmte nicht. Die Männer scharten sich ratlos um den Tierkadaver.

    „Was ist los?, fragte ich und wedelte mit den Händen, um sie anzutreiben. „Abschwarten. Zerteilen. Feuer machen. Los! Mein Magen lief fast Amok vor Hunger.

    „Ähm", sagte Washington und rückte sein bunt gemustertes Haarband über seinen blonden Locken zurecht.

    „Carlos schlägt gerade nach", beruhigte mich Marlon und verschränkte, ansonsten tatenlos, die Arme vor der breiten Brust.

    „Er schlägt nach?!" erkundigte ich mich leise bei Homer und war mir sicher, dass ich mich verhört haben musste.

    „Ja."

    „Wo? Hat er ein Buch, Schlachten für Dummies?"

    „Nein, er hat das Internet kopiert." Erst dachte ich, das sei Sarkasmus, weil meine Frage so blöd gewesen war, aber an seiner Miene erkannte ich, dass Homer es ernst meinte. Ich winkte ab; ich war zu ausgehungert, um nachzudenken oder nachzufragen, zu ungeduldig, um mich mit solchen Details herumzuschlagen. Wütend marschierte ich zu den anderen hinüber.

    „Bei Artemis, muss ich mich hier denn wirklich um alles kümmern?!"

    „Nein. Lasst mich durch, ich bin Koch." Ein weiteres Mal teilte sich die Menge, um Bela Platz zu machen, der seine braunen Locken mit einem albernen Käppi aus dem Gesicht hielt. Lancelot, wie immer mit Kettenhemd und Schwert gerüstet, folgte ihm.

    Die restlichen Mannen verzogen sich rasch, um zu vermeiden, selbst zur Arbeit herangezogen zu werden. Auch ich atmete auf. Ich wollte es die anderen nicht merken lassen, doch ich hasste das Zerlegen und war von der Jagd ohnehin erschöpft. Mit Mühe rang ich mir ein letztes bisschen Kaltschnäuzigkeit ab. „Du bist Koch? Warum erfahre ich das erst jetzt? Warum haben wir vor dem Verfall wochenlang Chili con Carne essen müssen? Warum –"

    „Nia, halt die Luft an. Bela wetzte sein Messer. „Wir haben das Beste aus dem gemacht, was der Kühlschrank bestellt hatte. Und ich bin hier nicht als Koch angestellt.

    „Sondern?" Obwohl ich die Dienste der Mannen selbst schon in Anspruch genommen hatte, als wir Melissas Schwester Chiara aus den Fängen einer Sekte retten mussten, war mir nicht so ganz klar, was die ’Shimet derzeit eigentlich genau machten, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

    Er grinste mich an. „Als Glücksritter und Söldner, Schatzsucher und Schürzenjäger. Oder so." Sein strahlendes Lächeln steckte mich nicht wie gewöhnlich an, denn diese vier Schlagworte hatten schlummernde Areale in meinem Gehirn aktiviert. Abwesend ließ ich sie kreisen und setzte mich zu Homer an unsere Feuerstelle, in der mittlerweile Flammen tanzten.

    „Gesetzt den Fall, du hättest Gold –"

    „Woher willst du wissen, dass ich keines habe?"

    „Dann würdest du nicht mit diesen glücklosen Glücksrittern herumhängen, sondern zu deiner Zirkus-Familie zurückkehren und wieder Schwerter schlucken und Messer werfen."

    „Stimmt." Er schichtete mit unbewegter Miene einige Holzscheite auf.

    „Also. Stell dir vor, du hättest einen Schatz, den du sicher irgendwo unterbringen müsstest. Nur mal angenommen. Wie würdest du ihn, rein hypothetisch, verstecken?"

    „Spar dir die Floskeln. Wir wissen von deinem Gold. Du hast uns schließlich bezahlt."

    Ich rollte mit den Augen. Homer hatte recht, aber keiner von ihnen wusste, wie viel ich wirklich hatte, wie viele von den Tafeln mit den winzigen Goldplättchen, die ich nach Bedarf abtrennen und als Zahlungsmittel einsetzen konnte. Nach der unaufhaltsamen Inflation, die uns im Zuge des Verfalls überrollt hatte, hatte das Papiergeld mittlerweile komplett an Wert verloren. Gold war es, das zählte.

    „Nun?"

    Er stocherte eine Weile mit einem Ast zwischen den Scheiten herum. „Ich bin, wie du ganz scharfsinnig bemerkt hast, kein Experte, aber ich denke, ich wäre für den Klassiker. Er sah auf. „Vergraben. Und nur dem allerbesten Lagerfeuergefährten sagen, wo.

