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Halt mich fest
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eBook463 Seiten6 Stunden

Halt mich fest

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Über dieses E-Book

Wie sag ich's meinen Eltern? Früher oder später kommt jede Lesbe an diesen Punkt, auch Chris, die rockende Gitarristin mit Hang zu Unfällen. Eigentlich ist es doch gar nicht nötig und überhaupt ... Aber dann tritt Tina in ihr Leben, und auf einmal ist alles anders.

Das Coming-out, die verschollen geglaubte Großmutter, die mit gepackten Koffern vor der Tür stehende Mutter, die Ex mit dem dritten Auge, die Kaugummi kauende blonde Schönheit und vieles mehr machen der Heldin Chris das Leben schwer. Tapfer erträgt sie mit Tina an ihrer Seite die putzende Mutter, den pubertierenden Neffen und den schweigenden Vater. Nur dass Tina rothaarige Frauen küsst, macht ihr zu schaffen. Doch zu jedem Problem gibt es eine Lösung - schlaue und weniger schlaue.
SpracheDeutsch
Herausgeberédition eles
Erscheinungsdatum29. Apr. 2013
ISBN9783941598959
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    Buchvorschau

    Halt mich fest - Trix Niederhauser

    feiernd

    1. Kapitel

    »Die Liebe ist ein Chaos!«

    Dieses Zitat stammt von Christina Frank, und das bin ich. Glaubt mir, ich spreche aus Erfahrung. Die ganze Geschichte fing bereits mit einem Chaos an: dem in meiner Wohnung. Was tut frau, wenn das Telefon klingelt, und es nirgends zu entdecken ist? Richtig! Ich wühlte mich durch Zeitschriften, Kleider, leere Pizzakartons, und tatsächlich, unter der Jeansjacke, die ich seit einigen Tagen vermisste, lag der Apparat. Auf mein freudiges »Hallo« – schließlich hatte ich die Jacke wiedergefunden – bekam ich ein ebenso fröhliches »Hallo, Chris, hier ist dein Lieblingsbruder« zu hören. Da ich nur einen Bruder habe, war klar, dass es sich um Patrick handelte.

    »Störe ich?«

    »Nein, im Gegenteil. Du hast mir eben klargemacht, dass ich wieder einmal aufräumen muss.«

    Offenbar überforderte ich ihn mit dieser Antwort.

    »Schön. Aber ich rufe wegen etwas Wichtigem an. Halt dich fest! Ich habe es unseren Eltern gesagt!«

    Das überforderte nun mich. Fieberhaft überlegte ich, was er Wichtiges mit unseren Eltern besprochen haben könnte.

    »Hast du nicht gehört? Sie wissen Bescheid über mich und Shirley.«

    Ach so. Daran hatte ich im ersten Moment nicht gedacht. Seit über einem Jahr war er nun mit Shirley befreundet, und vor einem Monat waren sie zusammengezogen. Sicher würde ich demnächst zur Tante erkoren. »Wurde ja langsam Zeit, oder?« gab ich zu bedenken. Bislang hatte Patrick die Eltern aus gutem Grund im Ungewissen gelassen. Mein Vater, Hans-Hermann, war sehr konservativ, um nicht zu sagen spießig und stur. Als städtischer Beamter war er wahrscheinlich dazu verpflichtet. Auf jeden Fall war es schwierig, mit ihm auszukommen. Ich spreche aus Erfahrung. »Und? Wie hat er reagiert?«

    »Na ja, du kannst es dir etwa vorstellen. Seinen Monolog zum Thema Ausländer kennst du. Mischehen würden nicht funktionieren, die kulturellen Unterschiede seien zu groß, Kinder aus solchen Beziehungen müssten später darunter leiden. Bla, bla, bla.«

    Mit dieser Rede war ich bestens vertraut. Unsere Streitgespräche sorgten, dank lautstarker Argumente, in der Nachbarschaft für Unruhe. So manche Nachbarin hatte mir bereits zu meinem Standpunkt gratuliert.

    »Shirley kommt zwar ursprünglich aus Namibia, aber sie ist hier aufgewachsen, sie kennt nichts anderes. Es ist doch egal, ob sie schwarz, weiß oder grün ist! Ich liebe sie, aber dem Alten geht es nur um das Gerede der Nachbarn. Er hörte mir gar nicht richtig zu.« Patrick klang traurig und enttäuscht.

    »Und Mama?«

    »Die sagte erst überhaupt nichts, saß einfach da und sah Vater an. Zuletzt schrie er, dass ich vorläufig nichts mehr bei ihnen zu suchen hätte, es sei denn, ich trenne mich von Shirley. Und dann hat er die Tür zugeknallt und ist in seinem Arbeitszimmer verschwunden.«

    Ich konnte mir die Szene lebhaft vorstellen. Ein Wunder, dass noch alle Türen heil waren, nach mehrjährigem Knallen.

    »Mama versuchte mich zu trösten. Ich solle ihm Zeit lassen, sie werde mit ihm sprechen.«

    Das überstieg meine Vorstellungskraft. Meine Mutter, Helga, hatte sich in all den Jahren das Schweigen angewöhnt. Nie widersprach sie meinem Vater. Sie nahm Rücksicht auf ihn, bediente ihn hinten und vorn. Dafür dachte er für sie gleich mit. Das nannte sich wohl wahre Partnerschaft. Natürlich versuchte sie ab und zu bei einem Streit zwischen ihm und mir zu schlichten. Meistens aber bat sie mich, auf seine schlechten Nerven Rücksicht zu nehmen.

