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Mailys' Entscheidung
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eBook292 Seiten4 Stunden

Mailys' Entscheidung

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Über dieses E-Book

Über die Liebe und die Freundschaft und den ganz normalen alltäglichen Wahnsinn. >>> Die leicht wunderliche und konservative Heidi alias Püppi fühlt sich einsam und braucht dringend eine Finanzspritze. Aus diesen Gründen sucht ihr prädominanter Bruder mittels Zeitungsannonce eine Mitbewohnerin für sie. Der trifft jedoch nicht nur gern wichtige Entscheidungen über ihren Kopf hinweg, sondern mischt sich auch gern einmal in das Privatleben seiner kleinen Schwester ein. Mit ihrer vorlauten Freundin Hanna fährt Heidi da allerdings auch nicht immer besser. Vielmehr hält diese sie mit ihrer bedrückten Gemütsverfassung völlig in Atem. Dabei hätte Heidi in ihrer Selbstfindungsphase tendenziell viel mehr Hilfe nötig, insbesondere in den Liebesangelegenheiten, welchen sie mit einem Mal gegenübergestellt ist. Infolge ihrer Unerfahrenheit ist ein Verwirrspiel der Gefühle vorprogrammiert.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum19. Apr. 2016
ISBN9783741804687
Mailys' Entscheidung

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    Buchvorschau

    Mailys' Entscheidung - Katie Volckx

    1

    Wieder so eine eingebildete Ziege«, brummelte ich, während ich die Tür hinter der einundvierzigsten Interessentin mit dem Fuß ins Schloss stieß, auf die ich mich ohnehin nur schwer konzentrieren konnte. Denn noch vor fünf Minuten hatte ich ein Telefongespräch mit einem anderen Bewerber geführt, der sich für das zu vermietende Zimmer interessiert zeigte. Noch immer hielt ich das schnurlose Telefon in der Hand und noch immer schüttelte ich fassungslos den Kopf.

    Wies die Annonce nicht ausdrücklich darauf hin, dass ich das teilmöblierte Zimmer ausschließlich an eine Vertreterin des schönen Geschlechts vermieten würde?

    Da hatte doch ein junger Mann tatsächlich die Nerven, mich davon überzeugen zu wollen, dass er der einzig wahre und richtige Mitbewohner für mich wäre. Zugegeben, mit seiner munteren, aufgeschlossenen und vor allem witzigen Art hatte er einen gewissen Charme versprüht und wusste sich auch zu artikulieren, doch deswegen würde er noch lange kein Mädchen ersetzen. Er war ein Bursche! Und das verstieß gegen meine Grundsätze.

    Seufzend ließ ich mich auf die Couch fallen und warf das Telefon neben mich aufs Sitzpolster. Ich sank in die Lehne zurück, legte den Kopf in den Nacken, starrte an die Zimmerdecke und erwischte mich dabei, wie ich die Struktur der Raufasertapete inspizierte. Meiner Meinung nach nahm ein Gegenstand auch mal eine ganz merkwürdige Form an, sobald ich mich auf diesen intensiv konzentrierte. Eine abnorme sogar. Und so geschah es auch mit der Raufasertapete: Die ungleichmäßigen Beulen wirkten wie juckender, ansteckender Ausschlag und störten das Gesamtbild.

    Seit die Annonce vor einer Woche in der Tageszeitung erschienen war, rannten mir die Mädels regelrecht die Bude ein. Allerdings wunderte mich das inzwischen gar nicht mehr, da mein neugieriger Nachbar (ich nannte ihn völlig zu Recht 007), der die Wohnung auf der ersten Etage direkt unter mir bewohnte, langatmig darüber aufgeklärt hatte, wieso die Nachfrage eines WG-Zimmers in einer Großstadt wie Berlin so riesig sei. Hätte ich im Vorhinein gewusst, dass sich die Suche nach einer Mitbewohnerin derart schwierig gestalten und ausschließlich Stress bewirken würde, hätte ich weitestgehend über das Bedürfnis einer solchen hinweggesehen.

