Aus den Augen verloren...: Mami 2012 – Familienroman
Von Gisela Reutling
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Über dieses E-Book
Oliver kam dazu, als sie den Koffer vom Schrank holte. »Wofür brauchst du den, Mama?« »Wofür braucht man wohl einen Koffer? Zum Verreisen natürlich.« Irene lächelte ihrem Söhnchen zu und klappte den Deckel hoch. »Wer verreist?« Breitbeinig stand er da, die Hände in die Taschen seiner Latzhose gesteckt: Oliver Renz, fünf Jahre und zehn Monate alt. »Vater, Mutter und Kind«, beantwortete Irene heiter seine Frage, während sie ein paar Wäschestücke aus der Kommode nahm. »Echt? Wir verreisen?« Seine prallen Wangen röteten sich. »Wohin denn? Ist doch noch gar nicht Sommer.« »Aber Frühling ist es. Und wenn wir Glück haben, scheint die Sonne auch in Hamburg.« »Hamburg«, staunte der Junge. Das war doch eine Riesenstadt mit einem Hafen und vielen Schiffen. »Was machen wir da?«
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Buchvorschau
Aus den Augen verloren... - Gisela Reutling
Mami
– 2012 –
Aus den Augen verloren...
Ein kleiner Junge wurde als Baby entführt
Gisela Reutling
Oliver kam dazu, als sie den Koffer vom Schrank holte.
»Wofür brauchst du den, Mama?«
»Wofür braucht man wohl einen Koffer? Zum Verreisen natürlich.«
Irene lächelte ihrem Söhnchen zu und klappte den Deckel hoch.
»Wer verreist?«
Breitbeinig stand er da, die Hände in die Taschen seiner Latzhose gesteckt: Oliver Renz, fünf Jahre und zehn Monate alt.
»Vater, Mutter und Kind«, beantwortete Irene heiter seine Frage, während sie ein paar Wäschestücke aus der Kommode nahm.
»Echt? Wir verreisen?« Seine prallen Wangen röteten sich. »Wohin denn? Ist doch noch gar nicht Sommer.«
»Aber Frühling ist es. Und wenn wir Glück haben, scheint die Sonne auch in Hamburg.«
»Hamburg«, staunte der Junge. Das war doch eine Riesenstadt mit einem Hafen und vielen Schiffen. »Was machen wir da?«
»Wir beide gehen spazieren. Papa muß arbeiten. Er hat dort einen Kunden, weißt du.«
»Uij, super. Wie lange bleiben wir?«
»Drei, vier Tage. Wenn es schön ist, hängen wir das Wochenende noch dran.«
Oliver riß es herum. »Ich geh’ meinen Rucksack packen. Hummel-hummel!«
Er hatte mal einen Film über Hamburg gesehen, da sagten sie das.
Michael Renz kam an diesem Abend etwas früher als sonst aus dem Büro. In der Diele stand ein gepackter Koffer. Ein Rucksack, noch nicht zugeschnürt, daneben. Man wußte ja nie, ob einem im letzten Moment noch etwas einfallen würde!
»Na, schon reisefertig«, schmunzelte der hochgewachsene Mann und fuhr seinem kleinen Sohn durch den blonden Schopf.
»Von mir aus kann’s gleich losgehen«, sagte Oliver. Mit Schwung griff er nach seiner Mütze, die dort lag, und zog sie sich verwegen mit dem Schild nach hinten über den Kopf.
»Das denn doch nicht«, dämpfte der Vater seinen Überschwang. »Aber morgen um sechs, weil ich mittags die erste Besprechung habe. Dann wirst du vielleicht nicht mehr so fröhlich aus der Wäsche gucken, wenn du um fünf aus dem Bett geholt wirst.«
»Da kennste mich aber schlecht, Papa«, behauptete Oliver großspurig und verschwand Richtung Küche, wo seine Mutter schon mit den Tellern klapperte.
In Wahrheit war das Bürschchen am nächsten Tag zu so ungewohnt früher Stunde kaum wachzukriegen. Erst als er sich den Schlaf aus den Augen gerieben hatte und es ihm einfiel, daß heute ja eine große Fahrt bevorstand, sauste er ab ins Bad.
Eine halbe Stunde später stand der Wagen aufgetankt und startklar vor dem Haus, und auf ging’s!
Alles verlief wie geplant, ohne Stau auf der Autobahn, ohne besondere Umleitungen wegen irgendwelcher Baustellen.
Als sie sich nach etwa fünfeinhalb Stunden ihrem Ziel näherten, schlug Oliver das Herz hoch. Da sah er schon den Hafen mit seinen tausend Kränen, die in den Himmel ragten, die vielen Überseeschiffe, riesigen Kolossen gleich… Da kam man doch aus dem Schauen und Staunen nicht heraus!
Tatsächlich wurden Olivers hochgespannte Erwartungen auch in den nächsten Tagen nicht enttäuscht. Wenn der Papa seiner Tätigkeit als Anlageberater nachging, ›eroberten‹ sich die Mama und er auf vielen Wegen die Stadt. Ihr Hotel lag in der City, nicht weit von der Binnenalster. Überall war Wasser, über das man weit hinwegsehen konnte. Allein diese Tatsache entzückte den Jungen, der aus einer nur an Wald reichen Gegend kam.
Aber auch Irene genoß den Aufenthalt. Als junges Mädchen war sie mit ihren Eltern hier gewesen. Wie lange war das her! Achtzehn, neunzehn Jahre. Inzwischen war sie siebenunddreißig. Ja, ja, die Zeit verging.