    »Vorläufig werde ich mich zu Hause nicht mehr blicken lassen. Und du? Wann wirst du ihnen sagen, dass du lesbisch bist?«

    Nach dieser Reaktion wagte ich gar nicht, daran zu denken. Vielleicht sollte ich mich gleich ins Ausland absetzen. Konnte es mir egal sein, wenn der eigene Vater mich verstoßen würde, wenn ich Hausverbot bekam? Eigentlich schon, obwohl ich mir eine positive Einstellung meiner Eltern wünschte.

    »Du kannst dich nicht immer verstecken!« drängte Patrick weiter.

    Natürlich hatte er recht, das war mir klar, aber bisher hatte ich einfach nie die passende Gelegenheit gefunden. Wahrscheinlich würde es die nie geben. Für meinen Vater hieß Homosexualität, dass zwei Frauen oder zwei Männer miteinander ins Bett gingen, mehr nicht. Unweigerlich würde er auf das Thema Sex zu sprechen kommen, und das war etwa so einfach, wie mit einem Eisbären über den besten Sonnenschutz zu diskutieren. Meine Aufklärung bestand darin, dass er mir eine Predigt hielt, die beinhaltete, dass Jungs nur das Eine wollten. Was das war, hatte er mir verschwiegen.

    Dank bestens aufgeklärten Freundinnen, bin ich doch noch dahinter gekommen, was es mit diesen Jungs auf sich hatte. Allerdings teilte ich die Begeisterung für das andere Geschlecht nicht. Die verklärten Blicke, das Getuschel und Gekicher der Mädchen, wenn ein Junge in der Nähe stand, war mir unerklärlich. Es gab die eine oder andere Verabredung, aber mehr als knutschen war bei mir nicht drin, und auch das ekelte mich, also ließ ich es bleiben. Weiche Knie? Herzklopfen? Das schaffte kein Junge bei mir. Weiche Knie verursachte mir die Sportlehrerin, eine hübsche Frau mit kurzgeschorenen, blonden Haaren. Für sie hätte ich alles getan. Auf jeden Fall übertraf ich mich in allen Sportarten. Durch mein draufgängerisches Verhalten, irgendwie musste ich ja auffallen, hatte ich mehrere Unfälle verursacht. Die Folgen waren meistens angenehm. Die Lehrerin kümmerte sich um meine verstauchten Gelenke, und ich genoss ihre zarten Berührungen. Dass ich in diese Frau verliebt war, wollte oder konnte ich zu dieser Zeit nicht wahrnehmen. Eine solche Liebe gab es einfach nicht.

    Eines Tages stieß ich dann auf einen Artikel über Lesben. Äußerst interessiert, vertiefte ich mich in den Bericht über zwei Frauen, die sich liebten und zusammenlebten. Das war’s! So fühlte auch ich. Große Erleichterung machte sich breit, aber schon tauchten Berge von Problemen auf. Verkleidet mit Hut, Patricks Mantel und einer coolen Sonnenbrille, eben richtig unauffällig, besorgte ich mir Bücher und Zeitschriften zu diesem Thema, die ich in meinem Zimmer heimlich las. Getarnt wurde die Lektüre mit selbstgebastelten Umschlägen. Nach dem Lesen versteckte ich sie zuunterst im Schrank.

    Meine Erkenntnis: Ich war lesbisch, und es musste mehr von meiner Sorte geben. Aber wo lebten die? Mit wem konnte ich darüber sprechen? Schließlich nahm ich all meinen Mut zusammen und weihte meinen Bruder in das Geheimnis ein. Seine Reaktion werde ich nie vergessen. Der unverschämte Kerl meinte nämlich, das sei ihm schon lange klar. Warum hatte er mich dann nie darauf aufmerksam gemacht? Es wären mir einige, komische Rendezvous erspart geblieben.

    Zusammen machten wir uns also auf die Suche nach Lesben. Durch ein großes Inserat im örtlichen Tagesanzeiger wurden wir fündig. In der Nachbarstadt gab es ein Frauenlokal namens Sappho. An einem Samstagabend fuhr mich Patrick hin. Und während er im Kino saß, begab ich mich in eine neue, faszinierende Welt.

    Mit klopfendem Herzen und weichen Knien blieb ich damals vor der Tür stehen. Über dem Eingang blinkte in grellen Buchstaben der Schriftzug Sappho. Sollte ich wirklich da hineingehen? Sicher würden mich alle anstarren, und womöglich traf ich jemanden aus meiner Stadt.

    »Na, willst du auch rein?« Eine Frau in meinem Alter drängte sich an mir vorbei und öffnete die Pforten des Reiches. »Was ist? Kommst du?«

    Die schien ganz nett zu sein, also betrat auch ich die Gaststätte. Überall an den Tischen saßen Frauen, und im hinteren Raum wurde getanzt. Unsicher bahnte ich mir einen Weg zur Theke, wo ich mich möglichst cool anlehnte. Ich kam mir vor wie im Paradies. Eine schwere Last fiel von mir. Nie zuvor hatte ich mich so geborgen gefühlt. Ich war nicht allein, nein, es gab viele von uns. Zwar kannte ich niemanden, aber das änderte sich recht schnell, denn im angrenzenden Raum stand ein Billardtisch. Ich starrte den grünen Tisch so sehnsüchtig an, dass mich die Frauen fragten, ob ich mitspielen wollte. Das mussten sie mir natürlich nicht zweimal sagen. Seit damals gehöre ich zu den Stammgästen im Sappho. Ich verbrachte fast jeden Samstagabend dort. Meinen Eltern erzählte ich, dass ich ins Kino oder in die Disco gehen würde. Das Lokal wurde zu meiner zweiten Heimat . . .