    Andererseits war die Annonce ja nicht auf meinen Mist gewachsen, sondern auf den meines fünf Jahre älteren vorherrschenden Bruders Emil, der es, nebenbei bemerkt, nicht mochte, Emil genannt zu werden, weil er den Namen für lächerlich hielt. Er pflegte immer zu sagen: »Da kann ich mir das Wort Niete auch gleich auf die Stirn tätowieren lassen.« So nannte jeder ihn seit Jahr und Tag Beck: Ein Kürzel aus unserem Familiennamen Halbeck.

    Wenn jemand das allerdings nachvollziehen konnte, dann war ich das. Mit meinem Namen fuhr ich nämlich auch nicht viel besser. Da waren erste Reaktionen wie »Heidi? Wie die Heidi von der Alm?« oder »Wo hast du denn Alm-Öhi und Peter gelassen?« vorprogrammiert. Unsere Namen schrien ja förmlich nach Hohn und Spott, fand ich. Wir konnten bis heute nicht verstehen, was unsere Eltern bei der Namenswahl geritten hatte.

    Wie auch immer, es mochte zwar seine Idee gewesen sein, Schuld hatte ich trotzdem selbst. Ich hatte ihm nämlich lang genug mit einer Arie über Einsamkeit und Armut in den Ohren gelegen. Offenbar hatte er es deshalb nicht für nötig gehalten, den Vorschlag vorab zu unterbreiten, geschweige mich, die ahnungslose kleine Schwester, zumindest kurz über ihr Glück zu unterrichten, sondern hatte die Annonce direkt über meinen Kopf hinweg aufgegeben und es schlussendlich als Überraschung bezeichnet. Natürlich hatte ich die »frohe« Botschaft entsprechend übellaunig aufgenommen, bis ich endlich kapiert hatte, dass mein werter Bruder ja nur gute Absichten verfolgt hatte. Und immerhin hatte er meinen Wunsch nach einem Wesen weiblicher Natur bedacht. Hätte ich jedoch geahnt, wie empfindlich ich auf die hochmodernen Mädchen von heute reagierte, hätte ich mir lieber ein Haustier zugelegt. Es hieß ja, Hunde hätten therapeutische Fähigkeiten.

    Nicht, dass ich therapeutische Hilfe ernsthaft nötig hätte, aber in dieser sehr verrückten Welt konnte man weiß Gott nicht genug zur gesundheitlichen Vorsorge beitragen. Gewiss wirkte das sehr spießig: Ich rauchte nicht, trank keinen Alkohol, guckte immer fünfmal mehr nach rechts und links, bevor ich die Straße überquerte, umging strikt jede Situation, von der nur im Ansatz Gefahr ausgehen könnte (Fahrstuhl fahren, in tiefen, dunklen Seen schwimmen, Karussell fahren, mit dem Flugzeug fliegen, auf die Sonnenbank gehen und so weiter und so fort) und ernährte mich vegetarisch. Die Idee, mich gar vegan zu ernähren, hatte ich indessen so schnell verworfen, wie sie mir gekommen war, denn ich ertrug meinen morgendlichen Kaffee einfach nicht ohne Vollmilch, liebte weichgekochte Eier zum Frühstück und Käse überbackene Dinge wie Pizza und Aufläufe aller Art.

    Der eine oder andere mochte glauben, es wäre für mich schon eine Herausforderung, morgens aus dem Bett zu steigen und ich hätte keinen Spaß am Leben. Doch tatsächlich war der Grund meiner Defizite nur einer: Ich hatte die letzten neun Jahre im Kloster zugebracht! Nein, Sie leiden nicht an Wahrnehmungsstörungen – Sie haben sehr wohl richtig gelesen: Ich war einmal eine Ordensschwester.

    Mein einstiger Entschluss war für die meisten nur eine fixe Idee gewesen, nicht zuletzt, weil der Entschluss, ein Leben im Kloster zu führen, für mich bedeutet hatte, meine Familie, meine Freunde, meinen (verhassten) Putzjob und meine Heimat hinter mir zu lassen. Warum hatte ich geglaubt, ich hätte Gott nur auf diesem Wege nahe sein können? Verständlich, dass es niemandem in den Kopf gegangen war. Aber gegen aller Kritik war ich zunächst dem Ruf meines Herzens gefolgt.