    „Das würde dir so passen." Ich dachte nach. Vergraben also. Sollte ich das Gold sicherheitshalber an verschiedenen Plätzen verteilen? Oder lieber alles an einem perfekten Ort verstecken? Aber wo war der? Wahrscheinlich grub derzeit die halbe Stadt irgendwo herum, und sei es nur im Versuch, der Scholle irgendwelches Wurzelgemüse abzuringen. Es musste ein Ort sein, der in ein paar Jahren, wenn nicht Jahrzehnten noch existierte. Ein unauffälliger Ort. Ein Ort, an dem ein zufälliger Besucher nicht gleich sah, dass gegraben worden war. Optimalerweise ein Ort, an dem gar kein Besucher vorbeikam. Aber auch nicht zu weit weg.

    Es dauerte eine ganze Weile, bis ich draufkam, und es war ein anstrengender Ausflug, aber dann war ich zufrieden. Eine Goldtafel hatte ich behalten. Sie würde mich über Wasser halten, wenn es hart auf hart käme, und mich in Ruhe und Sicherheit wiegen, während mich der vergrabene Anteil von der ständigen Sorge befreite, mein gesamtes Vermögen auf einen Schlag zu verlieren, wenn es blöd lief.

    Ich hatte schon einmal alles verloren – nein, eigentlich zweimal, doch das erste Mal war eher ideeller Natur gewesen, als ich aus Themiskyra verbannt wurde. Beim zweiten Mal war ich einer Polizeistreife am Bahnhof aufgefallen, als ich mit Chiara nach Urba zurückkehren wollte. Sie hatten mich gefilzt, mein Gold gefunden, jedoch keinen Pass, und das hatte ihnen als Begründung genügt, mich fürs Erste wegzusperren. Duke Ibro, ein geheimnisvoller Typ, halb verdeckter Ermittler, halb Verbrecher, der vagerweise irgendwann mal vielleicht ein bisschen in mich verliebt gewesen war, hatte mich rausgeholt und mir meine Habe wieder besorgt.

    So oder so, auf mein Glück oder andere Menschen wollte ich mich zukünftig nicht mehr verlassen, und jetzt war mein Gold in Sicherheit.

    Tags darauf rief mich Shirokko zu sich. Ich ließ ihn aus Prinzip ein bisschen warten, bis ich sein Zimmer aufsuchte, alles andere wäre meinem Selbstwertgefühl als Amazone abträglich gewesen. Diesmal wirkte er weniger teilnahmslos als am Tag zuvor, er stand mitten im Raum und schien angestrengt nachzudenken.

    „Gut, dass du kommst."

    Ich zuckte mit den Schultern und machte es mir mal wieder auf seinem Wikingerthron bequem.

    „Danke für das Fleisch gestern."

    „Irgendjemand muss sich ja darum kümmern, gab ich knapp zurück. „Wenn deine Mannen nichts mehr zu beißen haben, geben sie nämlich trotz ihrer Motorräder den Geist auf.

    „Nia, ich weiß, du denkst, ich kümmere mich nicht genug. Aber –"

    „Du hast Homer ausgelacht!, unterbrach ich ihn vorwurfsvoll. „Er hat alles vorausgesagt, und du hast ihm nicht den geringsten Glauben geschenkt!

    „Natürlich habe ich das. Nur ein Narr hätte die Anzeichen übersehen können. Und nur deswegen haben wir einen Riesen-Akku hier, an den du deine Solarplane sowie, wohlgemerkt, diejenige, die ich bereits vor Monaten besorgt habe, anschließen kannst. Deswegen haben wir einen Brunnen da draußen. Deswegen haben wir …"

    „Senf?", schlug ich mit einem halben Lächeln vor.

    „Schieb mir nicht den Senf in die Schuhe!, erwiderte er mahnend. „Den hast du vom Lieferanten angenommen.

    „Pff."

    „Deswegen haben wir noch Brennholz, fuhr er fort. Er war ans Fenster getreten und sah hinaus. Durch das stille Gewerbegebiet waberten Schichten aus Dunst und Rauch, verschleierten den ansonsten sonnigen Frühlingstag. „Deswegen haben wir noch Zahnpasta, Kaffee und eine riesige Datenbank aus Internetfragmenten. Aber du hast recht, das mit dem Essen ist ein Problem. Mein Kontakt auf dem Land hat mich leider im Stich gelassen – beziehungsweise, ich habe seit mehreren Tagen nichts mehr von ihm gehört. Ich werde mich nach neuen Quellen umsehen müssen. Aber bis dahin … Er wandte sich mir zu. „Meinst du, du könntest uns ab und zu etwas jagen?"