    Patricks Drängen holte mich zurück. »Ja, ja, ich werde es ihnen sagen«, beruhigte ich ihn. »Aber warum gerade jetzt?«

    »Das sagst du jedes Mal, Schwesterlein. Bring es endlich hinter dich! Du wirst sehen, danach fühlst du dich besser.«

    »Fühlst du dich gut?«

    »Irgendwie schon. Ich muss mich nicht mehr verstecken oder Lügen erzählen.«

    Stimmt, es fiel mir immer schwerer, Ausreden zu erfinden, warum ich mit fünfundzwanzig Jahren keinen Freund hatte. »Also gut, ich schwöre: Sobald ich eine Freundin habe, werde ich mich outen. Versprochen!« Dass ich diesen Eid schon einmal gebrochen hatte, schien Patrick vergessen zu haben. Das war allerdings schon eine Weile her. Zur Zeit lebte ich als glückliche Singlefrau und hatte nicht die Absicht, diesen Zustand zu ändern.

    »Und wie läuft es mit der Band?«

    »Gut. Am Samstag treten wir im Sappho auf.«

    »Meine Schwester, die Reinkarnation von Jimi Hendrix«, kicherte er. »Lass es mich wissen, wenn ihr an einem Ort auftretet, an dem Männer zugelassen werden.«

    2. Kapitel

    Das Gespräch mit Patrick blieb nicht ohne Folgen. In den nächsten Tagen machte ich mir ernsthaft Gedanken über mein Coming-out. Ich begann mit Übungen vor dem Spiegel. Während ich mein Spiegelbild anlächelte, suchte ich nach passenden Worten. »Mama, Papa, ich muss euch etwas Wichtiges sagen: Ich bin lesbisch.« Nein, das klang nach einer Krankheit, so ging es nicht. Also setzte ich mich an den Computer, aber auch da fiel mir nichts Originelles ein, und ich spielte statt dessen Tetris. Nachdem ich einen neuen Rekord aufgestellt hatte, gab ich schließlich auf.

    Der Frauenbuchladen würde meine Rettung sein! Sicher gab es zu diesem Thema massenhaft Bücher, da würde ich bestimmt die richtigen Worte finden. Sofort machte ich mich auf den Weg. Die Verkleidung ließ ich mittlerweile schon lange weg.

    Im Laden nahm ich einen Stapel Literatur und begann zu recherchieren. Es gab zwar etliche Veröffentlichungen, in welchen Frauen von ihrem Coming-out erzählten, aber nichts schien zu meiner Situation zu passen. Schließlich ging ich mit einigen Krimis zur Kasse.

    »Hey, bist du nicht die Gitarristin von Madwomen?« Mit strahlenden Augen sah mich die Frau an der Kasse an.

    Endlich, mein Traum wurde wahr, frau erkannte mich. Bevor ich antworten konnte, geriet sie bereits ins Schwärmen.

    »Eure Musik ist toll, wirklich. Ich freue mich auf das Konzert am Samstag.«

    Während dieses Gespräches wuchs ich um einige Zentimeter. Geschmeichelt lächelte ich und wartete auf weitere Komplimente.

    »Ich habe eine Freundin, die bei einer Zeitschrift arbeitet, die nehme ich mit. Vielleicht kann die etwas über euch schreiben«, erklärte mir die Frau.

    »Ja, ähm, vielen Dank«, murmelte ich verlegen.

    Sie strahlte mich weiterhin an und schien gar nicht daran zu denken, mir die Bücher zu verkaufen. Deshalb schob ich ein »Ich muss dann langsam los« in eine ihrer Atempausen, und endlich tippte sie. Nebenbei erfuhr ich, dass sie Ulla hieß, und unsere Bassistin Gaby süß fand.

    Draußen schwang ich mich auf mein Motorrad. Sollte ich Gaby von ihrer gutaussehenden Verehrerin erzählen? Ich kam zu dem Schluss, dass ich erst nach dem Konzert damit rausrücken würde, ansonsten vermasselte sie noch vor lauter Aufregung den Auftritt.

    Nach kurzer Fahrt kam ich im Sappho an, wo wir im Keller unseren Proberaum eingerichtet hatten. Anita saß bereits hinter dem Schlagzeug und drosch auf die Felle.

    »Na, hast du heute wieder die Kinder verdorben?« begrüßte sie mich.

    »Ich hatte f-r-e-i-h-e-i«, sang ich ihr ins Ohr, bevor ich sie küßte. »Es genügt, wenn ich vier Tage nach den lieben Kleinen schaue, oder?« Die Arbeit im Kinderhort war zwar nicht mein Traumjob, aber ich fühlte mich wohl. Nach dem Abi bin ich zu Hause ausgezogen. Die ewigen Streitereien mit meinem Vater waren für alle unerträglich geworden. In der Nachbarstadt fand ich eine Wohnung, und mit verschiedenen Jobs hielt ich mich über Wasser. Ein klares Berufsziel hatte ich nicht. Ich träumte den Traum von einer Karriere als Rockmusikerin. Ausbildung erhielt ich keine. Ich hatte in landwirtschaftlichen Betrieben, auf Baustellen oder in Kinos und Theatern gearbeitet. Durch Zufall fand ich schließlich die Anstellung im Kinderhort, wo ich eine Art Aushilfskraft war. Die Bezahlung stimmte, und mit den Kindern kam ich gut zurecht.