    So stand ich neun lange Jahre als Ordensschwester unter dem Pseudonym Jordana durch. Ehe ich mich jedoch mit dem ewigen Profess auf Lebenszeit an den Orden gebunden hätte, hatte ich ein weiteres Mal einen existenziellen Entschluss gefasst, und zwar den, zur Besinnung zu kommen. Ein restliches Leben in Armut, Keuschheit und Gehorsam, während dort draußen in der Welt der Bär tobte, hatte mir plötzlich nicht mehr zugesagt. Und, um ehrlich zu sein, klang der Name Jordana nicht gerade besser als Heidi.

    Mittlerweile war ich achtundzwanzig, seit einem Jahr »auf freiem Fuß«, wie gesagt ein Hosenscheißer, arm und immer noch keusch. Hätte ich das gewusst, hätte ich natürlich auch im Kloster bleiben können.

    Na gut, ich war nicht bettelarm! Beck hatte mir immerhin seine Eigentumswohnung vermacht – einfach so geschenkt, als er sich mit dem Gedanken getragen hatte, mit seinem Lebensgefährten Hugo in ein Einfamilienhaus an den Stadtrand zu ziehen. Vermutlich war er einzig überglücklich gewesen, dass ich wieder Verstand angenommen und den Weg der Rückkehr ins soziale Leben angetreten hatte. Und wenn ich bei ihm schon mal ein Zimmer hatte, wollte er mir dieses Heim nicht wieder nehmen.

    Meines Erachtens war die Wohnung für eine einzige Person wirklich zu groß. Diese hatte zwei Schlafzimmer, einen großen Wohnraum, an dem die offene Küche anschloss, ein großes Wannenbad, das von meinem Schlafzimmer abging und mir damit jegliche Intimsphäre ermöglichte, und ein Gästebad mit Dusche über eine Fläche von gut hundertzehn Quadratmetern verteilt. Die Schlafzimmer und das Duschbad gingen vom großen Wohnraum ab. Es existierte kein Flur; die Wohnungstür führte direkt in den großen Wohnraum hinein.

    Übrigens war ich die Letzte, die erfahren hatte, dass Beck schwul war; war ja im Kloster! Sich an diesen Gedanken zu gewöhnen, war ein harter Kampf, denn als ich ihn das letzte Mal, vor meinem Klostereinzug, gesehen hatte, war er der größte Playboy aller Zeiten und hatte alles besprungen, was Puls hatte. Ihm hatte völlig ferngelegen, sich jemals fest zu binden. Nicht zuletzt aus diesem Grund fand ich es sehr fragwürdig, dass jedermann so ohne Weiteres mit Becks Homosexualität zurande kam, jedoch nicht mit meinem ehemaligen Wunsch, Nonne zu werden. Klar, ich hatte recht untypische Sichtweisen für ein junges Mädchen, während Homosexualität zu keiner Zeit untypisch, vielmehr überraschend war, doch beides nahm aus Überzeugung seinen Lauf.

    Zumindest war ihm seine Homosexualität zugute gekommen. Denn damals war er nicht nur dieser Playboy, sondern noch dazu ein Luftikus. Inzwischen war er total bieder geworden. Zuerst hatte ich gedacht, Beck wäre von Außerirdischen entführt und durch einen besseren Klon ersetzt worden, aber dann hatte er die Geschichte mit der Weberknecht-Spinne, mit der er mich schon Zeit meines Lebens aufzog, vor seinem Herzallerliebsten wieder herausgekramt. (In dieser prügelte ich mit einem meiner Flip-Flops auf eine Weise auf die besagte Spinne ein, als hätte ein mordlustiger Löwe vor mir gestanden.) So wusste ich, dass er lediglich erwachsen geworden war, im Großen und Ganzen. Männer hinkten ja bekanntlich immer eine Spur hinterher.