Aber sie fand doch alles noch wieder. Es war derselbe Blick von der Lombardsbrücke auf den Jungfernstieg. Sie erkannte die St. Michaelis-Kirche, den ›Michel‹, wie das Hamburger Wahrzeichen liebevoll genannt wurde. Und immer noch spiegelten sich die alten Häuser im Nikolaifleet.
Gern sah sich Irene auch die eleganten Geschäfte in den Alsterarkaden oder den weiträumigen Einkaufspassagen an. Mit Kennerblick betrachtete sie die Schaufensterauslagen, sie gaben ihr gelegentlich Anregung für ihren Beruf als Dekorateurin, den sie noch hin und wieder ausübte, wenn sie von der Agentur angefordert wurde.
Ihren Oliver interessierte das freilich weniger. Ihn zog es zu den Schwänen, zu den Schiffen, und das Höchste war für ihn die Hafenrundfahrt.
Was gab es nicht alles zu erzählen, wenn der Papa endlich wieder bei ihnen war. Auch er war frohgemut, denn geschäftlich lief es besser als erhofft. Nach dem Abendessen entspannte er sich noch bei einem Bummel mit seinen Lieben durch die lichterglänzenden Straßen der Stadt.
»Und die Reeperbahn?« fragte Oliver. »Gehen wir nicht auch auf die Reeperbahn, da wo die vielen Leuchtreklamen glitzern und noch viel mehr Leute als hier unterwegs sind? Haben die doch im Fernsehen gezeigt.«
Zu seiner Enttäuschung wollten seine Eltern nicht mit ihm auf die Reeperbahn. Den Gruß Hummel-hummel hatte er auch noch nicht vernommen. Die Leute lächelten höchstens amüsiert, wenn er das mal keck hervorbrachte.
»Da müssen wir morgens um fünf mal auf den Fischmarkt gehen, da magst du ihn hören«, lächelte sein Vater.
Um fünf? Ach nee, da war er doch noch zu müde, wo die Tage ohnehin so ereignisreich waren. Sie vergingen nur zu schnell!
Kein Wunder, daß Oliver einen Jubelruf ausstieß, als der Papa sagte, daß sie erst am Montag nach Hause fahren wollten. Da lag nun noch das Wochenende vor ihnen, und es gab wieder neue Unternehmungen. Bis zu diesem Sonntagnachmittag, bis zu diesem schönen weiten Spaziergang an der Alster, mit ihren Segelbooten, ihren Passagierschiffen. Zur Linken das Wasser, zur Rechten hohe frischgrün belaubte Bäume, hinter denen sich die großbürgerlichen Villen verbargen. Darüber ein heller Himmel, an dem die weißen Wolken rasch dahinsegelten.
Ihr Ziel war ein beliebtes Ausflugsrestaurant, das man ihnen im Hotel empfohlen hatte.
Es war zu windig, um draußen zu sitzen, so verlockend das auch zunächst erschien. Dafür bot sich ihnen in der Gaststube mit der niedrigen Balkendecke eine äußerst anheimelnde Atmosphäre. Zinn- und Messinggeräte glänzten an den Wänden, daneben hingen Schiffsbilder, Positionslaternen und Schiffsglocken, das Steuerrad einer Kogge, wie die alten Hanseschiffe genannt wurden. Das war doch genau das Richtige für den letzten Nachmittag in dieser Stadt Hamburg!
Am Nebentisch saß ein junges Paar mit einem niedlichen kleinen Mädchen von etwa drei Jahren. Es bekam einen Eisbecher serviert, der von einem Papierfähnchen gekröhnt war.
»So was möchte ich auch«, sagte Oliver mit einem begehrlichen Blick dahin.
Sein Eis kam mit dem Kaffee, den seine Eltern für sich bestellt hatten.
»Da ist ja gar keine Fahne drauf!« rief er enttäuscht eine Spur zu laut aus. Die Kellnerin war schon weiter, es herrschte Betrieb.
»Oliver«, sein Vater schüttelte den Kopf, »wozu brauchst du eine Fahne? Die kannst du sowieso nicht mitessen.«
»Die wollt’ ich aufheben, so, als Souvenir.« Dieses Wort stand an manchem Geschäft, wo Andenken für Touristen feilgeboten wurden.
»Da hast du wohl bessere Souvenirs«, äußerte Irene belustigt, »ein Shirt mit dem Wappen von Hamburg, und den Bausatz für ein Überseeschiff.«
In diesem Moment kam das blondlockige kleine Mädchen zu ihnen an den Tisch. Es legte Oliver das Papierfähnchen hin, das seinen inzwischen ausgeschleckten Eisbecher geschmückt hatte. »Da…!«
»Oh«, machte Irene überrascht, »willst du ihm das schenken?« Und, als das Kind nur stumm nickte, »das ist aber lieb von dir. Bedanke dich mal schön, Oliver.« Der Junge war rot geworden vor Verlegenheit.
»Ja – danke.«
Die Kleine trippelte zurück und kletterte wieder auf ihren Stuhl. Irene gab der hübschen jungen Frau am Nebentisch ein kleines Lächeln und wandte sich wieder ihrem Kaffee zu.
Mit gesenkten Lidern löffelte Oliver sein Eis. Er tat es langsamer, als es sonst seine Art war. Nach ein, zwei Minuten sagte er leise: »Könntest du nicht deinen Platz mit mir tauschen, Mama?«
»Warum das denn?« fragte Irene verwundert.
Er brachte