    »Na los, pack endlich deine Gitarre aus!«

    Ich legte mir meine rote Gibson SG um, die schönste aller Gitarren, die ich mit großem Stolz trug, und begann mit Anita zu jammen. Kurz darauf kam Gaby, heute meine beste Freundin. Vor Jahren hatten wir uns im Sappho kennengelernt. Sie war die Frau, die ich bei meinem ersten Besuch vor der Tür getroffen hatte. Einige Wochen später war sie niedergeschlagen am Tresen gestanden, und ich hatte mich neben sie gesetzt.

    »Liebeskummer?« hatte ich sie gefragt.

    »Scheiß Weiber!« Wütend sah sie mich an.

    »Dagegen gibt es nur ein Mittel.«

    »Mach mich bloß nicht an. Ich habe keinen Bock auf eine neue Beziehung.«

    Ganz schön eingebildet, dachte ich. »Keine Angst, ich gehöre zu den glücklichen Singles, und dieser Zustand gefällt mir gut.«

    Spöttisch lächelte sie mich an. »Sagen das nicht alle Singles?«

    »Keine Ahnung, aber willst du weiterhin in Selbstmitleid baden?«

    »Okay, welches Mittel hast du gegen Liebeskummer?«

    Ich wusste nicht, ob ihr die Fressorgie mit Pizza, Eis und Cola bei mir zu Hause oder das Gespräch bis in die frühen Morgenstunden geholfen hatte, seither waren wir jedenfalls die besten Freundinnen. So jemanden hatte ich mir schon lange gewünscht. Es gab nichts, worüber wir uns nicht unterhalten konnten.

    Als wir wieder einmal am Tresen saßen, erzählte Gaby mir stolz, dass sie sich einen Bass gekauft hatte und Stunden nehmen wollte. Seit mehr als zehn Jahren spielte ich Gitarre, und so kam es, dass ich mich als Lehrerin empfahl. Ich stellte fest, dass in Gaby ein verborgenes Talent schlummerte. Es lag also nahe, dass wir anfingen, Songs zu machen. Mit der Zeit wurde es zu zweit aber langweilig.

    »Chris, wir gründen eine Band«, schlug Gaby vor. »Stell dir vor, eines Tages treten wir vor über tausend Leuten auf, machen eine Tour, und vor den Hotels warten massenhaft Frauen auf uns.«

    Das stellte ich mir lieber nicht vor. Mit den Frauen vor dem Hotel war ich zwar einverstanden, aber vor über tausend Leuten aufzutreten? »Vielleicht sollten wir zuerst Leute für die Band suchen?«

    Und das taten wir, indem wir eine Anzeige in die Zeitung setzten und überall Flugblätter verteilten, um weitere musikbegeisterte Frauen zu finden.

    Anita meldete sich zuerst. Ihr Schlagzeug stand im Keller vom Sappho. Nach einem Gespräch mit Katy, der Besitzerin der Kneipe, durften wir den Raum offiziell zu unserem Proberaum erklären. Wenige Tage später stießen Tanja, die Sängerin, und Anna mit ihrer Gitarre zu uns.

    Erstaunlicherweise verstanden wir uns von Anfang an wunderbar. Natürlich gab es Diskussionen über die Musik, aber mit der Zeit fanden wir einen Stil, der allen gefiel. An Ideen mangelte es nie, und nach einigen Monaten stand ein Abendprogramm von etwa einer Stunde. Katy, die ab und zu bei den Proben reinschaute, meinte, dass wir bei ihr auftreten könnten. Die Bezahlung sei zwar nicht besonders gut, aber sie würde dafür keine Miete von uns verlangen. Das Angebot erschien uns fair, und ohne darüber nachzudenken, schlugen wir ein.

    Eine Stunde vor unserem ersten Auftritt, fanden wir die Idee nicht mehr so gut. Gaby gönnte sich ein Schnäpschen, so dass sie recht locker aufspielte. Vor lauter Aufregung vergaß Anna beim ersten Song zu spielen, stieg aber bei der zweiten Hälfte ein, während Tanja krampfhaft den Mikrofonständer umklammerte. Anita und ich blieben äußerlich gelassen, aber in meinem Inneren rumorte es.

    Den Zuschauerinnen schien die Mischung von Rock und Blues, Funk und Heavy zu gefallen. Wir mussten sogar zwei Zugaben geben. In Ermangelung einer größeren Liedauswahl wiederholten wir einen Teil von unserem Repertoire, was aber niemandem auffiel.

    Seit jenem Auftritt sind wir eine lokale Größe geworden und inzwischen bei verschiedenen Open-Air-Konzerten und in anderen Lokalen aufgetreten. Wir können sogar eine kleine Fangemeinde aufweisen.

    Jetzt stand Gaby vor mir, die Haare zerzaust, mit geröteten Wangen und heftig atmend.

    »Ich bin ja gar nicht die letzte«, schrie sie empört. Ausnahmsweise erschien sie pünktlich, vielleicht war ihre Uhr kaputt. Erwartungsvoll sah sie mich an.

    Ach so, eine Lobeshymne wurde von mir erwartet. »Toll, du bist nicht zu spät. Danke, Gaby, danke!« Ich verbeugte mich vor ihr.

    Vielleicht hatte sie mehr Enthusiasmus erwartet, beleidigt streckte sie mir die Zunge raus.