    Apropos Männer.

    Auch wenn ich im Kloster gewesen war, wusste ich sehr wohl, wie jene tickten. Meine beste Freundin Hanna hatte mich vielmals aufgeklärt, da sie sich einbildete, ein Leben im Kloster wäre gleichzusetzen mit einem Leben hinterm Mond. Ich wollte ihren Eifer nicht mit Füßen treten, deshalb hatte ich ihre bisherigen Anekdoten stillschweigend ertragen und diese geschmeidig ins eine Ohr herein- und ins andere Ohr herausfließen lassen.

    Seit unserer Jugend waren wir unzertrennlich (während meines Klosteraufenthalts hatten wir zumindest regen Brief- und Telefonverkehr). Hanna war mir immer zwei Jahre voraus, was sie mir gelegentlich unter die Nase rieb. Allerdings hatte es in den letzten Monaten abrupt nachgelassen. Dafür gab es auch einen deftigen Grund: Hannas dreißigster Geburtstag! Und der stand in zehn Tagen bevor.

    Schon seit Wochen – ach, was rede ich da? – seit Monaten hielt sie etwa dreimal die Woche beachtliche Vorträge darüber, was dieses Alter Unheilvolles mit sich brächte. Schlagartig würde die Haut in jedem noch so kleinsten Winkel erschlaffen, die Tränensäcke wären im Notfall nicht einmal mehr mit Eiswürfeln kleinzukriegen, die Falten würden sich immer tiefer um die Mund- und Augenpartien pflügen und die Brüste sowie der Hintern könnten sich gegen die Schwerkraft wohl oder übel nicht mehr länger durchsetzen. Dass sich meine Anteilnahme in Grenzen hielt, lag wohl daran, dass ich die Maßgeblichkeit der äußeren Erscheinung nicht mehr gewohnt war. Ich meine, in der Klosterzeit besaß ich nun mal keinen Hintern oder Brüste oder andere pikante Körperteile; primär besaß ich nur meine Seele, meinen Glauben, na ja, und meine schwarze Ordenstracht. Aber wenigstens erklärte Hannas Angst vorm Altern die doppelte Schicht Make-up, die sie schon seit geraumer Zeit auftrug ... unnötigerweise, sei an dieser Stelle einmal gesagt.

    Tja, und ich war immer davon ausgegangen, dass Frauen erst ab vierzig begannen durchzudrehen. Das war wohl falsch gedacht.

    Einmal hatte Beck versucht, sie mit Worten wie »Sieh mal, ich stehe noch immer ganz ohne Gehhilfe allein aufrecht« aufzumuntern, war lediglich auf spaßhafte Weise darauf aus gewesen, sie daran zu erinnern, dass er schon lange vor ihr die Dreißig überschritten hatte. Aber natürlich war der Schuss nach hinten losgegangen und sie hatte darauf nur geantwortet: »Bei dir ist das was völlig anderes, du bist schließlich ein Mann!«, was inzwischen jedoch recht umstritten war, denn seit seinem Coming Out hatte er verdächtig viele feminine Züge angenommen. Dann war sie Tür donnernd und mit quietschenden Reifen davongejagt. Nach dieser (das sei betont) recht überzogenen Reaktion hatte ich mir die grandiose Idee, ihr, natürlich nur zum Spaß, zum Geburtstag einen Krückstock zu schenken, lieber aus dem Kopf geschlagen, bevor sie mich damit aus ihrem Leben triebe. Sicher war sicher.

    Das plötzliche Telefonklingeln riss mich aus dem Wust unterschiedlicher Gedanken zurück ins Hier und Jetzt. Ich musste nur eine Handbewegung nach rechts machen, um den Hörer vom schnurlosen Telefon zu greifen. Ich fühlte mich benommen, also hauchte ich das Hallo nur.

    »Hallo, Ramona Fink ist mein Name. Ich interessiere mich für das WG-Zimmer.« Der Klang ihrer Stimme war hell, wirkte gar, als wäre das dazugehörige Mädchen nicht älter als zehn.