    Ich zuckte gnädig mit den Schultern.

    „Und ich habe über deinen Vorschlag nachgedacht. Wie aufwendig ist das mit den Pferden?"

    „Das mit den Pferden?, echote ich. „Was meinst du damit genau? Pferde kaufen, zureiten, Stall auf- und ausbauen, Reitunterricht und dergleichen? Sehr aufwendig.

    Shirokko trommelte mürrisch mit den Fingern auf dem Fensterbrett herum.

    „Aber sieh es mal so – Zeit haben wir genug. Und wenn du nicht das letzte Gold in das letzte Benzin der Stadt gesteckt hättest –"

    „Wie viel brauchst du?" Er war zu einem schwarzen Metallschrank gegangen, der die gesamte Raumbreite einnahm, schob jetzt eine der Türen zurück und öffnete mittels eines Zahlencodes einen kleinen Safe.

    „Keine Ahnung, gab ich ehrlich zu. „Mit den derzeitigen Preisen kenne ich mich nicht aus.

    „Schau mal, wie weit du damit kommst." Er warf mir eine viertel Goldtafel zu.

    Ich fing sie und blickte leicht fassungslos auf das glänzende Metall herab. Eben war ich mein Gold losgeworden und jetzt bekam ich schon wieder neues aufgebürdet?

    Das war wahrlich ein Luxusproblem.

    „Du hast noch Gold?, fragte ich entgeistert. „Warum beim Hades hast du dann nichts zu essen gekauft für deine Leute?!

    „Nia, das Problem ist nicht die Bezahlung. Das Problem ist der Mangel an Nachschub. Inzwischen sind den meisten Leuten die Vorräte ausgegangen. Zu viel Nachfrage. Zu wenig Angebot."

    „Hrrrm, grummelte ich. „Okay. Ich nehme das eine oder andere zurück, leg mich bitte nicht fest, was genau. Um Jagd und Fischerei kümmere ich mich, solange mir jeweils einer von den Mannen beim Schleppen hilft. Erst mal haben wir ja noch genug zu essen. Bela hatte das Wildschwein mit Lancelots Hilfe komplett zerlegt und alles, was wir nicht sofort essen konnten, weiterverarbeitet oder haltbar gemacht. „Und was die Pferde anbelangt, muss ich mich erst umsehen."

    Das tat ich. Nach vier Tagen hatte ich einen Bauernhof gefunden, der früher auch eine Reitschule gewesen war, und dessen Inhaber mir junge, gesunde Tiere zu einem vermutlich angemessenen Preis überließ. Zumindest verbrauchte ich nicht das gesamte Gold, das mir Shirokko als Budget zugeteilt hatte.

    Den Gedanken, mit der unfreundlichen alten Dame ins Geschäft zu kommen, die mir Chiimori damals verkauft hatte, hatte ich augenblicklich wieder verworfen. Ihr Hof lag zu weit entfernt und ich hatte keine Lust, mit ihr zu schachern.

    Ich hätte dem Bauern auch gerne eine Kuh abgekauft, aber Shirokko hatte es mir strikt verboten. „Das ist hier keine Farm, sondern eine Fabrikhalle."

    „Milch im Kaffee?", versuchte ich ihm meinen Vorschlag schmackhaft zu machen.

    „Kuhfladen am Stiefel?", gab er voller Sarkasmus zurück, und damit war meine Idee abgeschmettert.

    Der Landwirt hatte mir die Adresse eines befreundeten Sattlers genannt, der uns für die Tiere passgenaue Sättel fertigte, und von dem wir auch die zusätzliche Ausrüstung erhielten, Decken, Halfter, Zaumzeuge, Stricke und Putzutensilien in großem Stil, sowie der Kontakt zu einem Kraftfutterlieferanten. Heu sollten wir in regelmäßigen Abständen direkt von dem Bauern bekommen, der uns die Pferde verkauft hatte. Mithilfe der Mannen stückelten wir einen weiteren Trakt an den Anbau an, der bisher als Lager und Chiimoris Stall genutzt wurde. Das war eine ziemliche Plackerei, aber es lohnte sich. Wir schufen großzügigen, hellen Platz für zwölf Pferde, bauten das Dach zum Futterlager aus und zogen einen Teil der bisherigen Lagerbestände in den Keller der Haupthalle um, um Raum für eine kleine Sattelkammer und einen Putzplatz zu gewinnen. Den früheren, gekiesten Parkplatz, auf dem das Gras mittlerweile meterhoch stand, zäunten wir als Koppel ein.