    In diesem Augenblick betraten Tanja und Anna den Raum, die Probe konnte beginnen.

    Nach drei Stücken meinte Gaby, dass sie sich riesig auf den Samstag freuen würde. »Die Stimmung ist hier am besten. Wir kommen gut an.«

    »Klar, wir sind ja auch toll!« Machten sich bei Anita die ersten Starallüren bemerkbar?

    Nach der Probe setzten wir uns an die Bar.

    »Na, werdet ihr den Frauen am Samstag ordentlich einheizen?«

    »Aber, Katy, was soll die Frage? Wir werden den Saal zum Kochen bringen.« Anita ereiferte sich so heftig, dass sie beinahe vom Hocker fiel.

    Anna konnte sie gerade noch an ihren Hosenträgern festhalten. »Wenn du nicht endlich deine große Klappe hältst, lasse ich los.«

    Daraufhin verstummte unsere Schlagzeugerin und trommelte nervös mit den Fingern auf der Theke herum.

    »Wir haben einige tolle neue Songs, die bestimmt gut ankommen.« Gaby legte den Arm um mich. »Chris hat manchmal umwerfende Ideen, weißt du, Katy.«

    Hätte ich da widersprechen sollen?

    »Soll ich dich nach Hause fahren, Gaby?« Es war bereits 23 Uhr, und ich konnte meine Augen kaum noch offenhalten.

    »Nur, wenn du keine Kunststücke vorführst, langsam und vorsichtig fährst.«

    Ein bisschen viel auf einmal, dachte ich. Außerdem vollführte ich nie Kunststücke.

    »Ich möchte nicht wieder auf dem Hintern landen.«

    »Ach komm, du hast dich nicht richtig festgehalten.«

    »Du bist ja auch wie eine Rakete gestartet. Da blieb keine Zeit, mich irgendwo festzuklammern. Gib es zu, du wolltest dieser kleinen Blonden imponieren.«

    »Die war gar nicht klein!« protestierte ich vehement. »Aber versprochen, ich fahre vorsichtig.«

    Schließlich setzte sie sich leicht verkrampft auf meine Maschine, und sicher brachte ich Gaby nach Hause.

    3. Kapitel

    Die nächsten Tage hatte ich frei – Überstunden kompensieren. Stundenlang hörte ich unsere Songs und übte meine Solos, damit jeder Ton an der richtigen Stelle saß. Dann kam mir die glorreiche Idee, dass ich etwas für unsere Bühnenshow einstudieren könnte. Ich schob Musikvideos in den Rekorder und suchte nach Ideen. Feuerspucken und pyromanische Einlagen! Eigentlich sah das einfach aus, aber vielleicht war das nicht das Richtige für uns. Nachdem ich mir mit einem Streichholz die Finger verbrannt hatte, gab ich auf. Am Ende würde womöglich das Lokal abbrennen. Sollten wir eine Tanzshow einstudieren? Nein, dazu fühlte ich mich nicht berufen. Bei meiner Figur erwartete frau eher eine Bodybuilding-Einlage. Außerdem würde ich mich sicher in irgendwelchen Kabeln verheddern und von der Bühne fallen. Die Gesichter schminken? Wozu? Welche Botschaft würden wir damit vermitteln? Vielleicht ließ ich das am besten bleiben. Sobald wir berühmt sein würden, würde ich mich intensiv um eine Bühnenshow kümmern.

    Wie üblich am Vorabend vor einem Konzert, besuchte mich Gaby auch dieses Mal mit einer Schüssel Tiramisu. Die Spaghetti kochten bereits, und der Wein stand auf dem Tisch. Wir waren bereit für einen gemütlichen Abend, futterten, lachten und quatschten.

    »Ich bin schon sehr nervös.« Jedes Mal fing Gaby mit diesem Satz an.

    Ich musste hart durchgreifen. »Halt! Du weißt genau, dass wir nicht über das Konzert sprechen wollen. Setz dich hin. Willst du einen Aperitif?«

    Mit einem Gin Tonic versorgt, saß sie am Tisch. Prüfend sah ich sie an und wartete darauf, dass sie sogleich vom Konzert sprechen würde, aber sie unterhielt mich mit amüsanten Geschichten aus ihrem Krankenschwesternalltag.

    Kurze Zeit später saßen wir vor den dampfenden Teigwaren und ließen es uns schmecken. Plötzlich und ohne Vorwarnung sprang Gaby auf. Mit überhöhter Geschwindigkeit durchquerte sie den Raum und stürzte sich auf eine Plastiktüte, die unschuldig am Boden lag.

    »Warst du da?«

    »Wo? Was hast du da?« Schließlich lagen bei mir immer eine Menge Sachen herum.

    »In dem Geschäft.« Sie hielt mir die Tüte vom Frauenbuchladen unter die Nase.

    »Ja. Und?« Hatte ich irgend etwas verpasst?

    Wild fuchtelte sie mit der Tasche vor meiner Nase herum, bekam einen roten Kopf und stotterte: »Das fragst du noch? Da arbeitet die schönste Frau, die ich je gesehen habe.«

    »Welche meinst du?« flötete ich unschuldig. Natürlich war mir klar, dass es sich nur um Ulla handeln konnte.