    In mir zog sich alles zusammen. All das war mir zunehmend ein Graus. Ich war kurz davor, diese Ramona Fink abzuwimmeln und zu behaupten, dass das Zimmer schon vergeben sei, nur damit ich endlich meine Ruhe hätte – zumindest in Bezug auf den heutigen Tag.

    »Wann hättest du Zeit und Lust es zu besichtigen?« Selbstverständlich duzte ich sie.

    »Ich möchte nicht aufdringlich sein ... aber wie wäre es mit ... jetzt?«

    Mir wurde leicht schummerig. Ich warf einen langen jämmerlichen Blick auf die Uhr. Jede Faser meines Körpers schrie NEIN, aber ich sagte: »Fünf Uhr« und gab meine Adresse durch.

    2

    Nach zwanzig Minuten saß ich noch immer hier, war vom Anrufer allerdings ausreichend reaktiviert worden. Ich raufte mir die Haare, denn ich war verzweifelt. Ja, das war ich wirklich! Da ich noch immer nur diesen Minijob im Supermarkt hatte und mich ansonsten mein jovialer Bruder mit durchfüttern musste, käme mir eine Ertrag abwerfende Untermieterin mehr als gelegen. Meine Verzweiflung war sogar so groß, dass ich einen kurzen Moment lang völlig den Verstand verloren hatte und den jungen Mann, den ich vorhin noch am Telefon energisch abgewimmelt hatte, wahrhaftig als Mitbewohner in Betracht zog. Wie gesagt, nur einen kurzen Moment lang.

    Ich grinste und schüttelte den Kopf über meine Anspruchslosigkeit und hievte mich schließlich vom Sofa, um den Terminkalender zu prüfen. Vor Ramona erwartete ich nur noch eine Interessentin. Ich musste meine Augen ein wenig zusammenkneifen, da ich auf einmal meine eigene Schrift nicht mehr entziffern konnte. Hieß die Gute nun Lena? Oder Lana? Oder gar Lene? War das überhaupt ein L? Herrje, in der Eile hatte es eben rasend schnell gehen müssen, und Unruhe überforderte mich in der Regel nun mal. An und für sich war das doch aber eh alles dasselbe, oder? Und, offen gesagt, ging ich davon aus, dass ich sie ohnehin nicht mögen würde. Ich wägte im Ernst ab, ob es Sinn machte, ihr überhaupt noch die Tür zu öffnen.

    Es war jetzt genau sechzehn Uhr. Meine schlechte Laune wurde immer sichtbarer, nicht zuletzt deshalb, weil ich heute noch keinen Fuß vor die Tür gesetzt hatte, aus Angst, ich könnte all die Interessentinnen sonst nicht unter einen Hut bekommen. Ja, ich hätte auch eine Massenbesichtigung arrangieren können, aber wie hätte ich unter diesen Umständen herausfiltern können, wer zu mir passte? Na ja, und natürlich hatte ich auch Bedenken in Hinblick meiner Wertgegenstände im Haushalt. Was, wenn ich den Überblick verloren und jemand meine Wohnung in einem unaufmerksamen Augenblick geplündert hätte?

    Ich brauchte frische Luft; und zwar jetzt! Und was ich noch viel dringender brauchte, waren ein paar Nahrungsmittel. In meinem Kühlschrank herrschte gähnende Leere. Heute Morgen hatte ich das letzte trockene Stück Brot mit Ketschup gegessen, was darauf schließen ließ, dass ich schon gestern nicht zum Einkaufen gekommen war. Und deshalb war es doch nur allzu verständlich, dass meine Laune allmählich in den Keller brauste: Mein Magen tobte vor Hunger.

    Einen kleinen Augenblick dachte ich angestrengt nach. Dabei knabberte ich auf meiner Unterlippe herum und rieb mir das Kinn, als könnte das meine kleinen grauen Zellen in Gang bringen.