    Und dann begann erst der eigentliche Spaß – nämlich elf mehr oder weniger begabten bis begeisterten ’Shimet das Reiten beizubringen. Abends war ich entnervt und heiser und sie waren erschöpft und beleidigt. Sogar Homer. An diesem Abend saß ich allein am Feuer vor der Halle. Okay, ich hatte ihn angeschrien. Aber, bei Artemis, ein bisschen Hingabe, Disziplin, Geschick und Begeisterung sind wohl nicht zu viel verlangt?!

    Nun, bis zum Herbst lernten sie es alle, und irgendwann kehrte auch Homer ans Lagerfeuer zurück. Shirokko hatte einen neuen Nerista gefunden, einen Händler, der uns mit Obst und Gemüse, mit Klopapier und Seife versorgte, und alle paar Tage ging ich auf die Jagd. Der Ausnahmezustand wurde langsam, aber sicher zur Normalität. Es ging uns gut. Vergleichsweise.

    Die Stadt stank. Seit Monaten verrotteten Berge aus Müllsäcken an allen Ecken und Enden. Unruhen im Zuge des Verfalls hatten ganze Wohnblocks zerstört, zigtausende Menschen hausten auf den Straßen, kochten dort, schliefen dort, benutzten dort nicht vorhandene Toiletten. Sozusagen. Bettelnde Kinder. Alkoholisierte Männer. Verzweifelte Frauen. Armut, Krankheit, Fäkalien – ich vermied es tunlichst, mich dort aufzuhalten, kümmerte mich lieber um die Pferde oder ritt hinaus aufs Land.

    Im Winter wurde der Gestank besser, aber das Elend schlimmer. Auch für uns wurde es härter: Frisches Obst und Gemüse waren überhaupt nicht mehr aufzutreiben, das höchste der Gefühle war ein wurmstichiger, knautschiger Apfel ab und an. Wir hatten viel Holz gelagert, aber die Halle war so riesig, dass sie sich nicht gut heizen ließ. In den richtig schlimmen Nächten zogen alle Bewohner der unteren Etage ihre Matratzen und Sofas zur Feuerstelle – Ratten und Frettchen ausgenommen – und einer von uns hatte stets dafür zu sorgen, dass das Feuer nie erlosch. Ich trug meine wärmsten Kleidungsstücke übereinander und zitterte dennoch, bis mich endlich der Schlaf davontrug.

    Und plötzlich ertappte ich mich bei einem Gedanken. Wenn ich jetzt zurückkehre und Abbitte leiste, werden sie mich nicht abweisen. Ich würde nicht mehr als Amazone in Themiskyra leben dürfen, aber als Arbeiterin würden sie mich wieder aufnehmen. Und egal, wie schwer dort die Arbeit, wie kalt auch dort die Nächte, wie bitter der Verlust meines Stolzes und meiner Selbstachtung sein würde, ich hätte ein Zimmer in einer der kleinen Hütten im Arbeiterviertel, mit einem Holzofen, der mich warmhalten würde. Und dieser winzige Aspekt wuchs sich während der eisigen Nächte zu einer handfesten, fixen Idee aus. Er war eine Art Rettungsanker.

    Morgen. Morgen reite ich heim. Ich kann nicht mehr. Die

    Kälte bringt mich um. Morgen reite ich heim. Ich halte noch durch, nur noch ein paar Stunden, nur noch bis morgen.

    Doch morgens war es um genau so viel Grad wärmer, dass die fixe Idee nie ausreifte. Und dann kam es ganz anders.

    Es erwischte mich auf der Jagd. Obwohl es eiskalt war und ich meinen Atem in dichten, weißen Wölkchen vor mir herstieß, war ich in Schweiß gebadet. Ich hatte nach langem Ausharren auf einem zugigen, morschen Hochsitz einen Hirsch erlegt, der uns einige Zeit gut versorgen würde. Aber er war viel zu schwer. Ihn Chiimori allein aufzubürden war undenkbar. Und auch, als Warmit und ich das arme Tier aufgebrochen und zerteilt hatten, gelang es uns fast nicht, die beiden Pferde damit zu beladen. Dann, auf dem Heimweg, begann ich zu schlottern. Um die Aspahet nicht zu überanstrengen, führten wir sie zu Fuß; das dauerte und während dieser Zeit fror ich völlig aus. Kälte kroch mir durch die

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