    »Eben, die schönste Frau! Die mit den dunklen Haaren, den rehbraunen Augen und der erotischen, tiefen Stimme. Ich weiß nicht, wie die heißt.«

    Offenbar hatte sich Gaby die Frau genau angesehen. Dass sie ihre Schuhgröße nicht erwähnte, wunderte mich ein bisschen. »Ach so, du meinst Ulla. Ja, die ist nett.«

    Gabys Augen wurden größer, und ihr Mund stand offen. »Was? Du kennst sie? Warum? Woher? Warum hast du uns nie bekannt gemacht? Du bist meine beste Freundin, du bist sozusagen verpflichtet dazu! Das hätte ich ja nie gedacht!« Gaby kam um den Tisch herum, packte meine Schultern und schüttelte mich. »Du sagst mir sofort, woher du ihren Namen kennst!«

    Die Drohung schien mir ernst, und das Schütteln wurde unerträglich. »Weil sie ihn mir verraten hat. Beim letzten Mal unterhielten wir uns. Ich hoffe, dass das erlaubt ist.« Natürlich musste ich unser Gespräch bis ins kleinste Detail wiedergeben. Allerdings verheimlichte ich, dass Ulla Interesse für sie bekundet hatte und zu unserem Konzert kommen würde. Gaby erschien mir auch so schon nervös genug. Endlich setzte sie sich wieder auf ihren Stuhl.

    »Ulla! Was für ein schöner Name!« Wie in Trance saß sie mir gegenüber, häufte sich Spaghetti auf die Gabel und starrte verzückt zu mir. »Denkst du, dass sie eine Freundin hat?«

    »Nein.« Hoppla, das war mir zu schnell rausgerutscht.

    »Wieso nicht? Sie sieht fantastisch aus. Hat sie etwas darüber gesagt?«

    »Das ist nur ein Gefühl.«

    Mit dieser Antwort gab sie sich zufrieden. Wahrscheinlich hatte Gaby gar nicht richtig zugehört. Sie schwebte mehrere Meter über dem Boden, war aber in der Lage, Essen in sich reinzustopfen und mich milde anzulächeln.

    Am frühen Samstagabend stand ich ratlos vor dem Kleiderschrank. Vor einem Konzert wusste ich nie, was ich anziehen sollte. In der Hoffnung, ein besonders tolles Stück, das vergessen irgendwo lag, zu finden, wühlte ich mich durch die Kleider. Eigentlich kannte ich meine Garderobe durch und durch. Wahrscheinlich war das ein Ritual, das einfach dazugehörte.

    Auch diesmal blieb das Kleiderwunder aus. Ich entschied mich für ein weißes T-Shirt mit schwarzem Gilet und blauen Jeans. So stellte ich mich vor den Spiegel, überprüfte meine Frisur und zwinkerte mir aufmunternd zu. Es würde schon schiefgehen.

    »Na, schon da?« begrüßte mich Tanja, die auf der Bühne saß und sich an einer Tasse Tee festhielt. Aus dem Zimmer hinter der Bühne, von uns liebevoll Backstage genannt, hörte ich, wie Anita mit ihren Schlagzeugstöcken auf irgend etwas eindrosch. Dazwischen die Stimme von Gaby, die sich über den Lärm beschwerte.

    »Ich kann heute unmöglich auftreten«, jammerte Anna, die von der Toilette kam. »Ich habe furchtbare Magenschmerzen.« Sie sah in der Tat etwas grün aus.

    Tanja warf mir einen Blick zu und stöhnte. Wie oft hatten wir diesen Satz schon gehört! Wie immer blieb uns auch diesmal keine Zeit für eine Erwiderung. Anna verschwand in der Richtung, aus der sie gekommen war.

    »Chris, warum treten wir überhaupt auf? Vor jedem Auftritt herrscht Chaos. Anita und Gaby zofften sich, und Anna spielt verrückt.«

    »Wart’s ab, sobald wir auf der Bühne stehen, werden alle wieder normal.«

    »Dein Wort in Gottes Ohr.«

    »Göttins Ohr!« Ich überquerte die Bühne, warf einen Kontrollblick auf meinen Verstärker, den ich beim nachmittäglichen Soundcheck richtig eingestellt hatte, und ging in den Raum hinter der Bühne. Ich kam gerade rechtzeitig, um einen sich anbahnenden Streit zwischen Gaby und Anita zu verhindern.

    »Hör endlich auf, mit deinen Drumsticks überall draufzuschlagen, du machst mich nervös.« Die Rötung in Gabys Gesicht sandte Warnsignale aus.

    »Denkst du, dein Gezupfe am Bass sei beruhigender?« Anita stellte sich in Kampfposition.

    Ich drängte mich zwischen die beiden und blickte sie streng an, worauf sie zu lachen anfingen. Soviel zum Thema Respekt verschaffen.

    »Los, Leute, stellen wir die Setliste zusammen!« Tanja betrat mit Anna das Zimmer. Nach einer kurzen Diskussion, stand die Song-Reihenfolge fest.

    »Wollt ihr was essen?« Katys Anfrage löste verschiedene Reaktionen aus, richtig begeistern konnte sich niemand.

    »Wenn ich was esse, kann ich unmöglich auftreten.« Das hieß, dass sich Anna nach dem Konzert den Magen mit Hot-Dogs, Pommes und Hamburgern verderben würde. Vor lauter Erleichterung, dass der Auftritt vorbei war, verschlang sie jedes Mal unkontrolliert Fast-Food.

    »Eine Kleinigkeit könnte ich vertragen«, meinte Anita.