    Doch als ich mich endlich für einen Veggie-Döner aus dem Imbiss von gegenüber entschieden hatte und nach meinem Hausschlüssel aus der kleinen Bambusschale auf dem Sideboard neben dem Eingang schnappen wollte, klingelte es an der Haustür. Lang und schrill. Na schön, für den hochfrequenten Klingelton konnte die gute Lena, Lana oder Lene natürlich nichts, für das Dauerklingeln allerdings schon. So etwas Penetrantes käme mir schon mal nicht ins Haus!

    Anstandshalber öffnete ich die Haustür per Knopfdruck, ersparte mir schon den ganzen Tag, die ankommenden Interessentinnen durch die Gegensprechanlage zu begrüßen. Ich zog die Wohnungstür auf, schon bevor sie den zweiten Stock erreichte, um sie wissen zu lassen, wo ihr Aufstieg enden würde.

    Sie ließ mich lang zappeln. Sie schien alles Zeitraubende gut zu beherrschen. Das machte sie just noch unsympathischer.

    Mit einem Mal jagte Mailys aus dem Nichts durch meine leicht gespreizten Beine hindurch direkt in meine Wohnung. Sie fetzte wie von der Tarantel gestochen über das Sofa, einmal quer durch die Küche ins Schlafzimmer, sprang auf mein Bett, hielt eine Sekunde mit spitz aufhorchenden Ohren inne und raste dann, knapp an meinen Beinen vorbei, zurück ins Treppenhaus. Dort bremste sie kurz vor der hinabführenden Treppe ab, rutschte jedoch noch ein bedenkliches Stück auf dem Po weiter. Aber statt die Treppe herunterzupurzeln, wendete sie am Absatz, um dieselbe Runde nochmals zu nehmen. Im selben Moment stolperte mein Nachbar Vincent hastig aus der dritten Etage hinunter, warf mir lediglich einen schnellen, um Verzeihung bittenden Blick zu und drängte mich an meiner eigenen Wohnungstür zur Seite, um Mailys einzufangen. Offensichtlich erfolglos.

    Ich eilte ihm nach, fühlte mich noch ein bisschen von Vincents rüden Art angepisst, ließ mir jedoch nichts anmerken. Vielmehr wollte ich ihm behilflich zur Hand gehen, indem ich die ungestüme Jack-Russel-Hündin mit sanfter Sprache anzulocken versuchte. Da das keine Wirkung zeigte, hätte ich sie zu gern mit einer Scheibe Wurst bestochen. Jeder Hund war schließlich bestechlich.

    Ich sah Vincent seiner Hündin in mein Schlafzimmer hinterherlaufen, fand das einfach ungeheuerlich, wie er ganz selbstverständlich in meine Privatsphäre einbrach, als wäre ich kaum von Bedeutung. Es stand mir bis zum Hals, musste mich wirklich beherrschen.

    Da fiel mir plötzlich ein, dass noch ein paar Karamellbonbons in meiner Nachttischschublade lagen. Ich schlich mich also an Vincent, der inzwischen auf allen Vieren auf dem Boden kroch, da Mailys sich unter dem Bett versteckt hatte, vorbei und fühlte, wie sich meine Kehle zuschnürte. (Wann hatte ich schon mal einen Mann in meinem Schlafzimmer?) Auf den letzten Metern machte ich einen Hechtsprung an die Schublade und grapschte fieberhaft nach einem Bonbon. Ich hockte mich hin, neigte mich so weit es mir möglich war zur Seite, um einen Blick auf die Hündin zu erhaschen, und lockte sie an, indem ich auf ihrer Augenhöhe ein wenig mit dem Papier knisterte.

    Keine fünf Sekunden später und ohne Vorwarnung schoss sie unter dem Bett hervor, schnappte feinfühliger als gedacht nach dem Bonbon und fetzte durch die offene Wohnungstür wieder in den dritten Stock hoch. Vincent sah mich böse an, da er befürchtete, dass Mailys das Bonbonpapier mit herunterschlingen und daran ersticken könnte. Doch offenbar gelangte er zu dem Entschluss, seine Worte nicht an mich zu verschwenden und rannte stattdessen Mailys schreiend hinterher.