    Auch wir andern verspürten irgendwie ein Hungergefühl und irgendwie auch wieder nicht. Neben dem Konzertsaal, der auch für Discos benutzt wurde, befand sich das Restaurant, das von morgens bis abends geöffnet hatte, allerdings nur für Frauen. Wir setzten uns an die Bar, und Katy bewirtete uns mit Risotto und Salat.

    Mein Appetit hielt sich in Grenzen, lustlos stocherte ich im Essen herum.

    »Du musst unbedingt etwas essen, sonst kippst du von der Bühne.«

    Gaby hatte recht. Der Auftritt würde uns einiges an Energie abverlangen, also rein mit dem Essen. Währenddessen stand Anna neben mir und trank eine Tasse Baldriantee. Um sie abzulenken, schlug ich ihr eine Partie Billard vor, obwohl sie keine ernstzunehmende Gegnerin ist, schon gar nicht in ihrem nervösen Zustand.

    »Gute Idee, Chris. Bring sie bloß weg, sie geht mir auf die Nerven.« Anita konnte sehr charmant sein, aber sie hatte recht, Anna nervte wirklich. Jedes Mal, wenn jemand die Kneipe betrat, fragte Anna ›Will die zum Konzert? Ich hoffe nicht, die kenne ich nämlich. Zehn oder zwanzig Frauen würden sowieso genügen, oder?‹

    Bevor sie für weitere Unruhe sorgen konnte, zog ich Anna ins Nebenzimmer zum Billardtisch und schlug sie vernichtend mit zehn zu null.

    Um uns in Ruhe vorzubereiten, trafen wir uns eine halbe Stunde vor Konzertbeginn im Backstage-Raum. Sicher boten wir einen komischen Anblick. Anna rannte ständig zwischen Toilette und Hinterzimmer hin und her, Gaby putzte mit hastigen Bewegungen ihren Bass, Anita trommelte nervös auf den Tisch, der bereits etliche Dellen aufwies, und Tanja saß in einer Ecke und leierte ihre Texte flüsternd vor sich hin, wobei sie immer wieder aufhörte und jammerte: »Ich weiß die zweite Strophe von ›Black Sky‹ nicht mehr. Kann mir jemand helfen? Wer von euch hat den verdammten Text überhaupt geschrieben?«

    Da ihr niemand antwortete, durchwühlte sie den Stapel mit den Songtexten, während ich mich zu erinnern versuchte, was ich wo zu spielen hatte.

    Zum Glück erschien endlich Katy. »Es ist voll. Mehr Frauen kann ich nicht reinlassen. Ich gebe euch noch fünf Minuten.«

    Das hätte sie nicht sagen sollen. Anna rannte sofort Richtung Toilette davon. Fünf Minuten können lang sein, und manchmal sind sie kurz. Diesmal waren sie kurz.

    »Okay, Mädels, auf geht’s!« Mutig schritt Tanja auf die Tür zu, riss sie auf und betrat die Bühne.

    »Dann müssen wir wohl auch mit.« Anita zog Anna hinter sich her.

    »Gib dein Bestes.« Gaby umarmte mich wie vor jedem Konzert, und wir betraten die Bretter, die gelegentlich die Welt bedeuten können. Die Menge begrüßte uns mit einem tosenden Applaus, worauf mein Lampenfieber zurückging.

    »Wir freuen uns, heute für euch zu spielen und wünschen einen rockigen Abend.«

    Gleich nach Tanjas Worten, setzte Anita mit dem Schlagzeug ein, und wir legten los.

    Alles klappte wunderbar. Die Stimmung war großartig, wir fühlten uns toll. Bei älteren Songs sangen sogar einige Zuschauerinnen mit, ein unbeschreibliches Gefühl. Anna hielt sich wie üblich mit ihrer Gitarre etwas im Hintergrund, während Gaby und ich quer über die Bühne tobten und Tanja sich die Seele aus dem Leib schrie.

    Nachdem ich mich längere Zeit auf ein Gitarrensolo konzentriert hatte, ließ ich meine Augen durch den Saal schweifen. Ich wollte wissen, wer alles gekommen war. Und genau da passierte es: Mein Blick blieb an einem großen Paar Augen hängen, das mich aufmerksam ansah. Es kann sich nur um Sekunden gehandelt haben, aber ich erstarrte und vergaß für diesen einen Moment meine Umgebung. Die Welt schien sich nicht mehr zu bewegen, die Leute und die Musik verschwanden. Wahrscheinlich wäre ich noch lange wie angewurzelt stehengeblieben, wenn mich Tanja nicht in die Seite gestoßen und gezischt hätte: »Deine Gitarre spielt nicht von selbst. Los, mach was!«

    Erschrocken drehte ich mich zu Anna, um mich zu orientieren, welchen Song wir überhaupt spielten. Spöttisch grinste sie mich an. Normalerweise sah sie mich während eines Konzerts immer nur hilfesuchend an. Endlich fand ich den Anschluss wieder und wollte mich nach der Fremden umsehen, aber sie war bereits in der tanzenden Menge verschwunden. Vergeblich verdrehte ich den Kopf nach ihr. Die nächste halbe Stunde wurde zur Qual. Am liebsten wäre ich sofort von der Bühne gesprungen, um die schöne Unbekannte zu suchen.

    »Wir machen eine kurze Pause, spielen aber später noch einmal. Danke!«

    Tanjas Worte erlösten mich. Ich schob mich mit Gaby in Richtung Theke. Von dort aus hatte ich den besten Überblick über das Lokal. Aber trotz mehrerer optischer Suchvorgänge konnte ich die schöne Unbekannte nicht entdecken. War sie bloß ein Trugbild gewesen? Hatte ich zuviel Phantasie? Ich beschloss, die Frau gleich zu vergessen und mir eine Cola zu gönnen. Ich rechnete nicht mit Gaby, die mich beobachtet hatte.

    »Wen oder was suchst du?«

    Eigentlich wollte ich nichts sagen, aber ihr konnte ich nichts verheimlichen. »Es stimmt!«

    Verständnislos sah sie mich an. »Was stimmt?«

    »Es gibt sie, die Liebe auf den ersten Blick.«

    »Aha.« Nachdenklich nickte sie, wusste nicht, worauf ich hinauswollte.

    »Ich habe vorhin die Frau meines Lebens entdeckt.«

    »Wo? Wer?« Wild verdrehte sie sich den Hals, um diese fantastische Frau zu sehen.

    »Ja, das ist eben das Problem! Ich kann sie nicht mehr finden.«

    »Ach so, deshalb hattest du auf der Bühne diesen Aussetzer. Vielleicht ist sie deshalb abgehauen, es klang ziemlich schräg.«

    »Quatsch, sie hat mir danach zugelächelt.« Und wie! Vor meinem geistigen Auge sprang sie mit diesem Lächeln auf mich zu. Gaby holte mich abrupt aus meinem Traum.

    »Hast du überall nachgesehen? Ist sie wirklich weg?«

    »Hier habe ich den besten Überblick, oder? Natürlich ist sie nicht mehr da. Also, lassen wir das Thema.« Als sie nicht locker ließ, drückte ich Gaby eine Tüte Chips in die Hand, damit sie schwieg.

    »Also, ich . . ., schmatz . . ., ich finde . . .«

    »Du solltest nicht mit vollem Mund sprechen, außerdem krümelst du.«

    Beleidigt schwieg sie und stopfte sich Chips rein, während ich mir die verschiedenen Frauen ansah.

    »Hey, Chris!« rief jemand, und mit Schwung drehte ich mich auf meinem Barhocker um, wobei ich das Zigarettenpäckchen meiner Nachbarin vom Tresen stieß.

    »Tschuldigung«, murmelte ich und bückte mich nach der Schachtel. Als ich wieder hochkam, blickte ich in die gesuchten Augen.

    Ich habe sie gefunden!, schrie eine Stimme in mir. Vielleicht gab es doch einen Gott, oder besser: eine Göttin. Überall hatte ich nach dieser Frau gesucht. Und wo saß sie? Hinter meinem Rücken.

    »Hey, Chris, bist du taub?« drang Anitas Stimme zu mir. »Wir machen in zwanzig Minuten weiter.«

    »Ja, ja.« Es war mir so was von egal, Anita sollte einfach wieder verschwinden.

    »Tut mir leid wegen der Zigaretten. Soll ich dir eine neue Schachtel besorgen? Es sind einige zerbrochen.« Erwartungsvoll sah ich die Unbekannte an, aber sie antwortete nicht, sondern starrte mich nur an. Ich überlegte, ob sie vielleicht der deutschen Sprache nicht mächtig war und legte mir einige Worte in Englisch zurecht, da reagierte sie endlich.

    »Du spielst fantastisch Gitarre.«

    Ich lief dunkelrot an, stammelte irgend etwas Undefinierbares vor mich hin und nahm einen großen Schluck aus meinem Glas. Vor lauter Aufregung verschluckte ich mich und bekam einen fürchterlichen Hustenanfall. Von allen Seiten wurde mir sofort auf den Rücken geklopft, was es nur noch verschlimmerte. Nachdem ich die helfenden Hände abgewehrt hatte, ging es mir wieder besser.

    »Würdest du jetzt mit mir tanzen?« Die schöne Unbekannte sah mir tief in die Augen, und ich wäre beinahe von meinem Hocker aufgesprungen, um einen indianischen Freudentanz aufzuführen, als mir in den Sinn kam, dass ich lieber mit ihr tanzen wollte.

    Meine Antwort wartete sie gar nicht ab. Sie zog mich vom Stuhl und führte mich zur Tanzfläche, wo sich bereits etliche Paare zum Rhythmus der Musik bewegten. Sie legte ihre Arme um meine Schultern und begann, uns zu drehen.

    Endlich konnte ich sie mir genauer ansehen. Kurze, schwarze Haare, braune Augen, eine schlanke Figur, die in Jeans und einem enganliegenden T-Shirt steckte, und wenn sie lächelte, erschien ein Grübchen auf ihrer rechten Wange. Auch sie schien mich in Augenschein zu nehmen, auf jeden Fall wanderte ihr Blick über meine kurzgeschnittenen, braunen Haare zu den blauen Augen, wo er hängenblieb.

    »Wer bist du eigentlich?« fragte ich. Wodurch ich eigentlich wissen wollte, wie sie hieß, wo sie wohnte, ob sie eine Freundin hatte . . . »Ich habe dich hier noch nie gesehen.« Das klang ein bisschen vorwurfsvoll von mir.

    »Es ist eine Weile her seit meinem letzten Besuch im Sappho. Bis vor wenigen Wochen lebte ich in Frankreich.«

    Im Land der Liebe! Wie romantisch, dachte ich. Sicher aber gab es eine Französin, die irgendwo auf sie wartete. Nicht die Flinte ins Korn werfen!, ermahnte ich mich. Auf in den Kampf! »Verrätst du mir deinen Namen?« Zunächst würde

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