    Mein Blut geriet in Wallung. Wutentbrannt stampfte ich zur Wohnungstür und knallte sie mit aller Kraft zu. Ich konnte hören, wie dieses Geräusch durch das ganze Treppenhaus hallte und 007 kurz darauf seine Tür aufriss, um brüllend um Ruhe zu bitten.

    Vincent war mir generell recht ignorant zugewandt. Es machte keinen Unterschied, ob ich ihm ein Lächeln zuwarf oder eine ablehnende Grimasse zog, wenn ich ihm im Treppenhaus begegnete; nach Möglichkeit vermied er ja ohnehin Augenkontakt. Allerdings konnte ich mir bis heute nicht erklären – ja konnte es nicht einmal erahnen –, welches Problem ihn plagte und warum es ihm Anlass gab, mich nicht einmal anständig zu grüßen.

    Vor einigen Monaten hatte ich ein Päckchen für ihn entgegengenommen, als der Zusteller ihn nicht persönlich antreffen konnte. Und als ich es Vincent am Abend mit den Worten: »Stets zu Ihren Diensten« und einem neckischen Augenzwinkern überbracht hatte, hatte er sofort ein miesepetriges Gesicht aufgesetzt. Mit einer naiven Freundlichkeit hatte ich ihn gefragt, was für eine Laus ihm über die Leber gelaufen sei, denn mir war nicht klar gewesen, dass dieses miesepetrige Gesicht mir gegolten hatte. Daraufhin hatte er schonungslos geantwortet er hätte etwas dagegen, wenn ich für ihn Pakete entgegennehmen würde.

    Anfänglich hatte ich gedacht, Vincent wäre einfach nur ein recht verschrobener, unterkühlter Charakter, doch über die Zeit musste ich betrüblicherweise erkennen, dass sich sein unzivilisiertes Verhalten ausschließlich auf mich bezog. Beck hatte mir schon damals verklickern wollen, dass ich mir das nur einbilden würde, immerhin hätte Vincent sich in all den Jahren ihm gegenüber stets angemessen verhalten, waren gar zu Freunden geworden.

    Tja, dazu müsste ich Beck wohl noch einmal meine unbequeme Meinung geigen.

    Auf einmal wurde mein Denkvorgang von einem Geräusch unterbrochen, das ein wenig danach klang, als hätte jemand eine Schranktür geschlossen. Das Geräusch kam aus dem zu vermietenden Zimmer. Ich pirschte mich an die Tür heran, die nur einen winzigen Spalt offen stand. Dennoch erhoffte ich mir einen Einblick. Das war natürlich lächerlich.

    Mein Atem ging schneller, mein Herz ebenfalls. Ich blieb kurz stehen und verhielt mich möglichst still, um nach einem weiteren Geräusch zu lauschen. Ich meinte, leise Bewegungen wahrzunehmen, aber ich konnte mich auch irren, denn meine rote Seidenbluse raschelte bei jedem Atemzug. Ich stellte Überlegungen an, auch, ob ich nicht besser die Beine in die Hände nehmen und flüchten sollte. Aber mit einem Mal überkam mich der tiefe, innere Drang, meine Neugierde befriedigen zu wollen, und wenn es das Letzte war, was ich tun würde. Also ging ich weiter, hielt den Atem an und stieß die Tür mit dem Fuß auf.

    Eine gefühlte Minute am Stück schrie ich. Der Schreck saß tief, wollte und wollte nicht vergehen, obwohl ich zuvor ja das Allerschlimmste erwartet hatte. Ich zitterte am ganzen Leib, meine Knie fühlten sich taub an, musste mich erst einmal irgendwo hinsetzen. Mir wurde ganz übel, deshalb knetete ich meinen Hals.

    Ein Typ, jungenhaft, mittelgroß, brit-poppiger Shag mit einem unordentlichen Seitenscheitel (wenn ich sonst keine Ahnung von solchen Dingen hatte, kannte seit Justin Bieber wohl ausnahmslos jeder diese Frisur),

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